Wolf, Friedrich August - Neujahrstag.

Wolf, Friedrich August - Neujahrstag.

Ein Jahr der Sterblichkeit ist abermal dahin und wiederum ein Theil von unsrer Pilgerschaft mit Gott zurückgelegt. Ja, deine Güte schafft's, o Gott, dein treues Lieben, daß wir zu unserm Heil auf dieser Bahn geblieben. Nimm unsres Herzens Dank, o Vater, gnädig an für das, was du an uns im alten Jahr gethan. Wir schließen uns aufs Neu in dein so treues Sorgen, in dein Erbarmen ein. Da sind wir wohl geborgen. O nimm uns selber auf, und mache deine Treu', o Vater, über uns mit jedem Tage neu. Gieb mit dem neuen Jahr uns neue Stärk' im Glauben, laß uns den alten Grund der Wahrheit Niemand rauben. Erneue Herz und Sinn, und deines Wortes Licht, das Weg und Ziel erhellt, erlösche bei uns nicht! Amen.

Von einem hohen, heiligen Feste, welches das Heil der Welt verkündigt, kommen wir heute an einen Grenzpunkt der Zeiten, an welchem Millionen mit uns still stehen und ihre Wege überschauen, nicht bloß in stille Betrachtungen versenkt, sondern mehr als sonst geneigt, sich mitzutheilen, sich wechselseitig zu ermuntern, und freundlich und tröstlich mit ihrem Nächsten zu reden. Am Weihnachtsfeste drückten wir unsre Freude durch Gaben der Liebe aus, durch Gaben, unsre heutige Stimmung durch Wünsche; dort erweckte uns der Dank für die größte Wohlthat zur Freigebigkeit, heute die Hoffnung bei der Dunkelheit der Zukunft zu guten Wünschen, und diese Wünsche nennen wir nach dem, was in ihrem Inhalte das Vorherrschende ist, Glückwünsche. Der Gedanke des Glücks also ist es, der heute in mannichfaltiger Ausbildung unsre Seele beschäftigt; das Glück des Hausstandes, als Grundlage der öffentlichen und allgemeinen Wohlfahrt, das Glück der Eintracht in jedem Bunde, wo Viele für Einen Zweck zusammenwirken, das Glück eines guten Erfolgs und Fortgangs in jedem Berufe, das Glück der Zufriedenheit für jede stille Seele, und das Glück beßrer Zeiten für uns Alle. Nun wird das Feuer unsrer Eigenliebe bei dieser Hoffnung schon durch das Wohlwollen gemäßigt, mit welchem wir heute Andern unsre Glückwünsche darbringen; denn wir müssen ja selbst einsehen, daß ihre Erfüllung gar nicht stattfinden könnte, wenn wir nur eigensinnig auf unsern Vortheilen bestehen wollten, und mit vielen Wünschen legen wir ausdrücklich das Versprechen ab, unsre Ansprüche zu beschränken und unsern Diensteifer zu verdoppeln, williger nachzugeben und freudiger zuvorzukommen, vollständiger, sorgfältiger, treuer Alles zu leisten, was uns obliegt. Mit diesem und keinem andern Versprechen bringen sich heute die einzelnen Glieder eines jeden Bundes, der mehr, als ein äußerliches Zusammenleben ist, Brüder, Gatten, Verwandte, Freunde, ihre Glückwünsche dar, und je inniger die Verbindung ist, desto mehr findet Jeder sein eignes Glück in dem Gedanken, die Zufriedenheit Andrer zu erhöhen, und in der Aussicht auf eine Zukunft, wo ihm dies noch viel besser gelingen werde, als es seither der Fall war. Die wahre Liebe läutert nicht nur unsre Begriffe von unserm eignen Lebensglück; sondern sie veredelt auch ihren Gehalt. Inzwischen bleibt auch das edelste Glück, als Eigenthum, das wir besitzen, ein Gegenstand, an welchem unser Herz mehr Wohlgefallen haben kann, als recht ist, und das ausschließliche Verlangen darnach hält uns in einer Beschränkung, von der wir frei werden sollen; geschieht's erst spät mit Gewalt, so geschieht's unter großen Schmerzen. Darum bleibt es das Weiseste und Heilsamste, daß wir unser ganzes Glück als Kinder Gottes in seine Vaterhand legen und ihn allein walten und sorgen lassen. Je mehr wir uns vorbehalten, desto drückender bleibt die Last unsrer Sorgen. Je mehr wir unserm Eigenwillen Raum geben, desto schwerer wird unser Stand gegen seine Schickungen; je mehr wir unsrer eignen Kraft vertrauen, desto mehr entziehen wir dem Vertrauen, das unsrer Seele allein die wahre Ruhe, unserm ganzen Leben erst feste Haltung gibt. Wer Gott vertraut, hat wohl gebaut im Himmel und auf Erden. Ob noch ein andrer Bau des Menschenglücks bestehe? Nach der kühnen Sprache der Weltkinder: „Ja!“ Aber stellet euch nicht dieser Welt gleich; sondern beharret dabei: auf Gott, und nicht auf meinen Rath, will ich mein Glück erbauen, und stärket euch zum neuen Jahr vor Allem in diesem Sinne.

Text: Jacob. 4, 13-16.
Wohlan, die ihr nun saget: Heute oder morgen wollen wir gehen in die oder die Stadt, und wollen ein Jahr da liegen und handthieren und gewinnen; die ihr nicht wisset, was morgen sein wird. Denn was ist euer Leben? Ein Dampf ist es, der eine kleine Zeit währet, darnach aber verschwindet er. Dafür ihr sagen solltet: So der Herr will und wir leben, wollen wir dies oder das thun. Nun aber rühmet ihr euch in eurem Hochmuth. Aller solcher Ruhm ist böse.

Gewiß eine sehr heilsame Lehre beim Eintritt in ein neues Jahr! - eine Zurechtweisung der zuversichtlichen Sprache, mit der Etliche von uns vielleicht heute schon ihr Vorhaben fürs nächste Frühjahr ankündigen und weiter hinaus, als eine ausgemachte Sache. Aber der Apostel will nicht bloß unsre Sprache zur Bescheidenheit verweisen, sondern unser Herz zum demüthigen Gefühle der Abhängigkeit von Gott zurückführen von jenem stolzen Sinn, in welchem wir uns rühmen, Meister auf dem Felde der fernen Zukunft zu sein, wir, die wir nicht wissen, was morgen sein wird. Die ungewisse Grundlage unsers gesammten Daseins hält er uns vor. Denn was ist euer Leben? ein Dampf ist es, der eine kleine Zeit währet, darnach aber verschwindet er. Mit dem scharfen Hauche einer leidenschaftlichen Heftigkeit können wir zwar dieses Rauchgewölk noch früher zerstören, das ist gewiß - verkürzen können wir unser Leben- auf mannichfaltige Weise - aber die Erhaltung desselben ruht in einer höheren Hand. „So der Herr will, und wir leben!“ Wohl, sagt ihr; jeder vernünftige Mensch stellt auch stillschweigend sein Vorhaben für die Zukunft auf die Bedingung, daß er noch am Leben sei. Aber stellt er's auch mit gleicher Ergebung in den Willen des Herrn, wie der fromme Paul Gerhard in jenem Liede:

Ich weiß, mein Gott, daß all mein Thun
und Werk in deinem Willen ruhn,
von dir kommt Glück und Segen.
Was du regierst, das geht und steht
auf rechten guten Wegen.
Ist's Werk von dir, so hilf zum Glück;
ist's Menschenthun, so treib's zurück
und ändre meine Sinnen.
Was du nicht wirkst, pflegt von ihm selbst
in Kurzem zu zerrinnen.

Wir wissen nicht, was uns gelingen werde; aber das Mißlingen können wir durch unsern Eigenwillen herbeiführen, und bei Erreichung unsrer nächsten Absichten viel Unruhe und Ungemach, vielleicht auf Lebenszeit, zum Lohne haben. Von unserm Eigenwillen heißt es mit Recht: „wer dir als Freund nicht helfen kann, kann doch als Feind dir schaden.“ Aber rückwärts ist der Schluß falsch, daß er uns auch helfen müsse, weil er uns so oft schade. Und doch, wie täuschend! Wir bedenken zu wenig, daß wir ohne Gottes Beistand nichts vermögen, um unsre zeitliche Wohlfahrt zu gründen. Und wodurch werden wir in dieser Sache am meisten getäuscht? Durch das uns unleugbar zugestandne Vermögen, unser Glück zu verscherzen oder zu zernichten. Wie im Allgemeinen, so auch hier; weil der Mensch das Böse ohne Gott thut aus eigner Lust und Kraft, so gewinnt die Meinung Schein, als ob er auch das Gute ohne Gott thun könne aus eignem Vermögen. - So ist der falsche Begriff der Freiheit entstanden, der sich jetzt in so vielen Seelen festgesetzt hat. Denn unkluge Menschen, die sich durch ihre eigne Thorheit ins Unglück stürzen, bestärken die klugen Leute in dem Wahne, als ob sie in eben dem Grade durch ihre eigne Klugheit glücklich werden könnten, in welchem sich jene durch ihre Thorheit unglücklich gemacht haben. Die Ungerechten, die durch ihre eigne Schuld ins Elend gerathen, werfen mit ihrem Schicksal einen falschen Schein auf die Gerechtigkeit dieser Welt, als ob sie die sichre Grundlage einer dauerhaften Wohlfahrt wäre.

Laßt uns diese Blendwerke zerstreuen und unser wahres Verhältniß zur zeitlichen Wohlfahrt im rechten Lichte sehen, damit wir uns um so weniger über das Ewige täuschen. Laßt uns gleich am ersten Morgen des neuen Jahres, wo wir uns einander glückwünschend entgegenkommen, eine Betrachtung über die Wahrheit anstellen:

Daß der Mensch wohl der Zerstörer seines Glücks, aber nicht der Erbauer desselben werden könne.

Laßt uns erstlich untersuchen, aus welchem Grunde uns diese Wahrheit einleuchte, und dann, mit welchem Nachdrucke sie heute zu uns rede.

Also der Mensch kann sein Lebensglück wohl zerstören, aber nicht erbauen. Diese Wahrheit kann uns als Erfahrungssatz bis zu einem gewissen Grade einleuchten, ohne daß wir auf den rechten Grund der Erkenntniß kommen. Wir sagen oft selbst: auf welchem ehrenvollen Platze könnte dieser Mensch jetzt stehen, wenn er damals nicht den rechten Zeitpunkt versäumt, oder sein Glück mit Gewalt von sich gestoßen hätte; oder wie ruhig und zufrieden könnt' er noch jetzt in seiner Lage leben, wenn er sich nicht ohne Noth so viele Feinde machte und durch seine Streitsucht in unaufhörliche Unruhe verwickelte. Dagegen bedauern wir Andre, denen es trotz aller Anstrengung nicht gelingen will, für ihre bescheidnen Wünsche einen angemeßnen Wirkungskreis zu finden; und denen wir doch das Zeugniß geben müssen, daß es ihnen weder an Geschicklichkeit, noch an Regsamkeit fehle. Ein Blick ins Familienleben gibt dasselbe. Warum mancher Hausstand zu Grunde gehe, ist klar; die Vergnügungssucht ist größer, als die Arbeitsamkeit, ein unverhältnißmäßiger Aufwand, alle Gattungen der Verschwendung arbeiten an seinem Untergange. In andern Haushaltungen dagegen herrscht der Geist der Ordnung und Sparsamkeit; aber eine Menge aufeinanderfolgender Unglücksfälle läßt keinen Wohlstand aufkommen, ein einziges stürmisches Jahr reißt oft nieder, was viele Jahre mühselig erbauet hatten. Sollen wir unsern Blick noch mehr erweitern? Die große Noth ganzer Völker in einem weiten Länderkreise liegt uns vor Augen; zerstören können sie, das haben sie bewiesen, aber aufbauen, sichern Grund zu einer dauerhaften Wohlfahrt legen, das ist es, woran man nach so vielen vergeblichen Versuchen zu verzweifeln anfängt.

Aber man darf doch die Hoffnung nicht aufgeben, möchte Jemand sagen, und so darf also wohl auch der Satz nur mit Einschränkung gelten: Der Mensch kann sein Glück wohl zerstören, aber nicht erbauen. Denn wer soll sonst Hand anlegen, wenn er nicht selbst Hand ans Werk legt? Soll er dies Amt der Zeit überlassen, die endlich Alles zum Ziele führt? Soll er nur müßig eine höhere Hülfe erwarten, oder soll er gar mit blindem Glauben an ein schweigendes Verhängnis; der Zukunft entgegengehen? Oder was sonst? Saget uns, ihr Alle, die ihr also lehret, saget, was folgt aus eurer Lehre?

Lieben Freunde, bedenket zuerst, daß es uns jetzt gar nicht um die Folgerungen zu thun ist; und wollet ihr mit jedem Jahre an Weisheit zunehmen: so gewöhnt euch, wie Luther, auf dem Wege der Wahrheit vor keinen Folgen zu erschrecken, sondern bemüht euch zuvörderst bloß um das richtige Verständniß der Sache. Unsre Lehre ist: Der Mensch kann sein Glück wohl zerstören, aber nicht erbauen. In beiden Fällen ist seine Selbstthätigkeit nicht ausgeschlossen. Er ist selbstthätig, wenn er zerstört, und er ist selbstthätig, wenn er Anstalten trifft, sein Glück zu bauen. Aber die Frage ist nur: Welches von Beidem er mit sicherm Erfolge ausführe. Und die Antwort: Beim Zerstören ist der Mensch völlig frei, hier findet seine Macht ihre Grenzen nur in dem Ende seines Glücks, in seinem Untergange; einzelne Anschläge können ihm vereitelt werden, aber wer zu seinem eignen Schaden durchaus nicht anders will, der ist auf diesem Wege durch Nichts in der Welt aufzuhalten, wie die Zerstörung Jerusalems durch keine Retterhand aufzuhalten war; aber bei den Anstalten, die der Mensch zur Begründung und Befestigung seiner irdischen Wohlfahrt trifft, ist Alles unsicher und ungewiß, und der Erfolg der stärksten Mittel von Umständen abhängig, die kein Sterblicher in seiner Gewalt hat. Also verkürzen kann der Mensch sein Leben wohl, ja den Lebensfaden mit der Schärfe des Mordstahls gewaltsam durchschneiden, und wer durchaus nicht alt werden will, hat Mittel und Wege genug, um eines frühzeitigen Todes zu sterben; aber verlängern kann der Mensch sein Leben nicht mit sicherm Erfolge, alle Regeln der Vorsicht und Mäßigkeit sind nur eine schwache Schutzwehr gegen äußerliche Unfälle und Gefahren, gegen einen herabrollenden Dachziegel, den der Sturm aus den Latten gehoben hat. Niederbrennen kann der Mensch sein irdisches Haus mit eigner Hand; aber vor Feuersgefahr schützen kann er es nicht mit aller Vorsicht und Wachsamkeit. Verschwenden kann der Sohn des reichen Mannes sein väterliches Erbe bis zur letzten Denkmünze aus dem nachgelaßnen Schatze der Urväter; aber bei der Verwahrung und Vermehrung dieses Vermögens sichert weder eine kluge Berechnung, noch eine umsichtige Verwaltung vor den Gefahren alles menschlichen Reichthums. Zerstören kann der Mensch das Glück der häuslichen Zufriedenheit durch Thorheiten und Leidenschaften aller Art, aber erbauen kann er es mit allen Tugenden nicht; denn dazu gehört die Eintracht vieler Glieder und ein ruhiger, gleichmäßiger Fortgang gemeinschaftlicher Schicksale. Stören und trüben kann der Mensch die Freude des guten Tages, die heitre Morgenstimmung, wie die Ruhe am Feierabend; aber er ist unvermögend, sein mattes, trauerndes Herz mit dem Hauche der Freude zu beleben, oder mit dem Strahle der Begeisterung zu entzünden. Versäumen endlich kann der Mensch den rechten Zeitpunkt; aber dieser muß erst kommen, er muß erst gegeben werden, ehe man ihn benutzen kann. Und so rechnen auch die Kinder dieser Welt auf eine Gunst des Glücks, das seine Gaben unverhofft bringe; die Kinder des Lichts aber auf den Segen des allmächtigen Gottes bei ruhiger Fortsetzung ihres Tagewerks, oder bei bevorstehenden Veränderungen ihres Lebens. Bleibt nun aber, geliebte Zuhörer, nicht bloß auf dem Felde der Erfahrung stehen; sondern gehet auf den tiefern Grund dieser Wahrheit! Erkennet die Ordnung Gottes, meine Freunde, erkennet die Weisheit Gottes; Gott ist es, der dem Menschen in diesem Prüfungsstande die Freiheit gelassen hat, sein Glück zu zerstören, ohne ihm die Macht zu geben, es zu erbauen; aber der himmlische Vater hat diesen Mangel bei seinen Kindern durch die Verheißung ersetzt, daß Er selbst dafür sorgen wolle. Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes; alle eure Sorgen werfet auf ihn; denn er sorgt für euch.

Erkennet die Ordnung Gottes. So ist es vom Anbeginn der Dinge gewesen. Gott hat den Urmenschen mit väterlicher Fürsorge in eine Lage versetzt, in der er nicht nöthig hatte, mühselig zu ringen, um sich erst ein glückliches Dasein zu erkämpfen. Unter den fruchttragenden Bäumen Edens fand er eine wohlbereitete Wohnstätte, und umrauscht von den Quellen der Erde sah er die Sonne heraufsteigen in ihrer Pracht unter dem Morgengesange einer fröhlichen Schöpfung. Das Paradies ist eher geschaffen worden, als der Mensch. Er bedurfte des Vermögens nicht, sich erst das Glück zu schaffen, es war schon da; dagegen hatte er die Freiheit, aus diesem glücklichen Zustande herauszutreten, und es zu zerstören. Und bei allem Antheil an den Lebensgütern, die uns nach dem Ungehorsam des Urmenschen noch geblieben sind, ist uns auch diese Freiheit geblieben ohne jenes Vermögen. Meinet nicht, daß der Schluß vom Urzustande des Menschen auf die nachfolgenden Geschlechter und auf uns ein Fehlschluß sei! Oder meinet ihr etwa, daß durch den Fall des Menschen ein neues Vermögen in die menschliche Natur gekommen sei, das sie vor dem Falle nicht gehabt habe, oder das Vermögen, das Zerstörte, Verlorne wieder herzustellen? Erkennet vielmehr die Weisheit Gottes in dieser Einrichtung der Dinge. Erkennet die Weisheit der göttlichen Erziehung zur Rettung und Aufrichtung der gefallnen Menschheit. Denn hätte der Schöpfer dem Menschen die Macht ertheilt, selbstständig und unabhängig nach seinem Sinne glücklich zu werden; so wäre damit das letzte Band der Gemeinschaft mit Gott zerrissen, und keine Seite mehr geblieben, das Menschenherz zu fassen und wieder aufwärts zu ziehen. Nun aber fühlen wir Alle einen unauslöschlichen Trieb, glücklich zu werden, ohne das Vermögen, ihn zu stillen. Wir tragen Alle die Sehnsucht nach einem verlornen Paradiese, und wissen nicht, wo wir es wiederfinden sollen, und irren umher auf tausendfachen Wegen, bis wir von scharfen Dornen verwundet oder noch tiefer verletzt unsern Irrthum mit schmerzlicher Wehmuth inne werden und den Weg, der aufwärts zu Gott führt, für den einzig richtigen erkennen.

Meinet also nicht, daß die Freiheit des Menschen, sein Glück zu zerstören, eine so gar gefährliche Macht sei, eine tödtliche Waffe in eines Kindes Hand. Weit gefährlicher, ja von Grund aus verderblich würde die Macht für ihn werden, frei und unumschränkt über das Glück zu gebieten. Das lehrt uns die Weltgeschichte in einigen sehr auffallenden Beispielen, das lehrt sie uns durch die Lebensbeschreibungen einzelner Tyrannen auf dem Gipfel der Weltherrschaft, bei denen durch den Ruhm, Viel zu vermögen, die Meinung, Alles zu vermögen, bis auf die höchste Spitze getrieben war. Wir sehen mit Abscheu, wie sie alles menschliche und göttliche Recht mit Füßen treten, wir schaudern zurück vor diesen Ungeheuern der Ruchlosigkeit und Grausamkeit; aber wir sehen in diesen Schreckbildern eigentlich doch nur, wie in einem Vergrößerungsspiegel, den menschlichen Uebermuth im Glück, die gänzliche Losreißung vom Schöpfer bei dem Wahne selbsteigner schöpferischer Gewalt, und zugleich die fast unüberwindlichen Schwierigkeiten, einer Seele beizukommen, die von diesem Taumelbecher erstlich berauscht, und dann übersättigt ist. Welch ein Sinn würde nun durch die Reihe ganzer Geschlechter herrschend werden, wie so gänzlich würden sich die Herzen dem göttlichen Rufe verschließen und verhärten, wenn auf menschlichen Befehl alle Elemente des Glücks sich zu einem festen Bunde zusammenfügten und in diesem unruhigen Lande der Pilgerschaft die vollkommne Ruhe einer Heimath gewährten? Wenn die aufgeregten Völker dieser Zeit die Kunst besäßen, sich nach ihrem eignen Sinne selbst glücklich zu machen, so hätten wir längst einen Staat ohne Kirche, eine Verfassung und Gesetzgebung ohne Religion, wir würden in der Mitte irdischer Stoffe über der Vollendung unsers Bürgerglücks das Ziel unsrer höhern Bestimmung ganz aus den Augen verlieren. Nun aber bemerken wir unter den Bestrebungen und Hoffnungen der aufgeregten Völkerwelt ein zurückbleibendes Gefühl der Abhängigkeit von einer höhern Macht, und wir sehen die Regungen desselben von Zelt zu Zeit mächtiger werden, wir sehen mehr, als einen Blick von dieser leidenvollen Erde himmelwärts gerichtet. - Wenn Trübsal da ist; so suchen sie die Hülfe des Herrn und können auf diesem Wege unendlich mehr finden, als sie im ersten Andrange eines bewegten Gefühls suchten.

Darum wendet sich die heilige Schrift bei allen unbekehrten Menschen zuerst an ihr Verlangen nach Glückseligkeit. Fluch oder Segen wird ihnen vorgelegt. Errettung aus der Roth oder Untergang und Verderben. Die Verheißung wird gegeben: Auf daß dir's wohl gehe und du lange lebest auf Erden. Wer leben will und gute Tage sehen, der wende sich vom Bösen und thue Gutes, lehrt der 34te Psalm. Und diese Sprache wird selbst hier und da im neuen Testamente wiederholt, weil die Stufen der Gläubigen sehr verschieden sind, und weil auch die Stärkern nicht in allen Zeitpunkten ihres Lebens eine gleiche Empfänglichkeit für die Lehre haben: Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes! oder für das Bekenntniß des Apostels: Das ist die Liebe zu Gott, daß wir sein Gebote halten; denn seine Gebote sind nicht schwer. Darum wendete sich der Erlöser der Welt selbst zuerst an die leiblich Kranken und Hülfsbedürftigen im Volke, die das Glück der Gesundheit durch keine menschliche Kunst wieder erlangen konnten, und aus der Mitte dieser Hülfsbedürftigen bahnte er sich mit Weisheit einen Weg ins Herz der Menschheit, und sein Verfahren, wie seine Sendung, ist der Beweis, daß unser Verhältniß zu den ewigen Gütern in diesem Falle kein andres sei, als zu der zeitlichen Wohlfahrt, daß wir unser Heil wohl verscherzen, aber nicht aus eigner Macht wiederherstellen können.

Doch genug, um einzusehen, in welcher Klarheit und Stärke uns die Wahrheit einleuchte, daß der Mensch sein Lebensglück wohl zerstören, aber nicht erbauen könne; genug, um einzusehen, ob wir die Wurzeln der Wahrheit im Grunde einer göttlichen Heilsordnung, oder nur auf dem stachen Boden der täglichen Erfahrung finden. Je tiefer und gründlicher unsre Erkenntniß ist, desto größer ist nun auch die Wichtigkeit dieser Betrachtung beim Eintritt in ein neues Jahr, mögen wir nun rückwärts blicken in die Vergangenheit, oder vorwärts schauen in die Zukunft, oder mögen wir auf das sehen, was außer aller Zeit liegt.

Wenn wir nämlich unser Lebensglück wohl zerstören, aber nicht erbauen können; so folgt aus dieser Erkenntniß, daß wir in unserm Glücke nicht eignen Ruhm suchen, sondern Gott allein die Ehre geben, daß wir bei einer heilsamen Furcht vor uns selbst unser Vertrauen einzig auf Gott setzen und daß wir endlich von dem zeitlichen Glücke die Anwendung unverzüglich auf unser ewiges Heil machen.

Suchet nicht eignen Ruhm in eurem Glücke, ihr, die ihr vor Tausenden so gesegnet seid, in einem wohlbestellten Hause, in einem einflußreichen Wirkungskreise, in nahen Verbindungen mit den Edelsten und Würdigsten eures Standes. Suchet nicht eignen Ruhm, ihr, die ihr nach mühseligen, jammervollen Lehrjahren jetzt als tüchtige Männer von Fach den Beifall eurer Mitbürger in einer sorgenfreien Lage genießet. Es mag euch schwer fallen, gerade hier auf allen eignen Ruhm Verzicht zu leisten. Der Erbe eines großen Vermögens ist wohl sehr leicht zu überführen, daß er nicht Ursache habe, auf seinen ererbten Reichthum stolz zu sein. Aber alles Erworbene, alles mit Fleiß und Kraft mühsam Erworbene gibt dem menschlichen Stolze einen Schein von Rechtmäßigkeit, der sich viel schwerer zerstreuen läßt, und man muß seinen Blick immer von Neuem schärfen, um die Grundlosigkeit dieser Einbildung zu durchschauen. Darum leget euch von Neuem die Frage vor: ob ihr denn wirklich die Erbauer eures Glückes in dem Sinne seid, in welchem ihr euch gern dafür haltet. Gehet zu diesem Endzweck in die Geschichte eures Lebens zurück. Vergegenwärtiget euch den Kreis eurer Jugendgefährten, den Kreis eurer Mitgenossen und Mitarbeiter auf allen Bildungsstufen. In wie Vielen brannte ein edles Feuer, in wie Vielen regte sich eine Kraft, ein Muth, der allen Hindernissen gewachsen schien! Manche wurden euch selbst Vorbilder des Fleißes zur Nacheiferung. Verfolget ihre weitere Lebensspur. Bei Einigen verliert sie sich in einem frühen Grabe, bei Andern in einer Reihe von Unglücksfallen, unter welchen die erste Kraft gebrochen und jenes euch heute noch vor der Seele schwebende, herrliche Jugendbild bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde, und noch Andre haben es bei gleichmäßig fortgesetzter Anstrengung doch bei Weitem nicht dahin gebracht, daß ihr sie jetzt als glückliche Nachbarn an eurer Seite begrüßen könnet, wie ihr sie einst als Jünglinge sahet. Wer hat nun eurem Fleiße dieses Gedeihen gegeben? Wer hat euch errettet, erhalten, und so sicher geleitet? Und wenn ihr bei der Entwickelung eures Lebens, bei der Wahl eures Berufs, bei wichtigen Veränderungen und Wendepunkten eurer Schicksale auf die kleinen Umstände achtet, von welchen eigentlich die Entscheidung abhing, und die ihr erst jetzt in ihrer vollen Wichtigkeit erkennt, -ein Freund, der euch gerade am Scheidewege begegnete, eine Nachricht, die noch bei guter Zeit an euch gelangte, eine Handschrift teilnehmender Fürsorge aus weiter Entfernung durfte eine Stunde später eintreffen und der Lauf eures ganzen Lebens nahm eine andre Richtung - und ein andermal standet ihr nahe an einem verdeckten Abgrund und eine rettende Hand zog euch zurück und entriß euch einer Gefahr, an die ihr heute noch nicht ohne Schaudern zurückdenket. Also wer ist der eigentliche Erbauer eures Glücks? Wollet ihr euren eignen Ruhm suchen? Wollet ihr euch über Andre erheben? Wollet ihr nicht lieber mit Freuden den ewig guten Vater, dessen Güte täglich neu ist, mit allen frommen Kindern loben und preisen, ja ihm mit einem recht demüthigen Herzen, ihm allein die Ehre geben mit einer innigen Anbetung, vor der alles eigne verdienstliche Schaffen und Wirken völlig verschwindet? Der alte fromme Sänger drückt's in seiner rührenden Einfachheit aus:

Es ist ja, Herr, dein G'schenk und Gab',
Leib, Seel, und Alles, was ich hab',
in diesem armen Leben;
damit ich's brauch' zum Lobe dein,
zu Nutz und Dienst des Nächsten mein,
wollst du mir Gnade geben.

Um diese Gnade wollen wir allzumal Gott anrufen. Der ehrwürdige Spener schloß sein frommes Leben mit dem Bekenntniß: Alles Gute in meinem Leben gehört Gott allein, mir gehört nur das, was daran fehlet. Solchen Vorbildern laßt uns nachstreben und nicht eignen Ruhm suchen.

Ferner, lieben Brüder, wenn wir unser Glück wohl zerstören, aber nicht aus eigner Macht erbauen können; so laßt uns bei einer heilsamen Furcht vor uns selbst unser Vertrauen allein auf Gott setzen. Der größte Feind unsers Glücks ist in uns selbst; also nahe genug, und doch verborgen und versteckt. Ein geheimer Feind ist aber gefährlicher, als ein öffentlicher, erklärter Widersacher. Die verborgnen Nachstellungen und Angriffe auf unsre Ruhe sollen uns aus unsrer Sicherheit aufschrecken; in so fern sollen wir uns fürchten. Ach wie leben wir oft so sicher, bei dem Loose, das uns beschieden ist, in der Meinung, unangefochten zu bestehen und nicht in Versuchung zu fallen. Viele Kauen sich sogar mehr Weisheit und Kraft zu, als zur Verwaltung des ihnen zugemeßnen Theils gehört. Viele wünschen sich Reichthum und Schätze; um die rechte Anwendung ist ihnen eben so wenig bange, als um die Gewißheit, dann mit einem Male glücklich zu sein. Andre wünschen sich sogar in der Absicht große Schätze, um recht viel Gutes in der Welt zu stiften und die Wohlthäter von vielen Tausenden zu werden. Ein Beweis, wie wenig wir uns selbst kennen! ein Beweis, daß die Hoffahrt auch in armen Leuten wohne, weil sie sich einbilden, wenn sie an der Stelle der reichen Leute wären, beßre Haushalter und größre Wohlthäter zu sein. Aber es gibt bei kleinem Gute, wie bei großem Gute Gefahren genug, sein eignes Glück zu verscherzen. Ein Feind, der den Grund unsrer Zufriedenheit untergraben will, ist uns nahe. Ein Jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eignen Lust gereizt und gelockt wird; denn wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert sie den Tod. Fürchte dich also vor deiner eignen bösen Lust, die so leicht entbrennt. Heute noch bist du in einer Lage, daß du dich wenigstens nicht unter die Unglücklichen zu zählen Ursache hast, bist vielleicht auch in einer glücklichen Lage. Aber wie Mancher von den Millionen, die heute das Jahr froh beginnen, wird von demselben Jahre, wenn es vergangen sein wird, sagen müssen, es war das letzte eines rein genoßnen Friedens, es war das letzte Jahr meiner Ruhe und Zufriedenheit; meine Ruhe ist dahin, mein Lebensglück zerrüttet, und Gram und bittre Reue nur ist mir geblieben! Könnte nicht Einer von diesen auch unter uns sein? Ich will Niemanden eine traurige Zukunft voraussagen, aber nur um so nachdrücklicher an das Wort des Apostels erinnern: Wer da stehet, der sehe wohl zu, daß er nicht falle, und was der Herr seinen Jüngern saget, das saget er Allen: Wachet, wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach! Warnungsvolles Wort, wenn der Herr zu den Gliedern seiner Gemeine sagt: In diesem Jahre werdet ihr euch an mir ärgern. Schrecklicher noch, wenn es heißt: Ihr werdet mich mehr, als einmal verleugnen. Am allerschrecklichsten aber: Einer unter euch wird mich verrathen, - wird das Heiligste um einen irdischen Preis hingeben.

Weil ihr also wisset, daß der Versucher nicht fern ist, so bedenket zu dieser eurer Zeit, was zu eurer Stärkung und Verwahrung dient, und nehmet mit um so mehr Verlangen und Vertrauen eure Zuflucht zu Gott, suchet Licht, Rath, Kraft, Schutz und Trost bei eurem Vater in der Höhe, folget nicht der vermeintlichen Klugheit eurer Einsicht, noch dem Zuge eurer Neigung, noch der Stimme der Welt; sondern nehmet euch Zeit, alle Sachen mit Gott und euren: Gewissen in stiller Einsamkeit unter recht inbrünstigem Gebete zu berathen, bittet Gott, das er eure Seele erleuchte und regiere; so werdet ihr des rechten Wegs nicht fehlen. Befehlt dem Herrn eure Wege; so wird er euch sicher führen und bewahren, und Alles, Alles wohl machen.

Endlich das Allerwichtigste: die Anwendung vom Zeitlichen auf das Ewige! Auch euer ewiges Heil könnt ihr verscherzen, ihr könnt es von euch stoßen; aber schaffen könnt ihr's nicht mit aller Mühe; ihr müßt es in Demuth suchen und im Glauben annehmen, empfangen müßt ihr's, erfassen, ergreifen. Oeffnet eure Seele dem Lichte der Wahrheit, daß euch die Klarheit des Herrn erleuchte, öffnet euer Herz dem Troste Gottes, daß der himmlische Tröster euch den Frieden Gottes bringe.

Weit über alle Glückwünsche, die uns Menschen darbringen und durch ihr Mitwirken erfüllen helfen, weit über alles Glück, das nach Wunsche sich einstellt, geht der Segen des Herrn, wenn er sein Angesicht über uns leuchten läßt und uns gnädig ist, wenn er den Blick der Erbarmung auf uns richtet und nach so vielen Sorgen, Kämpfen, Unruhen, Schmerzen, die durch unsre Seele gegangen sind-, seinen Frieden uns schenkt. Das werde wahr in einem neuen, schönen, erfahrungsreichen, unvergeßlichen Jahre! wahr an Allen, die den Herrn anrufen und auf ihn trauen. Amen.

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