Thomasius, Gottfried - Am Sonntage Sexagesimä.

Thomasius, Gottfried - Am Sonntage Sexagesimä.

Die Kraft des Glaubens.

Zum Gedächtnis Luthers am 15. Februar 1846.

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesu Christo. Amen.

2 Kor. 11,19 bis 12,9.
“Denn ihr vertragt gerne die Narren, dieweil ihr klug seid. Ihr vertragt, so euch jemand zu Knechten macht, so euch jemand schindet, so euch jemand nimmt, so euch jemand trotzt, so euch jemand in das Angesicht streicht1). Das sage ich nach der Unehre, als wären wir schwach geworden. Worauf nun jemand kühn ist, (ich rede in Torheit) darauf bin ich auch kühn. Sie sind Ebräer, ich auch. Sie sind Israeliter, ich auch. Sie sind Abrahams Same, ich auch. Sie sind Diener Christi; (ich rede törlich) ich bin wohl mehr. Ich habe mehr gearbeitet, ich habe mehr Schläge erlitten, ich bin öfter gefangen, oft in Todesnöten gewesen. Von den Juden habe ich fünfmal empfangen vierzig Streiche weniger einen. Ich bin dreimal gestäupt, einmal gesteinigt, dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, Tag und Nacht habe ich zugebracht in der Tiefe (des Meeres). Ich habe oft gereist; ich bin in Gefahr gewesen zu Wasser, in Gefahr unter den Mördern, in Gefahr unter den Juden, in Gefahr unter den Heiden, in Gefahr in den Städten, in Gefahr in der Wüste, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter den falschen Brüdern; in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße; ohne was sich sonst zuträgt, nämlich, dass ich täglich werde angelaufen, und trage Sorge für alle Gemeinen. Wer ist schwach, und ich werde nicht schwach? Wer wird geärgert, und ich brenne nicht? So ich mich je rühmen soll, will ich mich meiner Schwachheit rühmen. Gott und der Vater unsers Herrn Jesu Christi, welcher sei gelobt in Ewigkeit, weiß, dass ich nicht lüge. Es ist mir ja das Rühmen nichts nütze; doch will ich kommen auf die Gesichte und Offenbarungen des Herrn. Ich kenne einen Menschen in Christo, vor vierzehn Jahren, (ist er in dem Leib gewesen, so weiß ich es nicht; oder ist er außer, dem Leib gewesen, so weiß ich es auch nicht; Gott weiß es); derselbige ward entzückt bis in den dritten Himmel. Und ich kenne denselbigen Menschen, (ob er in dem Leib, oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es). Er ward entzückt in das Paradies, und hörte unaussprechliche Worte, welche kein Mensch sagen kann. Davon will ich mich rühmen; von mir selbst aber will ich mich nichts rühmen, ohne meiner Schwachheit. Und so ich mich rühmen wollte, täte ich darum nicht törlich; denn ich wollte die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber des, auf dass nicht jemand mich höher achte, denn er an mir sieht, oder von mir hört. Und auf dass ich mich nicht der hohen Offenbarung überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlage, auf dass ich mich nicht überhebe. Dafür ich dreimal den Herrn gefleht habe, dass er von mir wiche. Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in dem Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne.“

Ihr erwartet nicht, meine Geliebten, dass ich heute diese ganze Epistel auslegen werde; ich gedenke auch nur über den Schluss derselben zu reden, nämlich über das Wort, das der Herr zu seinem Apostel sprach: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in dem Schwachen mächtig.“ Aber von diesem Wort aus fällt zugleich das rechte Licht auf den ganzen vorangehenden Abschnitt. Denn was die Gnade sei, an die der Apostel sich halten soll in jenen schweren Stunden der Anfechtung, und die allein ihm ein Ersatz sein soll für die Entziehung jeder Hilfe von Oben; was diese Gnade sei und was ihre Kraft, das offenbart sich an dem Leben dessen, der an sie glaubt. Seine Arbeit, sein Kampf und sein Sieg ist das Zeugnis für ihre Gotteskraft. Und so will ich denn heute von der Kraft des Glaubens an die Gnade Gottes in Christo predigen, und zwar, wie sie in dem Leben und Sterben des Christen sich erweist. Nur dass ich dabei anstatt des hohen apostolischen Vorbildes euch das Bild eines anderen Mannes ins Gedächtnis rufe, welcher zwar von sich selber nicht mehr gehalten hat, als dass er ein armer Sünder und ein schwaches Werkzeug göttlicher Gnade sei, dessen innerer und äußerer Lebensgang aber eine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem des Apostels hat. Und damit erfülle ich zugleich die schuldige Dankespflicht, die uns die Schrift gebietet: „Gedenkt an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben, welcher Ende seht an und folgt ihrem Glauben nach.“ Ihr wisst aber, wen ich meine - unseren Vater Luther, dessen Todestag auf den nächsten Mittwoch, den achtzehnten Februar, fällt. Es sind nun gerade dreihundert Jahre, dass der teure Gottesmann in dem Herrn entschlafen ist, aber es ist mir nicht anders, als ob von dem Schmerz, der damals durch die lutherische Kirche hindurchging über den Heimgang ihres Elias, heute noch ein Nachgefühl durch alle protestantischen Herzen ginge. Doch davon hernach.

Ich will, so sagte ich, die Kraft des Glaubens an die Gnade Gottes in Christo euch verkündigen, und zwar wie sie in dem Leben und Sterben des Christen sich erweist. Und wolle Er selbst, der in den Schwachen mächtig zu sein verheißt, auch mir dazu seine Gnade schenken, damit ich mit seinem Worte eure Seelen erbaue und stärke. Amen.

I. Im Leben.

Lass dir an meiner Gnade genügen, ruft der Herr seinem Jünger zu, und was er damit meint, das wird, so Gott will, keinem unter euch etwas Unbekanntes sein. Denn es ist seine Gnade, die Gnade unsers Herrn Jesu Christi, von ihm selber der Welt erworben, am Kreuz erstritten, mit Darangabe seines Leibes und Blutes erkauft; die rettende, erbarmende Gnade, welche Sünden vergibt, Gerechtigkeit darbeut2) und den Frieden mit Gott in die erschrockenen Herzen bringt. Diese Gnade, sage ich, kann Euch, meine Geliebten, nicht unbekannt sein. Denn solltet Ihr sie auch nicht aus eigner Erfahrung kennen, ich weiß aber, dass Eurer Manche sie kennen und in ihr den einigen Trost ihrer Seelen und das Heil ihres Lebens gefunden haben, aber wo nicht, so lernt ja doch schon jedes Kind aus seinem lutherischen Katechismus, „dass Jesus Christus, wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigkeit geboren, und auch wahrhaftiger Mensch von der Jungfrau Maria geboren, sei mein Herr, der mich verlorenen und verdammten Menschen erlöst hat, erworben, gewonnen von allen Sünden, vom Tode und der Gewalt des Teufels, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen teuren Blut, und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben“ - und jeder Protestant weiß, dass das Bekenntnis dieser freien, rechtfertigenden Gnade der eigentliche Mittel- und Lebenspunkt unserer lutherischen Kirche, dass „die Lehre von der Rechtfertigung aus Gnaden durch den Glauben das Hauptstück im christlichen Wesen, der fürnehmste Artikel des Glaubens“ ist, von welchem auch unser Luther gesagt hat, „dass man davon nicht weichen noch nachgeben dürfe, es falle gleich Himmel und Erde, oder was nicht bleiben will. Denn auf diesem Artikel steht Alles, was wir wider Papst, Teufel und Welt lehren und leben.“ Wenn nun aber der Herr seinem Jünger in der Anfechtung zuruft: lass dir an meiner Gnade genügen, wenn er ihm gebeut, an sie allein sich zu halten, und in ihrem Besitz Ersatz zu finden für den Mangel aller weitern Erquickung und Hilfe, so zeigt er uns eben damit das Wesen des Glaubens. Denn das ist die Art dieses Glaubens, dass er auf die Verheißung der Gnade traut und ihr Recht gibt wider alle kleinmütigen und zaghaften Gedanken des eigenen Herzens, dass er sich daran hält, auch wo er nichts mit Augen davon sieht, und nichts im Herzen davon spürt; das ist seine Art, dass er auf Christum sieht, und auf weiter nichts; dass er diesen Christum sein lässt sein Heil und seine Gerechtigkeit, sein Ein und Alles; ja, dass er ihn hat, ihn im Herzen hat, als das einige, höchste Gut, ihn so hat, wie David sagt: wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde, wenn mir gleich Leib und Seele verschmachten, bist du doch allezeit meines Herzens Trost und mein Teil. Das, meine Geliebten, ist die Art des Glaubens; es ist sein Wesen, allein auf den Heiland zu trauen; und dieses allein schließt aus aller Menschen Werk und Verdienst, macht allen eigenen Ruhm zu Schanden, nimmt alle eigene Gerechtigkeit, alle eigene Kraft hinweg, und lässt dem Sünder nichts übrig, als das Bekenntnis seiner Sünden, nichts, als das Gefühl seiner Armut und Schwachheit, wie auch St. Paulus sagt: „wenn ich mich rühmen will, so will ich mich meiner Schwachheit rühmen,“ aber setzt er hinzu: auf dass die Kraft Christi bei mir wohne! Wie, meine Geliebten, eine Kraft soll dieser arme Glaube sein, der doch nichts weiter ist als das Seufzen und Sehnen des Herzens nach Gnade, nichts, als die ausgestreckte Hand des Menschen nach dem Heiland, der soll Kraft sein, und Kraft verleihen zum Leben, zur Arbeit und zum Kampf des Lebens? Hat man ihm doch von jeher das Gegenteil nachgesagt. Nicht bloß die Gegner und Lästerer unseres Glaubens, auch in unserer eigenen Mitte haben sie ihn oft genug beschuldigt, er sei ein Ruhekissen für die Trägheit des Fleischs, er mache sichre und faule Herzen, er lähme und hindere allen Eifer im Guten, weil er lehre, sich getrost auf das Verdienst des Erlösers verlassen. So hat man oft gesagt. Ich will aber jetzt diese Anklage, komme sie aus Unverstand, oder Verleumdung, nicht aus der Natur des Glaubens widerlegen, welcher Christum und in ihm die Kraft aus der Höhe ergreift, die Erfahrung, das Leben selber soll heute unsere Lehrmeisterin sein. Als Luther sein Tagwerk in Eisleben beschloss im dreiundsechzigsten Jahre seines Alters, da hatte er hinter sich ein Leben, welches dem Bilde gleicht, das unsere Epistel aufstellt, „ein Leben in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Trübsalen, in Nöten und Ängsten“; ein Leben hindurchgegangen, wie das des Apostels, „durch Ehre und Schande, durch gute Gerüchte und böse Gerüchte; geführt in dem Worte der Wahrheit, in der Kraft Gottes, durch Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken.“ Was man in damaliger Zeit an edlen Gütern des Geistes, an Schriftgelehrsamkeit, an Verständnis göttlicher Wahrheit, ja was man an echter deutscher Bildung besaß, das besaß er auch; es war zum großen Teile sein Verdienst. Er hat, um nur Eines zu erwähnen, seinem Volk eine deutsche Bibel gegeben, und ihm mit der deutschen Bibel die deutsche Sprache und in deutscher Sprache das teure, werte Gotteswort gelehrt. So konnte er mit dem Apostel sagen: „worauf nun jemand kühn ist, darauf bin ich auch kühn; sie sind Ebräer, ich auch; sie sind Abrahams Same, ich auch; sie heißen Christi Diener, ich bin wohl mehr.“ „Ich habe mehr gearbeitet, denn sie Alle“, so konnte er sagen, wenn er wollte, ohne zu lügen. Denn wenn damals weithin über Deutschland nach einer langen Nacht das Licht des Evangeliums von neuem leuchtete, wenn das Wort des Lebens auf den Kanzeln gepredigt, in den Schulen gelehrt wurde, wenn ganze Länder mit ihren Fürsten der reinen Lehre zugefallen waren und unter den Segnungen der Reformation anfingen, in christlicher Freiheit, aber auch in christlicher Ordnung ein ruhiges und stilles Leben zu führen, so ist das zum großen Teil Luthers Werk, Werk und Frucht seines Lebens gewesen. Es hat keiner nach den Tagen der hohen Apostel ein größeres getan. Und die Quelle, aus der dieses ganze reiche Leben mit seiner fast übermenschlichen Arbeit und mit seinen bis auf unsere Zeiten reichenden Früchten floss, die Wurzel, aus der es seine Kräfte zog: es ist der Glaube an die Gnade Christi gewesen. Ihr kennt, meine Geliebten, jene dunklen Stunden im Leben Luthers, da ihm nach langem Ringen mit der Sünde das Licht im Herzen aufging; ihr wisst, wie er damals im Kloster durch das Wort von der Vergebung der Sünden getröstet, durch den Spruch des Apostels, „dass der Gerechte seines Glaubens lebt“, aus der Angst des Herzens zu einem fröhlichen, seligen Gotteskind neugeboren worden ist. Und dieser Glaube ist fortan wie der Trost seines Herzens, so auch die Kraft seines Lebens geblieben. Er hat ihm, einem armen Mönch, den Mut gegeben, wider eine Macht, welcher auch Könige und Kaiser erlegen waren und deren zertretenden Fuß erst hundert Jahre vorher Johannes Hus auf dem Scheiterhaufen gefühlt aufzutreten, und an die Kirchtür zu Wittenberg die Sätze anzuschlagen: „dass nach dem Gebot des Herrn das Leben seiner Gläubigen auf Erden eine stete Buße sein soll,“ und „dass der rechte wahre Schatz der Kirche das heilige Evangelium der Gnade und Herrlichkeit Gottes sei.“ Er hat ihm die Freudigkeit verliehen, nach Worms zu gehen, und wenn dort so viel Teufel auf ihn hielten, als Ziegel auf den Dächern; er ist der Grund gewesen, auf dem er mit seinem guten Bekenntnisse vor dem Reichstage stand: „hier stehe ich; ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen.“ Kraft dieses Glaubens hat er die Heilige Schrift ausgelegt und verstanden, in diesem Glauben hat er gepredigt wie Keiner, für Gottes Wort und evangelische Freiheit gestritten und geschrieben wie Keiner, aus diesem Glauben heraus hat er gebetet, und ihr wisst, mit welcher Inbrunst, mit welcher andringenden Kraft; die Frucht solcher Glaubensarbeit aber sind die zwölf Millionen Protestanten gewesen, von denen er hätte sagen können in einem ähnlichen Sinn, wie der Apostel Paulus: „Ich habe euch gezeugt in Christo Jesu durch das Evangelium.“ Und was soll ich mehr sagen „von dem täglichen Anlauf, von der Sorge für alle Gemeinden, von der Teilnahme an allen Angelegenheiten der Kirche? Wer war schwach, und Er wurde nicht schwach, wer ward geärgert, und Er brannte nicht?“ Die Geschichte seines ganzen Lebens liegt offen vor uns da: es ist von Anfang bis zum Ende ein Werk des Glaubens an die freie Gnade Gottes in Christo gewesen, und gibt also, das wollt, meine Geliebten, wohl erwägen, gibt also Zeugnis dafür, dass solcher Glaube nicht träg und unfruchtbar lässt, sondern ist ein lebendig, mächtig und geschäftig Ding, und macht lustig und fröhlich gegen Gott und alle Kreaturen, fragt auch nicht, ob gute Werke zu tun, sondern ist immer im Tun, also dass unmöglich ist, Werke vom Glauben zu scheiden, ja so unmöglich, als Brennen und Leuchten vom Feuer mag geschieden werden.“ Ist aber das des Glaubens Frucht und Kraft, so müssen nicht nur diejenigen verstummen, welche ihn als müßig und lässig schelten, sondern wir vor Allem müssen uns schämen, die wir nach dem Namen Luthers uns nennen und Nachfolger seines Glaubens, d. h. des evangelischen Glaubens, sein sollten, dass wir so wenig Frucht bringen und so wenig Zeichen des Lebens geben; wir, die wir so viel reden und so wenig tun, müssen uns schämen über unsere Lauheit und Trägheit am Werke des Herrn, und müssen bekennen, dass von jenem Glauben nur ein kleines Fünklein unter uns glimmt. Denn der Glaube an Christi Gnade ist eine Gotteskraft und erweist sich notwendig, wo er überhaupt vorhanden ist, als solche im Leben und, setzen wir hinzu,

II. Im Sterben

des Christen; denn im Sterben, da wird es recht offenbar, was der Glaube ist und was er vermag. Zwar gibt es auch schon im Leben des Christen Stunden, in welchen er des Todes Bitterkeit erfahren muss; denn wem Gott großen Glauben schenkt, dem legt er auch große Leiden auf, und je höher er einen vor Anderen erhebt durch Gnaden und Gaben und macht ihn zum auserwählten Rüstzeug seines Reiches, desto tiefer demütigt er ihn auch durch schwere Anfechtungen, damit er sich der hohen Offenbarung nicht überhebe. Ich meine aber jene Art der Anfechtung, von welcher der Apostel in unserer Epistel berichtet, wenn er klagt, wie ihn der Satan mit Fäusten schlägt, und ihn also einengt und bedrängt, dass er dreimal zum Herrn um Hilfe schrie; dreimal umsonst. Auch unser Luther hat solche Anfechtung mehr denn einmal erfahren, bis zu der äußersten Höhe, bis dahin, dass er seinen Geist darunter aufgeben zu müssen glaubte. Auch er hat mit David seufzen müssen: wie lange wirst du mein so gar vergessen und verbirgst dein Angesicht vor meinem Schreien; und unter solchen Anfechtungen ist der sonst so mannhafte Held so arm und schwach geworden, dass er seine Freunde des Nachts zu sich gerufen, ihrer Fürbitte begehrt und mit viel Tränen seine Sünden bekannt hat. Er hat da gar nichts in seinem Herzen gespürt, dessen er sich hätte trösten können, nichts gehabt, als die Gnade seines Heilands außer sich, über sich, wie hinter Wolken verborgen; aber an diese Gnade hat er sich gehalten mit der Hand seines Glaubens, und hat so im Glauben den Satan überwunden und die Anfechtung siegreich bestanden. Doch, meine Geliebten, von solchen Anfechtungen findet man wenig unter uns; weil unser Glaube zu schwach ist, darum verschont uns der Herr in Gnaden damit. Aber Eine schwere Anfechtung steht uns allen bevor das Sterben. Wenn es dazu kommt, dann werden auch diejenigen unter uns nach einem Trost sich umsehen, welche im Leben wenig nach Trost zu fragen pflegen, weil die Welt ihr Schatz und ihr Trost gewesen ist. Gebe Gott, dass es dann nicht zu spät für sie geworden sei. Aber nicht bloß sie vielleicht sie gerade am wenigsten sondern ein jeder Christ, um so mehr, als er in Aufrichtigkeit und Buße sein Leben geführt hat, braucht eine Kraft zum Sterben, eine Gewissheit, auf welche hin er das müde Haupt fröhlich zu Ruhe legen kann. Dass nun dazu alle irdischen und zeitlichen Dinge nichts helfen, das brauche ich nicht erst zu sagen, denn die musst du allesamt dahinten lassen, wenn es zum Sterben geht; auch die geistigen Gaben und Vorzüge, die wir etwa besitzen, unsere Wissenschaft, unsere Kunst und Gelehrsamkeit wird da nicht vorhalten, denn drüben fragt man uns nicht, was wir gewusst, sondern was wir gewesen sind; aber auch das, worauf man sonst gewöhnlich im Leben baut, unsere sogenannten guten Werke, unsere Berufstreue, unser unbescholtenes Leben, worauf wir so gerne pochen - o Brüder, wenn wir im Lichte der nahen Ewigkeit das Alles noch einmal überschauen, ich fürchte, es wird seinen täuschenden Schein verlieren, es wird uns, so wir darauf uns stützen wollen, wie ein Rohrstab unter den Händen zerbrechen, es wird vor dem Zeugnis unseres Gewissens, vor dem Ernst des drohenden Gerichtes uns nichts übrig bleiben, als das Bekenntnis unserer vielen, großen Sünden. Es gibt nur Eines, was in der Sterbestunde den Menschen trösten und stärken kann, Eines, was wie ein helles Licht mitten hinein in die Nacht des Todes fällt und in die Unruhe der scheidenden Seelen den Frieden Gottes bringt und dieses Eine soll mir, so Gott will, alsdann nicht fehlen, es soll, Gott gebe es, eurer keinem fehlen: es ist die Gewissheit, einen gnädigen Gott im Himmel zu haben, die fröhliche Gewissheit, an dem Richter der Welt einen Versöhner und Fürsprecher zu haben.

Was aber solche Gewissheit gibt, das, Andächtige, lasst uns heute abermal aus der Erfahrung lernen.

Ihr wisst, dass unser Luther schon etliche Jahre zuvor gefühlt, dass es mit ihm zu Ende gehe, denn er war matt geworden von dem langen Streit; nun aber, in Eisleben, seinem Geburtsort, wohin er auf Verlangen derer von Mansfeld gereist, nahm seine Leibesschwachheit also überhand, dass, nachdem er noch etliche Male gepredigt und das Nachtmahl gehalten, am Abend des 17. Februars die Vorboten des Todes sich unverkennbar zeigten. Noch ehe er sich legte, ermahnte er die Freunde, die bei ihm waren: „Betet zu unserem Herr Gott, dass es ihm, mit seiner Kirchen Sache wohl gehe“ und befahl sich seiner Obhut mit den Worten des Psalmes: „Du hast mich erlöst, Herr, du getreuer Gott.“ Gegen Morgen aber, da die Schwachheit zunahm, und mit der wachsenden Beklemmung der Brust auch die Bangigkeit sich mehrte, und die Angst des Todes ihn befiel, und er spürte, dass er seinen Geist aufgeben müsse, fing er an und sprach: „O mein himmlischer Vater, ein Gott und Vater unsers Herrn Jesu Christi, du Gott alles Trostes! ich danke dir, dass du mir deinen Sohn Jesum Christum geoffenbart hast; den habe ich gelehrt, den habe ich bekannt, den liebe ich als meinen Heiland und Erlöser, welchen die Gottlosen verfolgen und schelten. Lass dir meine Seele befohlen sein. O himmlischer Vater, ob ich schon diesen Leib lassen und aus diesem Leben hinweggerissen werden muss, so weiß ich doch gewiss, dass ich bei dir ewiglich bleiben soll und aus deinen Händen mich Niemand reißen kann“; wiederholte danach noch etliche Sprüche der Schrift: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingebornen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben,“ die Worte des 68sten Psalmes „wir haben einen Gott, der da hilft, und einen Herrn Herrn, der vom Tode errettet,“ und sprach abermal mit großer Hast: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Als er nun - also so lautet der Bericht von seinem Sterben weiter - als er nun seinen Geist in die Hände des himmlischen Vaters befohlen, fing er an, stille zu sein. Man rief ihn, aber er antwortete nicht, und indem die Freunde und Grafen von Mansfeld mit stärkenden Mitteln zu Hilfe eilten, Justus Jonas aber mit lauter Stimme ihm zurief: „Allerliebster Vater, wollt ihr auch auf euren Herrn Jesum Christum sterben und die Lehre, so ihr in seinem Namen getan, bekennen“? sprach er, dass mans hören konnte, mit starker Stimme: Ja. Da wurden ihm Stirne und Angesicht kalt, und wie man fortfuhr ihn beim Namen zu rufen, antwortete er nichts mehr, sondern tat ein sanftes Atemholen und Seufzen mit gefalteten Händen, mit welchem er seinen Geist aufgab; und konnte Niemand an ihm merken einige Unruhe, Quälung des Leibes oder Schmerz des Todes, sondern friedlich und sanft entschlief er in dem Herrn.“

So ist Luther gestorben; nicht ein Heiliger, sondern ein Sünder, und der seine Sünden oftmals bekannt hat, aber gestorben im Glauben an die Gnade dessen, in welchem er gelebt hat, der gesagt hat: „wer an mich glaubt, der hat das ewige Leben.“ In der Kraft dieses Glaubens hat er den Tod überwunden.

Als nun die Kunde von dem Tode des teuren Gottesmannes das Land durchdrang, da ging ein tiefer Schmerz durch alle protestantischen Herzen, und auf dem Wege von Eisleben nach Wittenberg, wohin man die Leiche brachte, strömte alles Volk mit Wehklagen und Weinen zusammen, denn man fühlte es wohl, von dem Fürsten an und von den Gottesgelehrten, die in Wittenberg saßen, bis herunter zu dem untersten Mann im Volke fühlte man es, dass Israel seinen Vater verloren habe.

Nachdem aber die Leiche bis nach Wittenberg an das Elstertor gebracht worden war, sind da am Tore versammelt gestanden Rektor und die ganze löbliche Universität, samt einem ehrbaren Rat und der ganzen Bürgerschaft. Da sind die Diener des Evangeliums und der Schule mit christlichen Gesängen der Leiche vorausgegangen, vom Elstertor an die ganze Länge der Stadt bis an die Schlosskirche. Vor der Leiche sind geritten des Churfürsten Verordnete und die Grafen von Mansfeld; nächst dem Leichenwagen ist Frau Katharina, des seligen Doktors ehelich Gemahl, samt etlichen Frauen gefahren; danach sind seine drei Söhne, sein Bruder und andere der Freundschaft gefolgt. Sodann der Rektor löblicher Universität, samt allen Doktoren und Magistern, darauf ein ehrbarer Rat, die ganze herrliche Menge der Studenten, und endlich die Bürgerschaft; desgleichen viel Frauen und Jungfrauen, Jung und Alt, alles mit lautem Weinen und Wehklagen, in solcher Menge, dass man niemals zu Wittenberg so viel Volks gesehen hat. In der Schlosskirche hat man die Leiche gegen dem Predigtstuhle niedergesetzt. Da hat man erstlich christliche Trauerlieder gesungen. Darnach ist der ehrwürdige Dr. Pomeranus aufgetreten, und hat eine Predigt getan, aber mit so tiefer Bewegung, dass er vor großer Betrübnis und Vergießung vieler Tränen nur Weniges sprechen konnte, und als diese geendigt, hat Herr Philipp Melanchthon aus sonderlichem und herzlichem Mitleiden in lateinischer Sprache eine schöne Leichenrede gehalten. Darauf ist die Leiche in das Grab gelegt worden, und also das teure Werkzeug des Heiligen Geistes, der Leib des Ehrwürdigen Dr. Martin Luther, allda im Schlosse zu Wittenberg, nicht ferne vom Predigtstuhl, da er im Leben manche gewaltige Predigt vor Kurfürsten, Fürsten und der ganzen Gemeinde getan, in die Erde gelegt, und, wie St. Paulus spricht, „gesät in Schwachheit, dass er aufgehe an jenem Tage in Herrlichkeit.“

Über seinem Grab aber wölbt sich ein Bau, nicht ein Bau von Stein, sondern eine Kirche des lebendigen Gottes, erbaut auf demselben Grund der Apostel und Propheten, auf welchem auch Luther mit seinem Glauben stand, und auf demselben Eckstein Jesus Christus, in dessen Gnade auch er gelebt hat und gestorben ist; eine Kirche, deren ganzer Ruhm in dem Bekenntnis dieser freien Gnade besteht, deren Schmuck und Ehrenkleid die Gerechtigkeit ihres Heilands ist, dem Glauben verheißen und im Glauben ergriffen. Das ist der Bau, welchen Gott durch den Dienst Lutheri aufgerichtet, dies das Gedächtnis seines Namens, das er gestiftet hat. Darum nennen wir sie gern die lutherische Kirche, ob wir wohl von keinem anderen Herrn wissen als von dem Einen, der da heißet Jesus Christus, und von keinem anderen Worte als von dem ewigen, das im Evangelio geoffenbart ist; halten auch unseren Luther nicht für mehr, als für ein Werkzeug in der Hand des Herrn, aber für ein auserwähltes Werkzeug, an welchem Gottes Gnade nicht vergeblich gewesen ist.

Mit Schmerz blickt diese Kirche heute, nach dreihundert Jahren, auf das Grab ihres Stifters; denn sie, die einst eine Königin war unter den Völkern und ihre Herrschaft weithin über Deutschland erstreckte, sie ist nun die ärmste und kleinste geworden unter allen Kirchen. Der Name Lutherisch, ehedem der Ruhm und der Stolz ihrer Kinder, ist fast sehr verachtet, an vielen Orten zum Sprichwort und Scheltwort geworden. Dazu von Außen her der Andrang eines furchtbaren Feindes, nämlich des Geistes dieser Zeit, welcher weder von Sünde und Gericht, noch von Gnade und Gerechtigkeit etwas wissen will - im Innern ein Abfall der eigenen Kinder von dem Glauben der Väter, so groß und tief, dass ihrer Etliche allbereits weissagen, es sei nun bald gar aus mit der alten Kirche Luthers.

Aber damit, meine Brüder, hat's noch keine Not. Denn so lange unsere Kirche auf ihrem guten Bekenntnis steht, welches kein anderes ist als das Bekenntnis zu dem reinen Evangelium von der Gnade Gottes in Christo, so lange singen wir fröhlich mit unserem entschlafenen Vater: „Ein feste Burg ist unser Gott,“ und sind gewiss, wie klein auch die Schar ihrer treuen, gläubigen Bekenner sei, „das Reich muss uns doch bleiben.“

Ihr aber, Brüder! tut nach dem Worte des Apostels: „Gedenkt an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben, welcher Ende seht an und folgt ihrem Glauben nach.“ Ihr vor Allen, ihr künftigen Diener der Kirche, die ihr berufen seid, diesen Glauben zu predigen und in demselbigen die Lebenden zu erbauen und die Sterbenden zu stärken, o seht Ihr zu, dass Ihr selber in den Fußstapfen wandelt, die wir Euch heute gezeigt haben. O möchten aus Euerer Mitte Zeugen hervorgehen, angetan mit dem Geist und mit der Kraft unseres Luthers, die Gemeinde Gottes an den lebendigen Quellen zu weiden, die Mauern der Kirche zu bauen. Ihr Väter und Lehrer unserer Hochschule! Lasst Ihr uns unser Werk mit jener selbstverleugnenden Treue tun, welche nichts als die Ehre des Herrn sucht, und wo wir müde werden wollen unter der Last der Arbeit und des Kampfes, da lasst uns im Aufblick auf die Gnade Kraft und Freudigkeit erholen. Wolle Gott unsere Universität je mehr und mehr zu einer Schule der Wahrheit und Gerechtigkeit, zu einem Hort der reinen evangelischen Lehre, zu einer Mitarbeiterin an seinem Reich machen. Ihr alle, meine Geliebten, lasst euch nicht umtreiben von mancherlei Lehre und nicht verführen von der Eitelkeit dieser Zeit, sondern steht im Glauben, seid männlich und seid stark. In diesem Glauben liegt allein die Kraft zum christlichen Leben und Wandel, in ihm allein die Kraft zum Kampf mit der Sünde und mit dem Tod. Betet also, dass Euer Glaube nicht aufhöre, bittet mit uns und für uns, dass Gott unseren Glauben stärke, dass er uns gebe im Glauben einander brüderlich zu lieben, im Glauben Frucht der Gerechtigkeit zu bringen, in der Kraft des Glaubens sein Werk auszurichten und am Ende selig zu sterben.

Vater aller Barmherzigkeit, der Du Dir eine heilige Gemeinde und Kirche auf Erden durch Dein Wort und Deinen heiligen Geist gesammelt hast und noch erhältst: wir bitten Dich, Du wollest Deine kleine Herde, die Dein Wort durch Deine Gnade angenommen hat, ehrt und bekennt, bei der rechten, reinen und seligmachenden Lehre, auch bei rechtem Brauch der hochwürdigen Sakramente festiglich erhalten wider alle Pforten der Hölle, wider alles Toben des Satans, wider alle Bosheit und Tyrannei der argen Welt. Lass Deine Kirche fest und unbeweglich stehen auf dem Grunde, darauf sie erbaut ist. Baue ihre Mauern, segne ihre Diener, und bewahre sie vor Abfall, Verwirrung und schädlicher Lehre. Lass Dein liebes Wort, das helle und unwandelbare Licht, das jetzt unter uns scheint, nicht wieder unterdrückt noch ausgelöscht werden; sondern tue Hilfe durch Deinen ausgereckten Arm und erhalte Deine Gemeinde unter allen Anfechtungen, auf dass Du unter uns hier auf Erden hast ein Volk, das Dich erkenne und im heiligen Schmucke Dir diene in Friede und Liebe. Ach, handle nicht mit uns nach unseren Sünden und vergilt uns nicht nach unserer Missetat, sondern gedenke an Deine Gnade, die Du uns in Christo vormals erzeigt, an den Bund, den Du mit Deinem Volke aufgerichtet hast; schenke uns Buße und Glauben, hilf unserer Schwachheit, und gib uns durch Deinen Geist stark zu werden in Einigkeit und Liebe, auf dass wir hinanwachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Jesus Christus. Amen.

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