Wesley, John - Das Schaffen unserer Seligkeit
„Also, meine Liebsten, wie ihr allezeit seid gehorsam gewesen, nicht allein in meiner Gegenwart sondern auch nun viel mehr in meiner Abwesenheit, schaffet, daß ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern.“
Phi. 2, 12.
Was haben wir zu verstehen unter dem „Schaffen unserer Seligkeit?“
Was sind die Maßregeln, die uns die Heilige Schrift anweist, um unser Seelenheil zu schaffen? Der Prophet Jesaja gibt uns eine allgemeine Antwort über die ersten Schritte, die wir zu tun haben: „Höre auf, Böses zu tun, und lerne Gutes tun.“ Wenn du je das Verlangen hast, daß Gott den Glauben in dir wirke, von dem die gegenwärtige und ewige Seligkeit kommt, durch die Gnade, die dir bereits gegeben ist, so fliehe vor der Sünde wie vor einer Schlange. Vermeide sorgfältig jedes böse Wort und Werk, ja vermeide allen bösen Schein. Lerne Gutes tun; sei eifrig in guten Werken, sowohl Werken der Frömmigkeit, als auch Werken der Barmherzigkeit, Familiengebet und Schreien zu Gott im geheimen. „Faste im Geheimen, und dein himmlischer Vater, welcher ins Verborgene sieht, wird es dir vergelten öffentlich.“ „Suche in der Schrift.“ Höre sie öffentlich und lies sie im Geheimen, und denke darüber nach. Bei jeder Gelegenheit genieße des Herrn Abendmahl „zu seinem Gedächtnis“, und er wird das Abendmahl mit dir halten. Unterhalte dich mit den Kindern Gottes und höre gern, was sie zu deiner Erbauung sprechen. Tue Gutes allen Menschen, an Leib und Seele, so viel du kannst, und sei darin fest und unbeweglich, und nimm immer zu im Werk des Herrn. Es bleibt dir alsdann nur noch übrig, dich selbst zu verleugnen und täglich dein Kreuz auf dich zu nehmen. Versage dir jedes Vergnügen, das deine Freude in Gott hindert, und benutze jedes Mittel, Gott näher zu kommen; wenn es auch ein Kreuz ist und dem Fleisch und Blut schwer fällt. So wirst du, wenn du Erlösung in dem Blut Christi gefunden hast, zur Vollkommenheit fortschreiten, bis du „im Licht wandelst, wie er im Licht“ ist, und imstande bist zu bezeugen, „daß er treu und gerecht ist;“ nicht nur, daß „er uns die Sünde vergibt,“ sondern „uns reinigt von aller Untugend.“ Aber es wird eingewendet: „Wenn es Gott ist, der in uns wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, was bedarf es dann unseres Wirkens und Schaffens? Macht nicht sein Wirken unser Wirken unnötig? Denn wenn wir zugeben, daß Gott alles tut, was bleibt uns zu tun übrig?“
Dies sind die Vernunftschlüsse von Fleisch und Blut. Auf den ersten Blick haben sie einen Schein von Wahrheit. Aber wir können uns leicht überzeugen, daß kein Widerspruch, sondern vielmehr der innigste Zusammenhang besteht zwischen den beiden Sätzen:
- Gott wirkt, deswegen kannst du wirken.
- Gott wirkt, deswegen sollst du wirken!
1.
Gott wirkt in dir, deswegen kannst du wirken, sonst wäre es unmöglich, dein eigenes Seelenheil zu schaffen - Bei den Menschen ist es unmöglich. Ja es ist unmöglich für irgendeinen Menschen, wenn nicht Gott in ihm wirkt. Weil alle Menschen von Natur nicht nur krank, sondern tot sind in Übertretungen und Sünden, so ist es ihnen unmöglich, irgend etwas Gutes zu tun, bis Gott sie vom Tode auferweckt. Es war dem Lazarus unmöglich, aus dem Grab herauszukommen, bis der Herr ihm das Leben gegeben hatte. Und es ist eben so unmöglich für uns, von unsern Sünden frei zu werden, oder auch nur den geringsten Versuch dazu zu machen, solange er, der die Gewalt hat im Himmel und auf Erden, nicht unsere tote Seele ins Leben ruft.
Dennoch ist dies keine Entschuldigung für diejenigen, die in ihren Sünden fortfahren und die Schuld auf ihren Schöpfer legen wollen, indem sie sagen: „Gott allein kann unsere Seele lebendig machen, wir selbst können es nicht tun.“ Denn zugegeben, daß alle Menschen von Natur tot, in Sünden tot sind, so entschuldigt dies niemand, weil es keinen Menschen gibt, der ganz und gar im natürlichen Zustand sich befindet, es sei denn, er hat den Heiligen Geist unterdrückt und sich der Gnade Gottes gänzlich verlustig gemacht. Kein Mensch, der in der Gnadenzeit lebt, ist gänzlich dessen beraubt, was man gewöhnlich „natürliches Gewissen“ nennt, aber eigentlich vorlaufende Gnade nennen sollte. Jeder Mensch hat ein größeres oder kleineres Maß davon, obgleich die Mehrheit der Menschen sie unterdrückt, ehe sie tiefe Wurzeln faßt oder irgendeine beachtenswerte Frucht hervorbringt. Jeder Mensch besitzt ein gewisses Maß von diesem Licht, einen Schimmer, welcher früher oder später, mehr oder weniger einen jeden Menschen, der in diese Welt tritt, erleuchtet. Und jeder, wenn er nicht einer von jener kleinen Zahl ist, deren Gewissen voll Brandmalen ist, fühlt sich mehr oder weniger beunruhigt, wenn er dem Licht seines Gewissens entgegenhandelt; so daß kein Mensch sündigt, weil er keine Gnade besitzt, sondern weil er die Gnade, die er besitzt, nicht anwendet. Deswegen bist du, soweit Gott in dir wirkt, imstande, dein eigenes Seelenheil zu schaffen. Da er nach seinem Wohlgefallen beides, das Wollen und das Vollbringen, in dir wirkt, ohne irgendein Verdienst von deiner Seite, so ist es dir möglich, alle Gerechtigkeit zu erfüllen. Es ist dir möglich, Gott zu lieben, weil er dich zuerst geliebt hat, und in der Liebe zu wandeln, nach dem Vorbild deines großen Meisters. Wir wissen wohl, daß es bei seinem Wort bleibt: „Ohne mich könnt ihr nichts tun.“ Aber wir wissen auch, daß ein jeder gläubiger Christ sagen kann: „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.“
Laßt uns darum stets eingedenk sein, daß Gott beides miteinander in der Erfahrung eines jeden Gläubigen vereinigt hat, und deswegen müssen wir uns hüten, eines vom anderen zu scheiden. Wir müssen uns vor jener falschen Demut hüten, die uns zur Entschuldigung unseres mutwilligen Ungehorsams sagen lehrt: „O, ich kann nichts tun!“ und wir damit die Hände in den Schoß legen, ohne die Gnade Gottes auch nur zu nennen. Überlege, ehe du so sprichst; bedenke, was du sagst. Ich hoffe, du tust dir selbst unrecht; denn wenn es wirklich wahr ist, daß du nichts tun kannst, dann hast du keinen Glauben. Und wenn du keinen Glauben hast, so bist du in einem schlimmen Zustand; du bist nicht auf dem Weg zum Himmel. Dies ist hoffentlich nicht dein Fall. Du kannst durch Christus, der dich stärkt, manches tun. Blase den Funken der Gnade wieder an, welcher in dir ist, und er wird dir mehr Gnade verleihen.
2.
Gott wirkt in dir, deswegen sollst du wirken; du sollst ein Mithelfer Gottes sein (dies Wort gebraucht der Apostel), sonst wird er aufhören in dir zu wirken. Die allgemeine Regel, nach welcher der Herr seine Gnade austeilt, ist diese: „Wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat.“ Ja, sogar Augustin, der im Allgemeinen die entgegengesetzte Lehre zu begünstigen scheint, macht die richtige Bemerkung: „Der uns ohne unsere Hilfe geschaffen hat, wird uns nicht ohne unsere Hilfe selig machen. Er will uns nicht von der Sünde frei machen, wenn wir uns nicht selbst „von diesem verkehrten Geschlecht“ los machen; wenn wir nicht selbst „den guten Kampf des Glaubens kämpfen und das ewige Leben ergreifen;“ wenn wir uns nicht bemühen, „einzugehen durch die enge Pforte, uns selbst zu verleugnen und täglich unser Kreuz auf uns zu nehmen, und auf alle Weise unsere Berufung und Erwählung fest zu machen.“
„Wirkt also, liebe Brüder, Speise, nicht die vergänglich ist, sondern die da bleibt für das ewige Leben.“ Sagt mit unserem hochgelobten Heiland, obwohl in einem etwas verschiedenen Sinn: „Mein Vater wirkt bisher, und ich wirke auch.“ Eben weil er noch in euch wirkt, werdet niemals müde, Gutes zu tun. Durch die Kraft der Gnade, die euch zuvorgekommen und bis hierher gebracht hat, fahret fort mit eurem Werk des Glaubens und mit eurer Arbeit der Liebe und mit geduldiger Hoffnung. „Seid fest, unbeweglich und nehmet immer zu in dem Werk des Herrn.“ Und „der Gott des Friedens, der von den Toten ausgeführt hat den großen Hirten der Schafe, der mache euch fertig, in allem guten Werk, zu tun seinen Willen, und schaffe in euch, was vor ihm gefällig ist, durch Jesus Christus; welchem sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.“