Vinet, Alexandre - Der Atheismus der Epheser vor ihrer Bekehrung.

Vinet, Alexandre - Der Atheismus der Epheser vor ihrer Bekehrung.

Ephes. II, 12.
„Ihr waret ohne Gott in der Welt.“

Die Worte, welche ich Euch so eben vorgelesen habe, sind von St. Paulus an die neuen Christen von Ephesus gerichtet, und sie gehören zu dem Kapitel, in welchem dieser große Apostel die Epheser an den Zustand der Finsternis, der moralischen Verworfenheit und Verdammung erinnert, in dem sie sich befanden, bevor die Boten des Heils ihnen Jesus Christus verkündigt hatten. Da die harte Wahrheit, welche dieser Text enthält, die unfehlbare Autorität des göttlichen Wortes für sich hat, und in Übereinstimmung steht mit dem ganzen Zusammenhange der christlichen Offenbarungen, so könnten wir es uns ersparen, andere Beweise dafür zu suchen. Aber Gott hat uns nicht untersagt, die Wahrheiten seines Wortes zu erweisen, und das vollkommene und bewundernswürdige Zusammentreffen derselben mit den klarsten Angaben der Vernunft und der Natur ins Licht zu stellen. Aus diesem Grunde fordern wir Euch heute auf, mit uns die Beweise dieser Behauptung St. Pauli aufzusuchen, dass die Epheser, bevor sie Jesus Christus kannten, ohne Gott in der Welt waren.

Unterstützt uns mit Eurer Aufmerksamkeit. Und wenn Ihr unwillkürlich einige Bedenken gegen den Satz erhebt, welchen wir verteidigen werden, so wollet diesen Bedenken für einige Augenblick Stillschweigen gebieten. Wir meinen nicht den Satz aufzustellen, dass die Epheser, bevor sie das Evangelium angenommen hatten, nicht an das Dasein Gottes glaubten; das würde eine unhaltbare Behauptung sein. Der Glaube an Gott ist dem Menschengeschlechte dergestalt innewohnend, unserer Vernunft dergestalt Bedürfnis, dass selbst die entartetsten Wesen sich kaum davon befreien. Es ist nicht Atheist, wer es sein will; die Teufel selbst glauben an Gott und zittern vor ihm. Wie hätte St. Paulus so etwas den Ephesern sagen können, gewissermaßen im Angesichte des Tempels ihrer Diana? Wie hätte er es gesagt, er, der, als er in Athen auf allen Seiten Altäre errichtet sah, den Bewohnern dieser berühmten Stadt vorwarf, in gewisser Art, zu gottesfürchtig zu sein? Was er sagen wollte und was wir heute zu beweisen suchen, ist, dass es für den nicht bekehrten Epheser, er mochte auch der aufgeklärteste sein, er mochte sich selbst in den Fußtapfen der Philosophen zu der Idee der Einheit Gottes erhoben haben, dass es für ihn dasselbe war, nicht an Gott zu glauben, als so an ihn zu glauben, wie er daran glaubte.

Und wenn einigen selbst dieses schwer zu glauben erscheint, so bitte ich sie, auf die Frage zu achten, welche ich hinstelle. Was heißt es, an das Dasein eines Wesens glauben? Heißt das nicht glauben, dass es ein Subjekt gibt, in welchem sich gewisse Eigenschaften vereinigen, die es von allen andern unterscheiden? Sind es nicht diese Eigenschaften, oder diese Eigentümlichkeiten, welche machen, dass es das ist, was es ist, und dass es nichts anderes ist? und wenn wir alle diese Eigenschaften oder Eigentümlichkeiten eine nach der andern leugnen, ist das nicht eben so viel, als ob wir den Gegenstand selbst leugnen?

Was würdet Ihr von einem Volke sagen, das beschlossen hat, sich einen König zu geben, welches selbst einen Menschen mit dieser glänzenden Würde bekleidet hat, aber welches, aus irgend einem Beweggrunde, ihm erst das Recht, Armeen auszuheben, entzieht, dann das, Krieg zu führen und Frieden zu schließen, ferner das, die Beamten zu ernennen, welches ihm endlich die notwendigen Revenuen zur Unterhaltung seiner Würde, ja sogar die äußern Zeichen der Ehrfurcht entzieht, welche sein Titel zu gebieten scheint? Ihr würdet sagen, dass dieses Volk keinen König hat. Es ist umsonst, dass in seiner Mitte ein Mann existiert, den man König nennt; er ist es nicht, weil man es nur wirklich ist - durch gewisse Eigenschaften, durch gewisse Vorzüge; und diese Eigenschaften, diese Vorzüge, er hat sie nicht. Es ist die Republik unter dem Namen der Monarchie.

Was würdet Ihr in ähnlicher Weise von einem Menschen oder von einer Gesellschaft sagen, die da erklärte: Wir erkennen einen Gott, aber welche diesem Gott die zu seiner Würde wesentlichsten Eigenschaften verweigerte, die unzertrennlichsten von der Idee seiner Vollkommenheit, und ihn darauf beschränkte, so zu sagen, nur ein Namen zu sein? Gewiss würdet Ihr sagen, dass ein solcher Mensch, eine solche Gesellschaft nicht an Gott glauben, und dass sie, unter dem Namen der Religion, den Atheismus ausüben.

Sehr gut, wird man sagen, der Grundsatz ist unbestreitbar; aber wer denkt auch nur daran, ihn zu bestreiten? Gibt es in der Welt irgend Jemanden, der unvernünftig genug wäre, die Vollkommenheiten Gottes, wie seine Güte, seine Gerechtigkeit und seine Vorsehung zu leugnen? Ja, meine Brüder, es gibt Jemanden in der Welt, der sie leugnet: das ist der Epheser vor seiner Bekehrung.

Hier haben wir einen zweiten Schritt zu tun. Wir haben gesehen, dass es Gott leugnen heißt, wenn man seine wesentlichen Eigenschaften leugnet; jetzt ist es notwendig, dass Ihr uns zugesteht, dass es die wesentlichen Eigenschaften Gottes leugnen heißt, wenn man die Handlungen leugnet, welche eine notwendige Folge dieser Eigenschaften sind. Mit andern Worten, es heißt die Vollkommenheiten Gottes leugnen, wenn man ihm die Ausübung derselben nicht zugesteht. Denn was ist eine Vollkommenheit ohne Ausübung? was ist eine Heiligkeit ohne Anwendung? Was ist eine müßige Kraft? Es ist nur ein Name, es ist nichts.

Du glaubst an die Gerechtigkeit Gottes, konnte St. Paulus zu dem Epheser sagen. Du glaubst also, dass Gott der Erhalter, der Verteidiger und der Rächer einer moralischen Ordnung ist, welche er zum Wohl seiner Kreaturen und zu seinem eignen Ruhm eingesetzt hat. Du glaubst, dass, da diese Gerechtigkeit unendlich ist, ihr nur durch einen vollkommenen und unbedingten Gehorsam genügt werden kann. Du glaubst, dass diese Gerechtigkeit, da sie geistiger Art ist, den Gehorsam, nicht bloß der Hände, sondern des Herzens und des Willens verlangt. Du glaubst, dass, da diese Gerechtigkeit unverletzlich ist, sie keinen Abbruch erleiden kann, ohne eine augenblickliche, vollständige, absolute Ausgleichung zu verlangen. Du glaubst alles dies, sagst Du; folglich glaubst Du auch, dass Deine Sünden bestraft werden müssen; dass Dein Herz, welches sich nicht Gott ergeben, verdammt werden muss; dass Deine Reue keinen Deiner Fehltritte auslöscht, weil, was geschehen ist, geschehen bleibt, und weil die verletzte Ordnung deshalb nicht weniger verletzt ist; dass Deine guten Werke es nicht mehr können, weil das Gute, was Du zur Tilgung Deiner Sünden tust, selbst da hätte geschehen müssen, wo Du keine Sünden zu tilgen gehabt hättest. Du glaubst also, dass Du verdammt, notwendiger Weise verdammt bist. Wenn Du es nicht glaubst, so hast Du einen Gott ohne Gerechtigkeit, das heißt so viel, Du hast keinen Gott.

Ich setze jedoch voraus, konnte St. Paulus sagen, dass Du an seine Gerechtigkeit glaubst; aber glaubst Du an seine Güte? Du glaubst daran, sagst Du. Ohne Zweifel meinst Du nicht eine begrenzte Güte, mit Schwachheit gemischt, der Veränderung unterworfen. Du glaubst, dass Gott seine Kreaturen mit einer ewigen Liebe geliebt hat, dass keine Zärtlichkeit der Welt, selbst nicht die einer Mutter, dieser Zärtlichkeit zu vergleichen ist; dass es nicht bloß Dein Leib, sondern Deine Seele ist, die Gott liebt, und dass diese Liebe unermüdlich ist, gleich wie sie ewig ist. Nicht wahr, Du glaubst diese Dinge? Ach! wer würde sie nicht glauben? wer hat nicht das Bedürfnis, sie zu glauben? Ist es nicht unter dem Bilde der Liebe, dass wir uns am liebsten das oberste Wesen vorstellen? Es ist wahr. Aber welch ein schreckliches Phantom erhebt sich zwischen Dir und seiner Güte, und bedeckt mit einem düstern Schleier sein Antlitz voller Milde? Es ist das Phantom seiner Gerechtigkeit; es ist das Sinnbild Deiner Sünden. Versuche es, den als Vater anzurufen, den Du zu beleidigen nicht aufgehört hast! Versuche es, an die Allgüte des in der Vergeltung starken Gottes zu glauben! Schreckliche Alternative, die Güte Gottes nicht zugestehen zu können, ohne seine Gerechtigkeit zu leugnen; noch an seine Gerechtigkeit glauben zu können, ohne seine Güte zu leugnen! Nein, er ist nicht für Dich, der gütige Gott; aber er wird es sein, wenn du das große Wunder hörest, welches wir beauftragt sind, Dir zu verkündigen. Ein Vermittler hat sich gefunden; die große Versöhnung, welche so oft auf der Erde in allen Religionen der Völker bildlich dargestellt worden ist, hat sich im Himmel verwirklicht. Gott hat Euch seinen Sohn gegeben, und der Sohn hat sich hingegeben, um seinem Vater die einzige Bürgschaft anzubieten, welche er annehmen konnte, die einzige Wiederherstellung, welche wirksam war, die einzige Ausgleichung, welche Alles ausgleicht. Wenn er sich nicht hingegeben hätte, so hätte die Gerechtigkeit ihren Verlauf, den nichts aufhalten konnte. Aber Ihr, die Ihr Jesus Christus nicht empfangen habt, könnt Ihr an Gott, als einen gütigen Gott, glauben? könnt Ihr ihn aus der Tiefe Eures Elendes und Eurer Verwerfung anrufen: Unser Vater, der du bist im Himmel? Ihr habt in der Welt einen Herrn, einen Ankläger, einen Richter. Habt Ihr wirklich einen Gott?

Du glaubst an die Vorsehung, konnte St. Paulus zu dem Epheser sagen. Ach! glückselig der, der an ein so großes Mysterium glaubt. Es ist ein Beweis, dass er vom Tode zum Leben übergegangen ist. Aber weißt Du auch genau, was es heißt, an die Vorsehung glauben? Ach, ich zweifle; denn warum sprichst Du, sobald eine Begebenheit Dein Wohlergehen gefährdet, nur von Zufall und Schicksal? Und warum bleibt Deine Dankbarkeit, wenn Dir von den Menschen etwas Gutes wiederfährt, bei ihnen stehen, statt sich zu dem Ewigen zu erheben? Und warum, wenn Dir etwas Schlechtes von ihnen wiederfährt, denkst Du nur daran, gegen die Hand des Fleisches, die Dich schlug, entrüstet zu sein, und nicht daran, die himmlische Macht mit Furcht anzubeten, ohne deren Erlaubnis Du nicht geschlagen werden kannst? Und warum wirst Du bei dem Anblick der Revolutionen nur die sekundären Dinge gewahr, die man allerdings prüfen muss, und steigst Du niemals zu der ersten Ursache hinauf? Heißt das an die Vorsehung glauben? Aber es ist dies nur ein Teil von dem Kreise der Tätigkeit der Vorsehung. Wenn sie die Dinge der Welt leitet, so regiert sie auch unter einem andern Namen die moralische Welt; und dieser Name ist der heilige Geist. Glaubt Ihr an den heiligen Geist? glaubt Ihr, dass von ihm jeder gute Entschluss, jeder gute Gedanke herrührt? glaubt Ihr, dass der himmlische Vater ihn allen denen freigebig gewährt, die ihn darum bitten? Es bedarf, so scheint es, keiner großen Überwindung, um daran zu glauben. Keine Lehre ist vernünftiger. Ohne Widersinn kann man Gott, der die Geister gemacht hat, nicht die Macht abstreiten, einen Einfluss auf sie auszuüben, sie zu leiten. Aber wenn Ihr nicht an den heiligen Geist glaubt, an diese belebende Seele der moralischen Welt, so frage ich Euch, was für einen Gott habt Ihr?

Das ist es, meine Brüder, was St. Paulus den Ephesern vor ihrer Bekehrung sagen konnte. Das ist es, was er denselben Ephesern nicht sagen konnte, nachdem sie Christen geworden waren. Der Christ allein sieht die Gerechtigkeit, die Güte und die Vorsehung Gottes sich in ihrer ganzen Fülle offenbaren und in einer vollkommenen Harmonie entwickeln. In Jesus Christus sind sie vollendet, wirklich, triumphierend. In ihm ist die göttliche Gerechtigkeit erfüllt worden, durch ihn die Güte Gottes verkündet, durch ihn endlich die Herrschaft des heiligen Geistes, die moralische Vorsehung über allen Zweifel erhoben worden.

Diese Wahrheiten sind die ganze Substanz und der ganze Gegenstand des Evangeliums. Der Christ allein kennt Gott, der Christ allein hat einen Gott.

Ich fühle eben so gut, wie irgend Jemand, Alles, was eine solche Aufstellung im ersten Augenblicke Paradoxes und Hartes darbietet. Aber ich frage, was ist denn das für ein Gott, welcher keinen Anspruch an unsere Anbetung, an unser Vertrauen, an unsere Liebe hätte? Und, aufrichtig, wie sollte man einen Gott anbeten, dessen biegsame und gefügige Gerechtigkeit sich der Verderbnis unserer Herzen und der Schlechtigkeit unserer Gedanken anpasste? Wie könnte man, auf der andern Seite, einen Gott lieben, den man nur unter der Gestalt und mit den Attributen eines strengen und unerbittlichen Richters sähe? Wie könnte man sich einem Gott anvertrauen, welcher, indem ihm unsere zeitlichen Interessen, so wie die unserer Seele gleichgültig wären, seine Sorge für unsern Lebenswandel und für unser Schicksal trüge? Und, noch einmal, was ist das für ein Gott, den man nicht anbeten, noch lieben könnte?

In der Tat, meine Brüder, es hilft zu nichts, die Ausdrücke zu mildern. Das Glaubensbekenntnis des Ephesers war ein unwillkürliches Bekenntnis des Atheismus. St. Paulus konnte ihm sagen: Entweder verweist Euren Gott nicht in den Glanz eines entfernten Ruhmes, von wo diese Sonne der Gerechtigkeit die moralische Welt nicht mehr erwärmen und in ihren Strahlen die Gesundheit über sie ausgießen kann; oder, wenn dies der Gott ist, den Ihr wollt, so, ich bitte Euch, spottet nicht so grausam über Euch selbst, und ehret dadurch, dass Ihr ihn nicht aussprecht, einen Namen, der immer heilig bleibt.

Oder vielmehr, nein, sprecht ihn unaufhörlich aus, als den Namen eines abwesenden Gegenstandes und eines verlorenen Gutes; bauet diese große Idee an, lasst sie, so zu sagen, unter Euren Tränen wachsen, ihre Größe wird Euch an Eure Entblößung erinnern; aber täuscht Euch nicht, schmeichelt Euch nicht; bildet Euch nicht ein, einen Gott zu haben, wenn Ihr nur die Idee davon habt; gesteht Euch selbst, nicht dass die Welt einen Gott hat, Ihr habt nie daran zweifeln können, sondern dass Ihr, indem Ihr, in gewisser Art, unter die übrigen geschaffenen Wesen gesunken, ohne Gott in der Welt seid.

Das ist, meine Brüder, was die aufrichtig befragte Vernunft uns über die Religion des Ephesers vor seiner Bekehrung angibt. Nun, so wie seine Religion ist, so wird sein Leben sein. Denn es ist unmöglich, dass der, welcher ohne Gott in der Welt ist, wie der lebe, welcher einen Gott hat. Und, um es Euch zu zeigen, haben wir nicht nötig, Euch seine moralische Führung zu entwickeln und Euch bemerkbar zu machen, wie weit sie von der Heiligkeit entfernt ist, wovon Gott die Quelle, der Beweggrund und das Beispiel zugleich ist. Ohne den ganzen Kreis seiner Beziehungen zu durchgehen, genügt es uns, zu sagen, was er in Bezug auf Gott ist, oder, mit andern Worten, welchen Platz Gott in seinem moralischen Leben einnimmt.

Dieser Platz, ach! wie klein ist er! Der Gedanke an Gott ist weder der Mittelpunkt seiner Gedanken, noch die Seele seines Lebens, sondern eine Nebensache, eine überzählige, ihm oft beschwerlich fallende Idee, welche er, so gut oder schlecht es geht, mit seinen andern Gedanken zu verbinden sucht. Wenn Gott nicht existierte, würde das System seiner Ideen nicht weniger vollständig sein, und seine Vernunft sich nicht weniger wohl befinden. Oder, wenn er sich damit beschäftigt, so geschieht es im Sinne einer einfachen Ansicht des Geistes, eines wissenschaftlichen Dogmas, aber nicht in dem Sinne einer wirklichen Tatsache, welche den Zweck des Daseins und den Wert des Lebens bestimmt. Er entnimmt daraus weniger praktische Anwendung, als der Astronom von der Gestalt der Erde, dem Lauf der Gestirne und dem Maß der Himmel. Sein Glaube an Gott ist fast rein negativ; er erlaubt, Gott zu existieren, da er nicht anders kann; aber dieser Glaube bindet sein Leben und regelt seine Handlungen keineswegs. Er glaubt an Gott, er sagt es, wenn die Gelegenheit es verlangt; aber er findet keinen Gefallen daran, davon mit seiner Familie und mit seinen Freunden zu sprechen; er unterhält seine Kinder niemals davon, und macht bei ihrer Erziehung keinen Gebrauch von dieser Idee. Mit einem Worte, sein Gedanke ist nicht erfüllt von Gott, lebt nicht von Gott, so dass man von ihm, in dieser ersten Beziehung, sagen kann, dass er ohne Gott in der Welt ist.

Doch, meine Brüder, es gibt eine Stimme im Weltall. Die Himmel erzählen die Ehre des starken Gottes; und obgleich es in ihnen keine eigentliche Sprache gibt, so wird ihre Stimme, wie der Psalmist sagt, nichts desto weniger vernommen, selbst von dem härtesten Ohre; und zuweilen dringt diese Stimme von dem Ohre in das Herz.

Ja, bei dem Anblick dieser herrlichen Natur, ganz voll von Liebe und Leben, wird das Herz des Ephesers zuweilen weich.

Meine Brüder, ich werde ihn nicht fragen, warum sich seine Seele bei dem Anblicke dieser Schönheiten zusammenzieht und sein Herz von Seufzern schwillt; ich werde ihn nicht fragen, woher diese unwillkürliche Traurigkeit kommt, welche dem Entzücken des ersten Anblicks folgt. Ich werde nicht sagen, dass das, was dann seinen Gedanken schwer daniederdrückt, der Kontrast zwischen einer schönen Natur und einer entarteten Seele ist, zwischen einer vollkommenen Ordnung und der Verwirrung seiner Gefühle und seiner Gedanken, zwischen diesem Übermaß von Leben, verbreitet in der Unermesslichkeit, und dem Gefühl einer hinfälligen Existenz, welche nicht auf ihre Fortdauer zu zählen wagt. Ich werde ihm nicht bemerkbar machen, dass dieses Gefühl einer Seele, wie die seinige, dergestalt eigen ist, dass es bei jeder Bewegung der Freude, wie auf ein verabredetes Signal, wiederkehrt, um jene Freude zu vergiften und zu brandmarken; und ich werde nicht schließen, wie ich es tun könnte: Alles dies kommt daher, weil Gott abwesend ist. Nein, ich werde nur sagen: Was ist dies für eine Bewegung? Was beweist sie? Gibt sie Euch einen Gott? Ach! dies dunkle Gefühl hat die Seele von Millionen Zuschauern dieser Schönheiten ergriffen, und hat sie so gelassen, wie sie waren. Die Natur, welche abwechselnd mit Freude und mit Traurigkeit bewegt, - sie erneuert Niemanden. Beobachtet den Epheser, den sie gerührt hat: diese vorübergehende Bewegung, sobald sie verflogen ist, gibt ihn der Welt ganz wieder. Selbst wenn er seinem Schöpfer einen Kultus darbrächte, sein Leben ist kein Kultus, sein Leben ist nicht dem Herrn des Himmels und der Erden geweiht; es gehorcht abwechselnd tausend Eindrücken; aber er weiß nicht, was diese bewundernswürdige Vorschrift bedeutet: Alles, was ihr tut, das tut dem Herrn, und nicht den Menschen. Preiset Gott an eurem Leibe und in eurem Geiste, welche sind Gottes. Es geschieht nicht für Gott, dass er Handwerker, Landmann, Kaufmann, Gelehrter, Staatsmann, Bürger, Familienhaupt ist; es geschieht für ihn selbst; er ist sein eigener Gott und sein eigenes Gesetz. Die traurigen und die glücklichen Ereignisse kommen und gehen, folgen sich ohne Unterbrechung und finden ihn immer ohne Gott. Glücklich, hat er kein Gefühl des Dankes für den Herrn; unglücklich, empfängt er das Unglück nicht wie eine Prüfung oder einen guten Rat; krank, denkt er nicht an den großen Arzt; sterbend, hat er keine Hoffnung. Mit einem Wort, meine Brüder, dieser Gedanke an Gott, der Alles ober nichts im Leben sein soll, ist nichts in dem seinigen, nichts wenigstens, was der Mühe lohnte, gerechnet zu werden. Er hat ihm nichts unterworfen, nichts geopfert, nichts dargeboten. Und, nach allem diesem, könnte er uns sagen, dass er einen Gott hat?!

Aber, meine teuren Zuhörer, wir haben lange genug von diesem imaginären Wesen, diesem nicht wiedergeborenen Epheser gesprochen. Gibt es nach Eurer Meinung nur Ungläubige in Ephesus, und ein Heidentum nur in der heidnischen Welt? Findet das Bild, welches wir Euch so eben entworfen haben, seine Anwendung nur auf eine erloschene Rasse? Und passt es nicht auf diese Tausende, ach! diese Millionen von Heiden der Christenheit, die auch ohne Gott in der Welt leben? Keine Täuschung! Dieses Bild ist entweder falsch oder wahr. Falsch, passt es auf Niemanden, und auf den Epheser Götzendiener nicht mehr, wie auf einen andern; wahr, hat es seine Originale in allen Jahrhunderten, in allen Ländern und ohne Zweifel auch unter uns.

Gott wolle nicht, meine lieben Zuhörer, dass ich aus allen Personen, welche nicht an das Evangelium glauben, nur eine Klasse mache! Es gibt in dieser Zahl solche, welche gegen die Wahrheit emporsteigen, mit einem langsamen, aber ausdauernden, unermüdlichen Schritt. Es ist schon Christentum in diesen ernsten und angeregten Seelen, welche nach allen Seiten hin einen andern Gott suchen, als denjenigen, welchen die Welt ihnen gemacht hat. Denn schon, ohne sich einen klaren Begriff vom Evangelium zu machen, haben sie vom heiligen Geist einen geheimen Anstoß bekommen, der sie treibt, einen Gott zu suchen, der bekleidet sei mit all den Kennzeichen, welche das Evangelium offenbart hat, einen unendlich gerechten, einen unendlich guten Gott, eine Vorsehung. Die Religion reicht ihnen die Hand, und grüßt sie mit einem sanften Namen selbst dann, wenn sie sich gegen sie stemmen wollen; denn sie kennt in ihnen einen Durst nach Gerechtigkeit und nach Frieden, den sie allein zu stillen im Stande ist, und sie erwartet den glücklichen Augenblick, wo, die schlagende Übereinstimmung der christlichen Offenbarungen mit den unvollständigen Offenbarungen ihres Innern erkennend, diese antizipierten Christen, diese Christen, ihrem Wunsche und ihrem Bedürfnisse nach, es auch in der Tat und im Bekenntnis werden.

Aber dies nimmt der Wahrheit nichts, welche wir, in Bezug auf den Ungläubigen, aufgestellt haben, dass er nämlich ohne Gott in der Welt ist. Und was würde es sein, wenn wir fortfahren wollten? Wir haben nur von seinen Meinungen, seinen inneren Gefühlen gesprochen. Und seine Handlungen? seine Handlungen, beweisen sie nicht, dass seine Gedanken, nach dem kräftigen Ausdruck des königlichen Propheten, alle so sind, als ob es seinen Gott gäbe?

Ich würde es zu zeigen suchen, wenn die Grenzen dieser Rede es erlaubten. Ich würde es eben so gut in dem ungläubigen rechtschaffenen, wie in dem ungläubigen lasterhaften Menschen zeigen. Ich würde in dem einen, wie in dem andern dasselbe Vergessen von Gott erblicken lassen, dieselbe Gleichgültigkeit für seinen Ruhm, denselben Götzendienst für sich selbst. Aber ein so wichtiger Gegenstand verlangt mehr Raum, und man kann nicht mit wenigen Worten alle Schwierigkeiten desselben aufklären.

Meine lieben Brüder, warum habe ich Euch von diesen Dingen unterhalten? Betrafen sie Euch? Und war diese Predigt nicht mehr für eine heidnische Versammlung gemacht, als für einen christlichen Tempel? Aber kommen denn der Zweifel und der Irrtum niemals, und nehmen Platz in einem christlichen Tempel? Sie können daselbst eintreten, um das Licht zu suchen, und Gott segne ein so gutes Vorhaben, bei welchem schon Frömmigkeit vorhanden ist! In diesem Falle ist es angebracht, von diesen Dingen zu reden. Aber selbst in einer Versammlung, deren Mitglieder sämtlich durchdrungen von den Wahrheiten wären, welche ich so eben auseinandergesetzt habe, ist ein solcher Gegenstand noch an seinem Platz. Der Christ kann bei einem sorgfältigen Nachforschen nach den Grundlagen und Vorzügen seines Glaubens nur gewinnen. Es muss ihm lieb sein, das Beglaubigungsschreiben seiner Annahme wieder durchzusehen. Er muss lernen, es mit Ehrfurcht Andern vorzulegen, es mit Sanftmut denen zu erklären, welche von ihm Auskunft über seine glänzende Hoffnung verlangen. Und obgleich das Evangelium sich, durch seine eigene Kraft und ohne menschliches Dazutun, der nach Gerechtigkeit schmachtenden Seele beweisen kann, so ist nichts desto weniger die Prüfung dieser so verschiedenen, so reichen, so schönen Beweis ein natürliches Mittel, welches Gott oft gebraucht, um den Glauben entstehen oder fester werden zu lassen.

Möchte dies, einigermaßen, die Wirkung dieser Rede sein! Könntet Ihr überzeugter und ergriffener von den bewundernswürdigen Schönheiten des Evangeliums in Eure Wohnungen zurückkehren! Könntet Ihr mit dem gesalbten Sänger ausrufen: „Ich freue mich über deinem Wort, wie einer, der eine große Beute kriegt; dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege. Du tust mir kund den Weg des Lebens. Meine Seele hängt dir an; deine rechte Hand erhält mich. Du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich endlich mit Ehren an!“

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