unbekannt - Chronik eines Ungenannten von Lyon

unbekannt - Chronik eines Ungenannten von Lyon

Es lebte in Lyon ein Bürger namens Valdes, der hatte sich durch ungerechten Wucher viele Reichtümer erworben. An einem Sonntag ging er aus uns sah, wie sich die Menge um den Possenreißer drängte, der von dem heiligen Alexius erzählte1). Er wurde von seinem Vortrag so ergriffen, daß er ihn in sein Haus führte. Am folgenden Morgen wandte er sich an die Theologen um Rat. Sie sagten, es gebe mancherlei Wege zu Gott; er wollte aber wissen, welcher Weg der vollkommenste sei. Da legten sie ihm Jesu Rat vor: Wenn du vollkommen sein willst, so geh hin und verkaufe alles, was du hast 2). - Da ging er zu seiner Frau und schlug ihr vor, daß sie alle seine unbewegliche Habe zu Lande und zu Wasser, Wälder und Wiesen, Einkünfte aus Hüttenwerken und Mühlen fortan für sich behalten möge. Von der beweglichen Habe gab er einen Teil denen, von denen er den ungerechten Wucher genommen hatte; den größten Teil verwandte er zur Unterstützung der Armen. Am Tage von Maria Himmelfahrt warf er den letzten Rest seines Vermögens auf der Straße unter die Armen, mit den Worten: Niemand kann zwei Herren dienen, Gott und dem Mammon3). Dabei stieg er auf den Straßenvorsprung und sagte: Freunde, ich bin keineswegs von Sinnen, wie ihr meint. Sondern ich habe mich an diesen meinen Feinden gerächt, die mich zu ihrem Sklaven gemacht haben. Als er am folgenden Tage von der Kirche kam, bat er einen früheren Freund um Brot um Gottes willen. Dieser führte ihn in sein Haus und sprach: Ich will Euch bei meinen Lebzeiten mit dem Notwendigsten versorgen. Als die Kunde hiervon zu seiner Gattin kam, lief sie voll Ärger zu dem Bischof und beklagte sich, daß ihr Mann bei fremden Leuten Brot erbettel. Da wurden alle zu Tränen gerührt. Der Bischof ließ den Valdes vor sich rufen. Die Frau ergriff ihren Mann bei seinem zerlumpten Rock und sprach: Ist es nicht besser, Mensch, daß ich meine Sünden gegen dich durch Almosen büße, als daß es Fremde tun? Da befahl der Bischof, daß er in der Stadt bei niemand Speise nehme als bei seiner Frau.

Später begann Valdes Genossen um sich zu sammeln. Sie folgten seinem Beispiel und wurden ebenfalls Bekenner der freiwilligen Armut. Allmählich fingen sie in häuslichen und öffentlichen Predigten an, ihre eignen und fremde Sünden zu strafen.

Quelle: Neukauf-Heyn - Evangelisches Religionsbuch

1)
Die ioculatores - Possenreißer - trugen auch ernste und spannende Erzählungen vor. Alexius war nach der Legende der Sohn eines reichen römischen Senators, der am Hochzeitsabend Braut und Eltern verläßt, als fahrender Büßer die Lande durchzieht, und nachdem er alle Not der Ärmsten gekostet hat, unerkannt als siecher Bettler in das Haus seiner reichen Eltern zurückkehrt und erst in seiner Todesstunde sich ihnen zu erkennen gibt.
2)
Matth. 19, 21
3)
Matth. 6, 24
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