Härter, Franz Heinrich - Die Bergpredigt des Herrn und deren Anwendung nach Matthäus 7,12

Härter, Franz Heinrich - Die Bergpredigt des Herrn und deren Anwendung nach Matthäus 7,12

Matthäus 7,12.
Alles nun was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen; das ist das Gesetz und die Propheten.

Der du einst deinen Jüngern das Verständnis öffnetest, dass sie die Schrift verstanden1), Jesus Christus, ewiger Sohn vom Vater, voller Gnade und Wahrheit, gib auch uns, durch deinen heiligen Geist, einen aufgeschlossenen Sinn, dass wir dem Wort hören und bewahren, zu unsrer Seligkeit! Amen.

Wenn wir die volle Bedeutung einer Stelle der heiligen Schrift erfahren wollen, so müssen wir zuerst den Blick nach oben wenden, und uns dazu den Beistand des Herrn erflehen, seiner Verheißung vertrauend: Was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun2). Dann aber müssen wir das Buch der Bücher selber vor uns nehmen, und die Stelle in ihrem Zusammenhang betrachten, mit Anwendung auf unser Herz und Leben.

Ein auffallendes Beispiel dazu gibt uns der Spruch, welchen wir jetzt zu erwägen haben. Die Worte: Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen, das ist das Gesetz und die Propheten! scheinen den Meisten höchst einfach und klar; abgerissen aus ihrem Zusammenhang, pflegt man sie wie ein Sprichwort im Mund zu führen; man bildet sich ein, sie bedürften keiner weiteren Erklärung, und ihre Anwendung sei kinderleicht. Allein dies ist nicht der Fall, sondern dies einfache Wort hat einen tiefen Sinn, und zieht seine Hauptbedeutung aus dem, was vorhergeht, nämlich aus der ganzen Bergpredigt Christi, zu der es gehört.

Die Bergpredigt unseres Herrn, welche drei Kapitel umfasst3), ist nämlich Eine Predigt, und nicht, wie oberflächliche Leser meinen, eine bloße Sammlung einzelner Aussprüche des Meisters, welche sein Apostel Matthäus zufällig zusammen gereiht hat. Gleich im Anfang4) ist dies ausdrücklich angedeutet: „Er ging auf einen Berg, und setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm, und Er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach.“ Da ist also ein zusammenhängender Lehrvortrag, den Er für seine Jünger, d. h. für alle die, so an Ihn glaubten, gehalten hat.

Wie freuen wir uns, dass wir von Ihm eine ganze Predigt haben, und dass an dem teuren Matthäus, der sie uns aufbewahrte, der Ausspruch erfüllt worden: „Der heilige Geist wird euch erinnern Alles des, was ich euch gesagt habe!“5) Lasst uns nun zuerst die vollständige Bergpredigt im raschen Überblick nach ihrem Inhalt uns vergegenwärtigen; nachher wollen wir unser Textwort besonders betrachten.

Der Eingang, Vers 3-16, enthält die neun Seligpreisungen. Der Herr sagt seinen wahren Jüngern, was sie, durch den Glauben an Ihn, haben können und sein sollen. Dass Er nur zu solchen spricht, die an Ihn glauben, sieht man deutlich aus den Worten: „Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen!“6) Hier unterscheidet er deutlich die feindselige Masse von seiner Jüngerschar, welche Er das Salz der Erde und das Licht der Welt nennt.

Der Hauptgedanke (das Thema) der Bergpredigt spricht den eigentlichen Zweck seiner Sendung aus: V. 17. Ich bin gekommen das Gesetz und die Propheten zu erfüllen. Das Gesetz ist der heilige Wille Gottes, die Propheten sind die göttlichen Verheißungen. Weit entfernt, dieselben aufzulösen, d. h. zu beseitigen, als ungültig zu erklären, und eine andere Lehre, eine andere Religion der Menschheit zu bringen, ist Er vielmehr gekommen, den Willen der Gerechtigkeit und der Gnade Gottes in Vollkommenheit zu verkündigen, so dass kein Buchstabe noch Titel davon vernachlässigt werde; aber diesen guten, wohlgefälligen und vollkommenen Gotteswillen7) auch selber zu tun, und dadurch das große Erlösungswerk auf Erden durch seinen Gehorsam zu begründen.

Daran reiht sich sogleich die mächtige Ausführung des Hauptgedankens, in zwei Teilen, welche man die wahre Gerechtigkeit und die wahre Gottseligkeit, überschreiben könnte.

Die wahre Gerechtigkeit8), das ist: die Erfüllung der Gebote Gottes, in ihrem geistlichen Sinn. Der Herr erklärt dieselben gar anders, als die Schriftgelehrten, welche das Gesetz nur äußerlich auffassten und mit ihren Beschränkungen und Zusätzen dasselbe verfälschten; so zeigt Er beispielsweise, wie es zu verstehen sei, wenn es heißt: du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht falsch Zeugnis geben. Dann schildert er die Gerechtigkeit der Kinder Gottes nach ihrem Grundsatz: Sei streng gegen dich selbst, und milde gegen Andere; dadurch hört alle Selbstrache auf, und an ihre Stelle tritt die Feindesliebe, welche allerdings etwas Sonderliches ist, das man bei der Welt nicht findet, und das unser Ziel bis zur Gottähnlichkeit hinauf rückt; Er stellt uns darin ein Bild der übermenschlichen Vollkommenheit auf, deren Erreichung auch übermenschliche Hilfsmittel nötig macht, ein Beweis, dass wir eines Erlösers bedürfen, der, uns aus des Vaters Schoß die Hilfe zu bringen, gekommen ist. So ist, ohne dass Er es ausdrücklich sagt, die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, und die dem Glauben zugerechnet wird, ein Seelenbedürfnis für Jeden, der im Spiegel des vollkommensten Gesetzes seine Sündigkeit und sein Unvermögen erkannt hat9).

Die wahre Gottseligkeit geht dann von selber aus dieser Gerechtigkeit hervor; dies ist der andere Teil der Bergpredigt10).

Wir wählen das biblische Wort: Gottseligkeit, um den Gegensatz gegen die äußerliche oder leibliche Übung auszudrücken11); in Beispielen aus dem Leben gegriffen, schildert der mächtige Prediger die echte Frömmigkeit oder Gottseligkeit. Zuerst das rechte Almosengeben, welches alle Werke der barmherzigen Liebe umfasst, und dessen Hauptzug ein stilles Wirken im Wandel vor Gott ist. Dann lehrt Er uns das rechte Gebet, das aus versöhntem Herzen zu Gott aufsteigt, und also die Begnadigung des Betenden durch den Glauben an den Sohn voraussetzt. Das herrliche Vater-Unser, dieses Kleinod des Christentums, wird dabei als Mustergebet, allen Gläubigen dargeboten. Auch das gottgefällige Fasten, die freiwillige Enthaltsamkeit, mit gesalbtem Haupt und gewaschenem Angesicht, wird in kurzen kräftigen Zügen dargestellt, als Vorschrift für alle Zeiten.

Durch die Übung solcher Gottseligkeit sammelt die gläubige Seele sich Schätze für den Himmel, und wird immer entschiedener dahin gezogen, wo das Ziel unserer Berufung liegt, nämlich zu Gott in Christo, zu unserem höchsten Gut, in heiliger Einfalt; das Schalksauge des kritischen Zweifels hört auf; das Innere wird klar; die Unentschiedenheit zwischen Gott und dem Mammon verschwindet, und nun wird das Gnadenkind frei und fröhlich erhoben über alle Sorgen dieser Welt. Jetzt gestaltet sich auch die rechte Weltanschauung; die Natur der Erde, welche unter dem Gesetz des Todes liegt, bekommt ihre wahre Bedeutung; fern von der heidnischen Naturvergötterung, folgt das in Gott selig gewordene Herz dem Zug seines ewigen Magnets, es trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, und fragt nicht mehr, was morgen sein wird; heute und die Ewigkeit ist sein Wahlspruch geworden, und sein Bestreben im Gnadenstand geht darauf hin, heute treu und ewig treu zu halten an dem Bunde mit Jesu Christo, in seiner Liebe.

Daran schließt sich aber die Warnung vor der doppelten Verirrung, welche den Gnadenzöglingen droht, nämlich vor dem Richtgeist gegen Brüder, wodurch die Herzen geschieden werden, und vor der Unvorsichtigkeit gegen Feinde, wodurch das Heiligtum preis gegeben wird. Dazu ist viele Weisheit nötig, welche auch der Gläubige nicht von sich selber hat12); darum gilt in allen schwierigen Fällen die Vorschrift: Bittet, sucht, klopft an! Denn erst im Christenleben wird uns das Bedürfnis des höheren Beistandes und Aufschlusses durch den heiligen Geist recht offenbar, und die Gewissheit der Befriedigung desselben recht tröstlich.13)

Sind wir einmal an den kindlichen Gebetsumgang mit Gott gewöhnt, so erkennen wir gar leicht, was uns gut ist, und stehen nicht mehr in Gefahr es mit dem, was uns bloß angenehm ist, zu verwechseln; wir sind fähig geworden unseren Textes-Spruch anzuwenden, welcher die ganze Bergpredigt in eine kurze Regel zusammenfasst; das deutet der Herr uns an, durch das Wörtlein: nun14)!

„Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen; dass ist das Gesetz und die Propheten.“ Dies Wort stimmt überein mit der Hauptsumme des Gesetzes15): „Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt; und du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst; in diesen zweien Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“

Die wahre Gottseligkeit, welche aus der gesunden Glaubenswurzel erwächst, trägt nämlich als heilige Frucht die Liebe16), welche des Gesetzes Erfüllung ist17), und die Verheißungen der Propheten sind damit verbunden, für dieses und das zukünftige Leben18). - Allein solche Gottseligkeit erfordert Entschiedenheit, und auf diese treibt zuletzt der göttliche Prediger seine Hörer nachdrücklich durch den Schluss der Bergpredigt19): Er zeigt die enge Pforte, den schmalen Lebensweg, welchen nur die kleine Zahl der Entschiedenen findet; warnt vor den Verführern, den falschen Propheten, welche selber für das Feuer reifen, und die man an ihren Früchten erkennen muss; dann kündigt er den heuchlerischen, Herr, Herr sagenden, Übeltätern ihre endliche Verwerfung an, und schließt die ergreifende Rede mit einem Doppelgleichnis, das uns auffordert, dieselbe nicht nur zu hören, sondern auch zu tun.

In dem Wort „tun“ liegt aber der eigentliche Nerv der Bergpredigt, welche den Willen Gottes in seiner ganzen Heiligkeit vor unsere Augen stellt.

Nachdem wir so diese merkwürdigste aller Predigten nach ihrem Hauptinhalt aufgefasst haben, können wir erst den Spruch, der uns besonders beschäftigt, in seinem großartigen Zusammenhang darlegen. Vor allen Dingen dürfen wir nicht vergessen, dass die Bergpredigt Jesu Christi an seine Jünger gerichtet ist, die er von der übrigen Welt wohl unterscheidet20). Nicht Jeder, der sich seinen Jünger nennt, ist es mit der Tat, sondern allein diejenigen, welche bei seiner Rede bleiben, und dadurch frei werden von dem Wahn und den Irrtümern der fleischlichen Gesinnung dieser Welt21). Da gilt aber Entsagung und Selbstverleugnung22), denn wer Christi Geist nicht hat, der ist nicht Sein23).

Mit diesem Sinne haben wir die große Regel zu erwägen, welche den zweiten Teil unserer Betrachtung bildet:

Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen.

Wendet dieses Wort als Jünger Jesu an, denn die Kinder der Welt handeln darin ganz verkehrt, weil sie die Beweggründe ihres Tuns nicht aus der heiligen Gottesliebe nehmen, sondern aus der Weltliebe, die sich in Fleischeslust, Augenlust und hoffärtigem Leben bewegt24). Fleischlich gesinnt sein ist eine Feindschaft wider Gott, sintemal es dem Gesetz Gottes nicht untertan ist, denn es vermag es auch nicht; die aber fleischlich sind, mögen Gott nicht gefallen25). Ein Mensch, der sich durch seine Fleischeslust leiten lässt, wird bei der Anwendung unsres Spruches eine Sittenlehre aufstellen, welche dem Geiste des Heiligen Gesetzgebers von Grund auf zuwider ist; es ist das epikurische System, welches dem Fleisch seine Rechte wieder geben will26), und alle Befriedigung der Lüste und Begierden erlaubt, wenn nur dadurch die Gesundheit, das Vermögen und die Ehre keinen offenbaren Schaden leidet. Da wird der Ehebund in seinem innersten Wesen gelöst, und zu einem bloßen bürgerlichen Vertrag herabgewürdigt; da gehen Eltern so weit, dass sie ihre Söhne und Töchter in den Ausschweifungen unterstützen und rechtfertigen: Wir haben es ja, da wir jung waren, nicht besser gemacht! Welch eine ungeheure Verkehrung der Lehre Christi: Tut den Andern, was ihr wollt, dass euch die Leute tun!

Aber diese Ansicht tritt nicht immer so gröblich hervor; die Augenlust, die sich am Schein weidet, sucht den Anstand zu bewahren. Die Güter dieser Welt, mit allem Glanze, der sie umgibt, sind für Viele das höchste Ziel ihres Strebens; und nun ist es, der aufgestellten Regel gemäß, auch ganz recht, den Andern zu denselben Gütern zu verhelfen, wenigstens nach ihrer Empfänglichkeit und Bildungsstufe; demnach trägt Mancher, der über Andere zu gebieten hat, sei er nun Staatsmann oder Werkmeister, Kaufherr oder Hausvater, während er vor allen Dingen das eigene Interesse befriedigt, und alle Kunst und Erfindung dazu benutzt, auch gelegentlich dazu bei, den Untergebenen, den Nachbarn und sonstigen Leuten etwas von dem zukommen zu lassen, was ihren Augen gefällt, und hält sich dann für einen rechten Menschenfreund. So wird der Luxus bis in die niedrigsten Stufen der geselligen Stände eingeführt; die Bedürfnisse werden gesteigert, die Armen immer ärmer, und eine tiefe Unzufriedenheit nagt, wie ein Wurm in allen Seelen, denen jene geistliche Armut fehlt, womit der Herr seine Bergpredigt beginnt.

Doch am gefährlichsten und am verstecktesten wirkt das hoffärtige Leben, welches die Welt durch und durch vergiftet, und dessen Anwendung unsers Spruches, in der falschen Höflichkeit dieser Welt am deutlichsten hervortritt, wo der Grundsatz gilt: den Andern Ehre zu geben, um auch wieder von ihnen Ehre zu nehmen. Es ist das Leben der Eigenheit oder der Selbstvergötterung, dessen Abgott, das ich, in allen Stücken sich oben an stellt. Um aber sein Gottesrecht zu behaupten, muss dies ich das wahre Recht Gottes, des Schöpfers und des Erlösers, ableugnen; es darf keine Religion mehr anerkennen, die den Menschen in seiner Abhängigkeit von Gottes Gnade, und in seiner ganzen Blöße offenbart; sondern es muss sich seine eigene Religion machen, durch welche der sündige Mensch sich selbst als die höchste Offenbarung Gottes hinstellt, und nichts mehr über seiner Vernunft und seinem Gewissen anerkennt. Daraus geht das eigentliche Antichristentum hervor, welches zwar die äußeren Formen der Kirche Christi und einige biblische Redensarten beibehält, aber im Grunde die Kirche vernichtet, die Bibel verwirft, und triumphierend verspricht, auf dem Weg der Natur die Menschheit zu befreien und zu beglücken. Das ist der falsche Prophet, welchen Johannes der Seher beschreibt, als ein Tier, das von der Erde aufsteigt, d. h. aus dem Schoß der irdischen Kirche, und hat zwei Hörner, wie das Lamm, aber redet, wie der Drache27).

Was die alte Schlange unsern ersten Eltern im Paradies versprach: Ihr werdet sein wie Gott! das verheißt auch die Weisheit der Weltbeglücker unserer Tage: Ihr braucht kein geschriebenes Wort Gottes mehr, wenn ihr unsere Lehren annehmet; ihr werdet wissen was gut und böse ist, denn Vernunft und Gewissen sind Gottes Stimme in euch, und unabhängig von allem menschlichen Ansehen, könnt ihr glauben, was ihr wollt; auch nichts glauben, und doch wahre Christen sein, ja erst die rechten Christen; denn auf diese göttliche Höhe der Selbstständigkeit uns zu erheben ist der Zweck Jesu Christi, des erhabenen Stifters unserer Religion gewesen!!

Und nun lasst diese Weisen den Spruch erklären und anwenden: Alles was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen! Sie rufen euch zu: Gleich wie wir Niemanden gestatten, sich um unsern Glauben zu bekümmern, so lassen auch wir jeden bei seinem Wahn, und richten nur den Einen Grundsatz auf: Wir sind alle Gottes Kinder von Natur, und als solche, Brüder, die, in allgemeiner Liebe sich umfassend, nur diejenigen von diesem Bruderbund ausschließen, welche durch ihre lästigen Warnungen aus der veralteten Bibel, uns in unserer Ruhe und Einigkeit zu stören suchen. Das ist die Meinung der Stifter einer sogenannten Welt-Religion!

Solche grundumstoßende Irrtümer28), verkappen sich hinter unsere große Hauptregel der Bergpredigt. Man sieht daraus, wie ihre wahre Anwendung nur da möglich ist, wo dieselbe im Zusammenhang mit dem Ganzen, von gläubigen Jüngern Jesu, als Lebensaufgabe angenommen wird. An dieser Lebensaufgabe müssen wir, unter der Zucht des heiligen Geistes, lange lernen, bis uns teilweise die Ausübung gelingt.

Das Erste, was wir zu tun haben, ist, dass wir uns im Geiste zu den Füßen des göttlichen Predigers setzen, und die gewaltige Rede nach ihrem Gesamtinhalt stille im Herzen bewegen. Wenn ich dies tue, so ist mir allemal zu Mut, wie dem Petrus, da er, nach Anhörung der Schiffspredigt Christi jenen erstaunlichen Fischzug tat, und dann Jesu zu den Knien fiel, mit dem Ausruf: „Herr, gehe von mir hinaus; ich bin ein sündiger Mensch!29)“ ~ Ich erkenne und fühle es tief in meinem Innersten, dass mir die Gerechtigkeit und die Gottseligkeit, welche die Bergpredigt schildert, noch gar sehr mangeln; aber ein sehnliches Verlangen darnach wird in mir geweckt, und der schmerzliche Mangel treibt mich zu Ihm, welcher gekommen ist, dass wir das Leben und volle Genüge haben sollen.30)

Und nun, da ich erfahren habe, wie der Herr reich ist über Alle, die Ihn anrufen31) und da ich aus seiner Fülle Gnade um Gnade schöpfen darf, wird mir auch die Bedingung klar, wodurch die Regel unseres Spruches für mich ausführbar wird; Christus hat diese Bedingung selber ausgesprochen, da wo er sich den Weinstock und seine Gläubigen die Reben nennt: „So ihr in mir bleibt, und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren.32)“ Das Bleiben in Christo, setzt das Sein in Ihm voraus, das uns umwandelt und zu neuen Kreaturen schafft33). Das Bleiben ist das Beharren im Glauben, der durch die Liebe tätig ist; denn kein anderer Glaube gilt in Christo Jesu.34)

Ist nun all euer Bestreben darauf gerichtet, so kommt die Anwendung unseres Spruchs wie von selber: Alles was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen! Es ist hier nicht gesagt, dass wir den Andern tun sollen, was sie wollen, sondern: was wir wollen, dass sie uns tun möchten, wenn wir in ihrer Lage wären. Dazu ist, in den meisten Fällen, außer der reiferen Erfahrung, auch Erleuchtung und Kraft von oben nötig.

Nehmt nur zum Beispiel das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern. Das unerfahrene jugendliche Gemüt lässt sich leicht von den Eindrücken des Augenblicks hinreißen, und begehrt oft mit leidenschaftlicher Heftigkeit einen Gegenstand, von welchem der Vater, die Mutter, zum Voraus wissen, dass dessen Gewährung dem Kind Verderben brächte; zwar müssen sie sich gestehen: an meines Sohnes, meiner Tochter Stelle, würde ich eben so denken und wünschen! Sollen wir darum einwilligen? Gewiss nicht! denn wenn ich an des Kindes Stelle wäre, würde ich von meinen Eltern erwarten und verlangen, dass sie mich vor dem bewahren, was mich für die Zukunft unglücklich macht. Die Leidenschaft der Jugend ist ein Fieberwahn, dem ich nicht nachgeben darf; aus lauter Liebe, muss ich mit Festigkeit verweigern, was dem jugendlichen Unverstand so wünschenswert scheint! Solche Eltern, im Gebet vor Gott gestärkt, wenden gewiss unsern Spruch richtig an, nach dem Sinn des Herrn; aber durchaus nicht nach dem Sinne der Welt, die nach ihrer Fleisches- und Augenlust ganz anders handeln würde.

Zu diesem Einen Beispiel ließen sich noch hunderte beifügen, wo schon die gewöhnliche Lebenserfahrung berichtigend einschreiten muss. Wie viel häufiger wird dies der Fall sein, bei der Anwendung unseres Spruches auf die geistlichen Verhältnisse des Menschen, und auf sein ewiges Los. Unter den Tausenden von Belegen dazu, nehmen wir nur die Bestrebungen zur Verbesserung des Zustandes der Menschen überhaupt. Dass ein Weh durch unser ganzes Geschlecht sich zieht, gesteht wohl Jeder ein, der nicht in Gefühllosigkeit versteinert ist. Wie kann da geholfen werden? Die philosophischen Menschenfreunde35) haben schon Mancherlei versucht, die Menschheit, wenigstens teilweise, dem höheren Ziel ihrer Bestimmung zuzuführen; man setzte seine Hoffnung auf Verbesserung der Gesetze, auf Änderung der Verfassungen, auf neue Organisation des Schulwesens, Verbreitung der Industrie unter dem Volk, Stiftungen von Vereinen zu allerlei wohltätigen Zwecken u. dgl.; lauter Dinge, die an und für sich gut gemeint waren und anfänglich mit Eifer betrieben wurden, im Blick auf unseren Spruch: Tut, was ihr wollt, dass euch die Leute tun. Doch der Erfolg entsprach nie den Erwartungen, und die begonnene Tätigkeit wurde entmutigt, durch die Bemerkung, dass das Übel nicht aufhörte, und sehr oft nur noch allgemeiner und unheilbarer hervortrat.

Einzig in seiner Art steht dagegen das Werk Jesu Christi und seiner Apostel in der Geschichte unsres Geschlechtes da; was er auf Golgatha vollbrachte, was die Seinen mit Selbstaufopferung fortführten, was nie von der Welt grundsätzlich anerkannt wurde, und sich zu allen Zeiten durch feindlichen Widerspruch und unsägliche Hindernisse Bahn brechen musste, hat ein wunderbares Lebenselement in die ersterbende Menschheit gebracht; hat in Europa das Heidentum und die Sklaverei überwunden, und die Völker, welche das Christentum annahmen, offenbar über alle andere Völker der Erde gestellt. Jeder wahre Christ, welcher die wiedergebärende Kraft des Evangeliums an sich erfahren hat, ist gründlich überzeugt, dass dieses allein die Heilkraft besitzt, wodurch die Genesung der Seelen angebahnt, und für eine höhere Ordnung des Daseins ausgeführt wird.

Allein in dem jetzigen Zustand der Menschheit ist noch eine Macht des Bösen vorhanden, die jeden Fortschritt des Erlösungswerkes belauert und bekämpft, damit der Glaube in der Geduld sich bewähre36). Das weiß die kleine Schar der Streiter Christi sehr wohl, und lässt sich dadurch nicht irre machen; sie steht fest, der Welt gegenüber mit dem Zeugnis: „Dass uns Gott das ewige Leben hat gegeben, und solches Leben ist in seinem Sohne. Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben, wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht“37) Weil aber der Christ für sich selbst nichts Höheres kennt noch wünscht, als das ewige Leben in Christo Jesu unserem Herrn, so ist auch die Mitteilung dieses Einen das Ziel, worauf er hinarbeitet in der Anwendung der Lebensregel: Alles was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen.

Die Diener des Weltheilands verwerfen keineswegs die Bestrebungen der Menschenfreunde, durch vereinte Kräfte und gute Anordnungen den mannigfaltigen Nöten der Menschheit Hilfe zu schaffen. Sie sind es vielmehr, von denen zu allen Zeiten der erste Antrieb zu solchen Werken der Barmherzigkeit, in aufopfernder Liebestat, gegeben worden ist. Aber im Namen ihres Meisters, des größten Menschenfreundes, dem sie freudig dienen, fordern sie; dass jedes Unternehmen solcher Art, bei seinem Entstehen vom Geist Jesu Christi durchdrungen werde, und die Förderung seines Werkes in den Seelen zum Ziele habe; denn das ist allein die Bedingung des Gelingens, und des dauerhaften Segens.

Jener Geist Jesu Christi ist aber kein anderer, als der heilige Geist, welcher denen gegeben wird, die an den Sohn Gottes glauben38). Durch diesen Geist wird der Gläubige von neuem geboren39); durch denselben Geist ist die Welterneuerung angefangen und bis heute fortgeführt worden; und alles Widerstandes ohngeachtet wird Er, der im Allerheiligsten thronet, sie mächtig vollenden, denn Er hat gesagt: „Siehe, ich mache Alles neu! Diese Worte sind wahrhaftig und gewiss!“40)

Wann der heilige Geist die Liebe Gottes in die Herzen derer ausgießt, welche durch den Glauben gerecht geworden sind41), gibt Er auch den Gnadenkindern die Kraft stufenweise zu erfüllen und nach und nach üben zu lernen, was in der Bergpredigt gelehrt ist; denn Gesetz und Propheten schmelzen zusammen in der Liebe Jesu Christi; sie finden darin ihren Vereinigungspunkt. Und so werden Christi Jünger die wahren Wohltäter der Menschheit, das Salz der Erde; sie lassen ihr Licht leuchten vor den Leuten, dass sie ihre guten Werke sehen, und ihren Vater im Himmel preisen.

Die Rede des Herrn, die wir im kurzen Überblick erwogen haben, zeigt uns allerdings unsere Ohnmacht. Die Schwierigkeiten, welche die Anwendung unseres so einfach scheinenden Hauptspruches umgeben, nötigen uns mit jenem Schriftgelehrten auszurufen: Wie mag solches zugehen?42)

Selige Seele, die du nach solcher Gerechtigkeit hungerst und dürstet, du sollst satt werden, schließe dich nur stets inniger an Ihn an, der gesagt hat: Ohne mich könnt ihr nichts tun43)! Das ist eben der Bergpredigt tiefster Zweck; sie soll uns antreiben mit dem gnadenreichen Prediger uns ganz, völlig und ewig zu verbinden, damit die Erfahrung des Apostels Paulus sich an uns bestätige: Ich vermag Alles durch den, der mich mächtig macht, Christus44)! Dann werden wir bald mit freudiger Zuversicht einstimmen in das trostreiche Wort des Herrn: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“45)

Deshalb beugen wir unsere Knie gegen den Vater unseres Herrn Jesu Christi, der der rechte Vater ist über Alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden, dass er uns Kraft gebe, nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen, und Christum zu wohnen durch den Glauben in unsern Herzen, und durch die Liebe eingewurzelt und gegründet zu werden.

Dem aber, der überschwänglich tun kann über Alles, das wir bitten und verstehen, nach der Kraft, die da in uns wirkt, dem sei Ehre in der Gemeine, die in Christo Jesu ist, zu aller Zeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.46)

1)
Luk. 24,45
2)
Joh. 14,13
3)
Mat. 5, 6 und 7
4)
Mat. 5,1-2
5)
Joh. 14,26
6)
V. 11
7)
Röm. 12,2
8)
Kap. 5,18-48
9)
Vergleiche Römer 3,19-26
10)
2. Kap. 6,1-7,11
11)
1. Tim. 4,8-9
12)
Jak. 1,5-6
13)
Luk. 11,10-13
14)
Kap. 7,12
15)
Mat. 22,36-40
16)
2. Pet. 1,5-8
17)
Röm. 13,10
18)
1. Tim. 4,8
19)
Kap. 7,13-27
20)
Joh. 15,19
21)
Joh. 8,31-32
22)
Lul. 9,23-24
23)
Röm. 8,9
24)
1. Joh. 2,15-17
25)
Röm. 8,7-8
26)
Rehabilitation des Fleisches
27)
Off. 13,11
28)
Epikurische, merkantilische und pantheistische
29)
Luk. 5,8
30)
Joh. 10,11
31)
Röm. 10,12
32)
Joh. 15,7
33)
2. Kor. 5,17
34)
Gal. 5,6
35)
Philanthropen
36)
Offenb. 13,10. 14,12.
37)
Joh. 5,11-12
38)
Apost. 19,2. Joh. 14,23-26; Apost. 10,44
39)
Joh. 3,1-8
40)
Off. 21,5
41)
Röm. 5,1-5
42)
Joh. 3,9
43)
Joh. 15,5
44)
Phil. 4,13
45)
Mk. 9,23
46)
Eph. 3,14-21
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