Ahlfeld, Friedrich - Das Alter des Christen - IV. Wer im Alter will jung sein, muss in der Jugend alt sein. Wenn du alt werden willst, musst du beizeiten dazu tun.

Ahlfeld, Friedrich - Das Alter des Christen - IV. Wer im Alter will jung sein, muss in der Jugend alt sein. Wenn du alt werden willst, musst du beizeiten dazu tun.

Mature fias senex, si diu velis esse. Cicero.

Gedenke an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe denn die bösen Tage kommen, und die Jahre herzutreten, von denen du wirst sagen: „Sie gefallen mir nicht“ (Prediger Salomonis 12, V. 1).

In der jüngern persischen Heldensage begegnet uns ein gewaltiger Kriegsmann namens Rostem. Er war so stark, dass ihm seine eigene Kraft zur Last ward. Wenn er mit Beute beladen daherschritt, drückte er seine Füße nicht allein in Sand und Land, sondern selbst in die Felsen ein. Da machte er sich denn auf in ein wildes Felsenthal zu einem alten Berggeiste und bat ihn, ob er ihm nicht einen Teil seiner Kraft aufheben wollte, bis er sie später brauchte. Der Geist ging auf die Bitte ein, nahm die Kraft an und verschloß sie in einer Felsenspalte. Als Rostem alt und grau geworden und seine Kraft zur Neige gegangen war, musste er sich noch einmal einem Kampfe mit einem mächtigen jungen Gegner unterziehen. Da zog er zuvor hinaus in das wilde Felsenthal und erbat sich vom Geiste die bei ihm niedergelegte Kraft wieder. Der Geist gab sie ihm, und mit ihr angetan focht er sieghaft seinen Streit aus. - Das ist eine Sage von einem Alten, der in seinem letzten Kampfe noch einmal mit Jugendmut und Jugendstärke ficht. Mein lieber Leser, es gibt keinen alten Berggeist, bei dem man die Jugendkraft deponieren könnte. Es gibt auch keine Brunnen in denen die Alten wieder jung gebadet werden könnten. Kein Mensch kann im Alter in die Jugend zurückkehren. Wohl kann er das Tal seiner Kindheit wiedersuchen. Er findet vielleicht auch noch Alles ziemlich ebenso, wie er es einst gelassen hat. Der alte Bach läuft noch einen alten Weg. Noch hat ihm kein separierender Landmesser seine gemütlichen Ecken und Krümmungen weggeschnitten und ihm einen neuen Lauf mit der Elle zugemessen. Noch beschatten ihn die Ellern, Rüstern und Pappeln wie vordem; noch nicken die Dotterblumen und Bachbungen mit ihrem schönen Blatte und gelben und blauen Blüten in seine kleinen Wellen hinunter. Die alte Linde steht auch noch auf dem Kirchhofe, der Storch wohnt noch auf der alten grauen mit Moos bedeckten Scheune; der Schäfer weidet noch an den alten Bergeshange, und sein Hund heißt auch wohl noch Sultan wie vor 50 Jahren. Und doch ist Alles anders. Er ist ja anders geworden. Das Herz schlägt anders, das Auge sieht anders und der Fuß geht anders. Auch die, mit denen er als Kind hier spielte, sind Andere geworden, und die meisten von ihnen sind nicht mehr hier. Jeder singt mit Rückert:

„Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar.
O wie liegt so weit, o wie liegt so weit,
Was mein einst war!“

Jeder fragt mit ihm:

„Was die Schwalbe sang, was die Schwalbe sang,
Die den Herbst und Frühling bringt,
Ob's das Dorf entlang, ob's das Dorf entlang
Wohl jetzt noch klingt?“

Und Jeder erhält die Antwort:

„Keine Schwalbe bringt, keine Schwalbe bringt
Dir zurück, wonach du weinst;
Doch die Schwalbe singt, doch die Schwalbe singt
Durch's Dorf wie einst:
Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
Waren Kisten und Kasten schwer;
Als ich wiederkam, als ich wiederkam,
War Alles leer.“

Du wirst nicht wieder jung, du musst Dir ein anderes Tal der Jugend, ein anderes Eden suchen.

Du kannst auch im Alter keine neuen Lebensbahnen mehr einschlagen. Die krummen, in denen du den besten Teil deines Lebens verlaufen hast, kannst du beweinen. Du kannst dich auch im Alter noch von Herzen bekehren zu dem Herrn, deinem Gotte. Du kannst das letzte Stücklein der Laufbahn, welches dir bis zu dem großen Meere noch übrig geblieben, in möglichst gerader Linie zurücklegen. Aber von vorn anfangen und das Leben im neuen Geiste noch einmal in die Hand nehmen kann Niemand. Wer will die Tränen zählen, die von Alten um verlorne Leben geweint sind? Und wohl ihnen, wenn sie das Leben beweinen. Diese Tränen sind doch Regentropfen, unter denen ein neues Leben wächst, wenn auch nur im Sande an der Meeresküste.

Weil du denn im Alter nicht wieder jung werden kannst, weil der alte Seufzer: „Wer gibt mir die verlornen Jahre wieder!“ umsonst ist, so schicke dich in der Jugend auf ein gesundes und gesegnetes Alter. Sei in der Jugend alt, damit du im Alter jung bleibst.

Sammle dir frühe in dein Gedächtnis einen Schatz aus Gottes Worte und aus dem großen Vorrat evangelischer Lieder. Lerne deinen Katechismus so, dass du ihn nie wieder vergessen kannst. Wenn du in der Jugend nicht sammlest, was willst du im Alter finden? (Sirach 25, V. 5). Wollte Gott, wir könnten wie Paulus an den Timotheus (2 Tim. 3,15) an jeden Jüngling und Mann schreiben: „Und weil du von Kind auf die Heilige Schrift weißt, kann dich dieselbige unterweisen zur Seligkeit durch den Glauben an Christo Jesu.“ Ihr Eltern, laßt eure Kinder in der Jugend recht viel lernen. Natürlich muss das zu lernende dem kindlichen Verständnis wenigstens einigermaßen nahe liegen. Faßt das Kind gar Nichts davon, so wird es mit dem Lernen nur gequält. Laßt euch aber auch nicht irre machen durch das sinnlose Gerede Derer, welche die Kinder nur wollen lernen lassen, was sie bereits verstehen. Wenn dein Kind in irgend welcher entstellten Form Vater oder Mutter lallen lernt, weiß es weder was ein Vater noch was eine Mutter ist. Mit einer Definition von Vater oder Mutter aber wäre bei ihm gar Nichts zu machen. Mit dem Worte Vater und mit deiner Person und Liebe graben sich nach und nach die Züge von dem Wesen des Vaters in das Herz des Kindes ein. So erklärt sich alles Gelernte nach und nach zum guten Teil von selbst. Wie es das Kind braucht, wird es desselben auch Schritt für Schritt Herr. Und gerade dessen, was es in der Jugend gelernt hat, wird und bleibt es am Festesten Herr. Was wir in der ersten Kindheit gelernt haben, bleibt uns bis in die zweite; was wir im Mittelalter des Lebens gelernt haben, geht oft vor Abend wieder verloren. Wurzelt sich doch auch das Korn, welches im Frühjahr zuerst gesäet wird, in der Regel am Tiefsten ein; hält es doch am Besten Stand gegen den Sonnenbrand und die Dürre des Sommers. Viele Eltern ahnen gar nicht, welche Liebe sie ihrem Kinde damit erweisen, wenn sie ihm so früh wie möglich die himmlische Mitgift, wenn auch in halb verschlossenen Gefäßen, in das Herz legen. Der Alte dankt es noch den lieben längst schlafen gegangenen Eltern, dass sie so für sein Alter gesorgt haben. Wenn er in langen schlaflosen Nechten die Himmelsfrüchte, welche sie ihm so fest in das Lebensbündlein gebunden, immer wieder kostet; wenn sie ihm dann immer süßer und erquickender werden, dann heißt es wohl: „Ihr lieben Eltern und Lehrer, das ist doch das Beste, was ihr mir mitgegeben habt. Ich danke euch immer wieder dafür, ich werde euch dafür danken in Ewigkeit.“ Der dieses schreibet, hat auch das Mittelalter des Lebens bereits hinter sich. Er hat Vieles von dem, was er als Student, als Candidat und Pastor gelernt, wieder vergessen. Aber die Lieder, welche er als Kind von seiner Mutter gelernt und in den Winterabenden wohl hundertmal mit ihr gesungen hat, vergißt er nie. Die Lieder:

„Treuer Jesu, wache Du,
Denn jetzt geh ich einzuschlafen rc.“

Werde munter mein Gemüte,
Und ihr Sinnen, geht herfür rc.„

„Die Woche aber geht zu Ende,
Nicht aber Gottes Treu rc.“

die vergißt er nie. Wenn er sie mit den Seinen liest oder singt, dann sind sie so frisch und grün, der Morgentau hängt daran, und das Elternhaus mit seiner Liebe und Freude taucht aus der Flut und dem Schaume der dahingeschwundenen Jahre wie eine grüne Insel hervor.

In der Kindheit muss der Charakter gebildet werden. Feste Ordnung im Leben und bestimmte anhaltende Arbeit sind Hauptpunkte in der Erziehung. Jeremias schreibt gewiss aus eigener Erfahrung. „Es ist ein köstlich Ding einem Manne, dass er sein Joch trage in seiner Jugend.“ Gewiss hat dieser Held Gottes, der das ganze Weh seines untergehenden Volkes tragen, der auf den Trümmern von Jerusalem weinen sollte, schon in seiner Jugend schaffen und tragen gelernt. In unsern Tagen will man es den Kindern so bequem wie möglich machen, spielend sollen sie lernen, und das Wort: „Im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brot essen“, striche man am Liebsten ganz aus ihrem Leben heraus. Man sieht aber auch schon den Erfolg solcher Erziehung. Leuten, welche keine harten Lehrjahre hinter sich haben, welche zwischen der Kindheit und dem Mannesalter keinen harten Boden gegraben haben, fehlt es in den Tagen der Mühe und Trübsal an zähen Sehnen und Muskeln zum Tragen und Schaffen. Sie springen von einem Berufe zum andern. Wird ihnen die Beschaffung des täglichen Brotes auf redlichem Wege schwer - und verweichlichten Naturen wird sie gar leicht schwer - dann macht ihnen der Übergang auf unredliche Wege wenig Herzbrechen. Die Strafhäuser bekommen einen guten Teil ihrer Insassen aus den Schichten der Cigarrenmacher, Schreiber, Agenten, Schänkwirte und kleinen Händler, die keine strenge Lehrzeit durchlebt haben. Laß es dir in der Jugend sauer werden. Dulde und halte aus, dieser Schmerz wird dir einst zum Segen sein. Du bauest dir in der Jugend ein gesegnetes Alter. Auch im Tragen gleicht die zweite Kindheit der ersten. Wie die Gebete und Lieder der Jugend im Alter wieder lebendig werden, wie der Kinderglaube seinen Sonnenschein wieder in das alte Herz wirft, so wiederholt sich auch die Art, wie du in der Jugend deine Last getragen hast, wenn auch die Last am Abend des Lebens eine ganz andere ist als am Morgen. Zu dem Sammeln gehört notwendig auch das Sparen für das Alter. Es ist nicht gegen Gottes Gebot, sich einen Notpfennig für das Alter zurückzulegen. Salomo (Sprüchw. 6,6-11) schickt den Faulen zur Ameise in die Schule; er soll von ihr sammeln lernen für die Zeit, wo er nicht mehr sammeln kann. Es ist ein bitteres Ding um ein blutarmes Alter, wo die wenigen Zähne Nichts zu beißen haben, wo der alte Leib, der so leicht friert, keine Hülle hat. Es liegt darin auch manche Gefahr für den Glauben und für den Wandel in dem Herrn. Hat uns Gott selbst in solche Wüste geführt, so wird er auch sein Manna regnen lassen, und wir schauen um so fröhlicher nach den Grenzen von Kanaan aus. Haben wir uns aber den letzten Lebensabschnitt durch Trägheit oder Vergeudung unseres Erwerbes in den Jahren der Kraft selbst zur Wüste gemacht, dann drückt ihre Hitze und Dürre ganz anders. Doch wenn wir hier vom Sparen für das Alter reden, so denken wir in der Hauptsache an das Sparen der eigenen Person. Deine Leibes- und Seelenkräfte sollen aushalten und reichen für die ganze Zeit, die dich Gott auf der Erde wandeln lässt. Aber mit Nichts geht der Mensch verschwenderischer um als mit sich selbst. Ich denke hier zunächst an die Verwüstung der Leibes- und Seelenkräfte durch Völlerei und Wollust. Von jeher hat der natürliche Mensch nur daran gedacht, wie er sich gute Tage mache; von jeher hat er am Liebsten dem Bauche als seinem Gott geopfert. Von dem Geschlechte vor der Sündflut sagt die Schrift (Matth. 24,38): „Sie aßen, sie tranken, sie freieten und ließen sich freien, bis an den Tag, da Noah zu der Arche einging.“ Der Wahlspruch jener Weltmenschen lautete: „Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot (1 Cor. 15,32).“ Nach der Sündflut heißt es wieder: „Wohl her nun, laßt uns wohlleben, weil es da ist, und unseres Leibes brauchen, weil er jung ist. Wir wollen uns mit dem besten Wein und Salben füllen; laßt uns die Maienblumen nicht versäumen; laßt uns Kränze tragen von jungen Rosen, ehe sie welk werden; unser Keiner lasse es ihm fehlen mit Prangen, dass man allenthalben spüren möge, wo wir fröhlich gewesen sind. Wir haben doch nicht mehr davon denn das (Weish. Salom. 2, V. 6-9.)“ Was würdest du zu einem Menschen sagen, der in einen unserer prächtigen Dome Feuer legte und den alten schönen Bau in eine Ruine verwandelte? Er hieße bei dir Frevler am Heiligtume und Mordbrenner; du könntest für ihn die Namen nicht scharf und schwer genug finden. Nun weißt du doch, dass dein Leib ein Tempel Gottes ist. Ja er ist, und wenn du auch ein armer Krüppel wärest, ein viel herrlicherer Tempel als der schönste Dom in der Welt. Dieser wird endlich auch einmal Staub und Asche; seine Stätte wird man auch einmal nicht mehr kennen. Deinen Leib aber hat Gott erbauet für die Ewigkeit, er will ihn am jüngsten Tage verklärt und herrlich auferwecken.

Nun weißt du ferner, dass die Wollust ein wildes Feuer ist, welches diesen schönen Tempel zu einem Trümmerhaufen macht. Wenn du dieses Feuer in dir nährst, bist du auch ein Frevler am Heiligtume und ein Mordbrenner für Leib und Seele. O wie viele wandelnde Ruinen gibt es in der Stadt, wie viele junge Greise wanken unter uns herum! Unsere Alten sagten von solchen Verderbern ihrer selbst:

„Mancher eilet hin zu Grabe,
Als ob er sich versäumet habe.“

Und ein ander Sprichwort lautete:

„Dem Tode mancher winket,
Der ohne Dürsten trinket.“

Ein Bischof des Mittelalters hatte sich die Kräfte des Leibes und der Seele bis in die achtziger Jahre frisch erhalten. Ein Freund fragte ihn, wie er es doch angefangen habe, bis in das hohe Alter so jung zu bleiben. Er antwortete: „Ich habe nie der Wollust gefrönt, ich habe nie ohne Durst getrunken, ich habe nie Etwas im Zorne getan“.

Doch nicht allein die Sünden gegen das sechste Gebot arbeiten einem frühen Greisentum entgegen; andere tun es auch. Der Ehrgeiz ist ein ähnliches Feuer, er ist auch wie Mord in den Gebeinen, er kann derselben Schaden anrichten. Wir haben Jünglinge gesehen, die er durch die Schulklassen, durch das Studium auf der Universität und durch die Examina hindurch peitschte. Bei etlichen war dies eignes unreines Treiben, bei anderen stand etwa ein eitler Vater als Treiber dahinter. Als der junge Mann fertig war mit den Vorrüstungen auf das Leben und Amt, da war es aus mit dem Leben, da sank er zusammen. Als er das Gelernte verwerten wollte, entwich ihm der Boden unter den Füßen. Auch hier helfen Maß und Ordnung ein gesundes Leben und Alter schaffen.

Und was bei den einen der Ehrgeiz leistet, das tut bei den andern der Geiz. Auch er schafft junge Greise. Die dem Geiz geopferten Nächte, die Gott abgestohlenen Sonntage treibt er alle wieder ein. Du wirst bei solchem ungeordneten Treiben um so eher alt. In der Jugend wolltest du dir keine Ruhe gönnen, in den besten Jahren musst du sie dir hernach gönnen. Viele Leute, die in den besten Jahren des Lebens untüchtig zu aller Arbeit dasitzen oder daliegen, können förmlich nachrechnen, was für Tage und Nächte Gottes ausgleichende Hand jetzt zurückfordert. Salomo schreibt im 3ten Kapitel seines Predigers nicht umsonst an die dreißig Mal, dass dies und das und das seine Zeit hat. Arbeit und Ruhe haben auch ihre Zeit. Das ist ein schlechter Haushalter, der in der laufenden Woche den Ertrag der künftigen, und im laufenden Vierteljahre den Gewinn des künftigen, der ihm noch nicht einmal gewiss ist, schon verzehrt. Das ist ein schlechter Landwirt, der die Ernte, bevor sie reif ist, an Wucherer verhandelt und den Ertrag vorher verzehrt. Und das ist ein schlechter Christ, welcher die Kräfte, mit welchen er in spätern Jahren haushalten soll, vorher verpraßt. Und wie das Übermaß in der Arbeit Leib und Seele verwüstet, junge Greise schafft und ein ödes Alter anbahnt, so auch die Trägheit. Wer in jungen Jahren, wenn er seine amtliche Stellung eingenommen und sich in derselben leidlich geordnet hat, aufhört weiter zu forschen, zu lernen und zu streben, der wird sich bald nur noch in bekannten und ausgetretenen Bahnen bewegen. ja selbst diese werden sich noch immer mehr verengen. Die mühsamen Gedanken, die kühnern Griffe in weitere Gebiete, die in jüngern Jahren gelegentlich noch gewagt wurden, hören immer mehr auf, Armut und Mangel kommen über ihn wie ein gewappneter Mann. Das Roß, welches nur in der Rennbahn läuft, welches seinen Reiter nicht mehr hinträgt über Feld und Auen, wird steif, und Spath und Gallen setzen sich an seinen Gelenken an. - O wie viele junge Greise gibt es in den Schulen, auf den Kanzeln, auf den Kathedern und in den Gerichtsstuben! Wie viele Ärzte haben schon wenige Jahre nach Beginn ihrer Praxis mit der Wissenschaft abgeschlossen!

Doch kehren wir noch einmal zu denen zurück, welche das Mark des Lebens in jungen Jahren mit Unkeuschheit und Völlerei verprassen. Und da will ich euch noch Etwas erzählen: Es war einmal ein junger Kaufmann, wir wollen ihn Anton nennen - den Gott mit schönen Gaben ausgestattet hatte. Es fehlte ihm nicht an Herz und Gemüt, nicht an christlicher Erkenntnis, und ein frischer Hauch aus Eden war auch einmal durch das junge Herz gegangen. Aber an der heiligen Zucht und an der Herrschaft über sich selbst hatte es schon lange gefehlt. Mit dem 15ten Jahre hatte er das Elternhaus verlassen, und im 16ten hatte er den Zügel zerrissen, an dem ihn eine liebe Mutter, eine Witwe, wenn auch mit schwacher Hand, noch zu halten suchte. Er war hingegangen auf die Wege der Welt und des Fleisches. Jetzt lag er, 24 Jahr alt, an der Schwindsucht darnieder, und das Fieber, dieser Brand in der morschen Leibeshütte, arbeitete täglich auf die gänzliche Zerstörung derselben hin. Ob sich nun auch die meisten Schwindsüchtigen bis zu ihrem letzten Lebenstage mit Genesungshoffnung tragen und sich namentlich Viel vom nächsten Frühlinge versprechen, gehörte er doch nicht zu dieser großen Schar. Seine Kräfte schwanden zu schnell dahin, als dass sein klarer Verstand solchem Selbstbetruge hätte Raum geben können. Er wusste, dass es auf der Erde für ihn keinen Frühling mehr gab. Da schickte er zu einem Freunde aus bessern Tagen, um den er sich lange nicht mehr gekümmert hatte, der von andern sogenannten Freunden in den Hintergrund gedrängt worden war. Er ließ ihn bitten, zu ihm zu kommen; und der Beschickte kam ohne Säumen. Als er an seinem Bette saß, hub der Kranke gegen ihn an: „Ernst, hast Du schon einmal Jemand gesehen, der sein eigener Totengräber gewesen ist, der sich das Grab selber gegraben hat?“ Ernst schwieg. Der Kranke fuhr fort: „Du, ich meine keinen von den Trappistenmönchen, die alle Tage etliche Spatenstiche an ihrem Grabe graben, ich meine auch keinen von den alten Einsiedlern in der nitrischen Wüste, die ihr Grab lange vor dem Tode fertig hatten und sich hineinlegten wie in ein gemachtes Bett.“ Ernst merkte, was er sagen wollte; aber er schwieg, er wollte ihn ausreden lassen. Der Kranke hub wieder an: „Ernst, hier liegt er vor Dir, Du siehst ihn mit Deinen Augen. Es ist Dein alter Freund Anton, der sich so lange um Dich nicht mehr gekümmert hat, dem Deine Art und Dein Weg zu ernst war. Sieben Jahre habe ich an meinem Grabe gegraben, ich habe es fertig gekriegt. Wenn ich jetzt auch nicht mehr daran grabe - die wenigen letzten Stiche, die noch übrig sind - graben sich von selbst; es fällt auch von selbst zu.“ - Dabei rannen ihm die heißen Tränen aus den tiefen Augen. Und Ernst schlang seine Arme um ihn und sprach: „Liebes, liebes Herz, lieber Gefährte aus der lieben Kindheit, es gibt Einen, der im Grabe gelegen hat, der tot war und lebendig geworden ist. Es gibt Einen, der alle Toten auferweckt. Du kennst ihn ja doch noch, Du kannst ihn nicht ganz vergessen haben! Der legt sich mit in jedes Grab, in dem ein bußfertiges und gläubiges Kind Gottes liegt. Er legt sich hier mit in Dein Bett, er legt sich draußen mit in Dein Grab. Er ruft Dir zu: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe“ (Ev. Joh. 11,25). Er fragt Dich heute, ob in Deinem Herzen noch ein Platz für ihn ist. Er möchte auch über Dein liebes bleiches Angesicht noch einmal den Sonnenschein des Frühlings gehen lassen. Er möchte zu Deinem und seinem Vater im Himmel sagen: „Dieser dein Sohn war tot und ist lebendig geworden. Anton, willst Du ihn haben?“ Und der antwortete: „Ja, in's Herz und in's Bett und in's Grab!“ - Und die Sonne ging auf und schien gar hell auf das Krankenbett. Wenn sich Wolken dazwischen drängten, wenn er an sein verlornes Leben und an seine jungen Jahre und an die Tränen seiner entschlafenen Mutter dachte, dann wollte es wohl dunkel werden. Bald aber schimmerte durch das Dunkel die goldene Schrift wieder hindurch: „Des Menschen Sohn ist in die Welt gekommen, die Sünder selig zu machen. Es ist Freude bei den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.“ So wechselten Wolken und Sonnenschein noch drei Tage, und dann ging die Sonne ohne Wolke und ohne Nebel hell unter. Die Seele war gerettet, aber das Leben war verloren. Ei was hätte aus diesem Jünglinge für ein Arbeiter des Herrn werden können! Was hätte er als Mann und Greis für das mitlebende und künftige Geschlecht für Samen ausstreuen können! Er war wie ein Brand aus dem Feuer gerettet, hatte aber kein Feuer angezündet. - Und wie viele werden auch nicht einmal wie ein Brand aus dem Feuer gerettet! Sie haben ihr eigen Leben verloren und noch andere in ihr Verderben mit hineingezogen. Das elende Alter wird ihnen, so gern sie es auch nähmen, so gern sie auch um jeden Preis noch lebten, vielleicht erspart. Aber die elende Ewigkeit wird Keinem erspart, der sich nicht kindlich anhängt an den Herrn, in welchem wir allein den Zugang zum Vater haben. Das Alter könnte noch eine schöne Buß- und Glaubenszeit werden; aber Unzählige vergeuden ihr Alter gleich mit der Jugend.

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