Tholuck, August - Predigt, gehalten am Sonntage vor Pfingsten,

Tholuck, August - Predigt, gehalten am Sonntage vor Pfingsten,

den 13. Mai 1825, in der Deutschen Savoy-Kirche in London

Vorwort

Die Predigt, die ich hier mittheile, ist in London gedruckt worden. Nur sehr wenige Exemplare sind nach Deutschland gekommen. Da nun mehrere würdige Männer allen Freunden des Evangeliums einen Dienst zu leisten glaubten, wenn sie auch in Deutschland sie bekannt machten, so baten sie den Herrn Verfasser, sie neu auflegen zu lassen. Er erfüllte ihr Gesuch um so eher, als ihm Gelegenheit dadurch wurde, einen milden Zweck zu erreichen. So bin ich in den Stand gesetzt, diese Verkündigung des göttlichen Worts auch unter uns zu verbreiten, und wünsche von ganzem Herzen, daß der Herr es segnen wolle.

Der Herausgeber.

Gebet.

Herr Gott, der du von Ewigkeit thronest, und deß Name heilig ist, wir treten am heutigen Tage aufs Neue vor dein Angesicht, dich anzubeten. Laß uns bedenken und mit Ernst erwägen, welche Gnade es ist, daß du uns dieses gestattet hast. Du bist der ewige Herr Himmels und der Erden, der Heilige, vor dem kein Engel rein ist, der allmächtig herrschet in Zeit und Ewigkeit, und deß Willen Niemand widerstehen kann, und wir arme, schwache, nackte, elende Geschöpfe, ja Sünder und Uebertreter deiner Gebote. Und du willst zu uns sprechen? O der namenlosen Erbarmung! Und deine Knechte sollten nicht hören? Präge es tief in die Gemüther, daß du vielleicht gerade heute dem, der in Verhärtung dir sich widersetzt, das harte Herz zertrümmern, vielleicht gerade heute dem, der den Namen hat, daß er lebe, und doch todt ist, sein Lügenkleid abreißen, vielleicht gerade heute ein geknicktes Rohr aufrichten, und auf ein glimmendes Docht Oel gießen willst. Wie muß daher, wer Ohren zu hören hat, aufmerken, was du vielleicht gerade heute an deine Gemeinde zu verkündigen hast. Vielleicht wird in der Ewigkeit gerade über diese Stunde Rechenschaft von uns begehret werden. Und was werden wir sagen sollen, wenn wir unsere Ohren verschlössen, und deinen Geist von uns stießen, und dein heiliges Evangelium gering achteten!

Darum, mein Herr und Gott, klopfe gewaltig an die Herzen eines Jeden unter uns, wecke die trägen Geister, schrecke die Heuchler, locke die Sünder; und erquicke die Bußfertigen! Amen.

Predigt.

Text: Matth. 11, 28.

Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seyd, ich will euch erquicken.

Wir alle werden wissen, meine Brüder und Schwestern, daß die Welt voll ist von Jammer und Klagen, Mißvergnügen und Unzufriedenheit. So oft wir hinausgehen ins bürgerliche Leben, hören wir die Aeußerungen der stillen oder der lauten Betrübniß, des trotzigen Murrens oder des verzagenden Unmuths, Klagen und Jammer. Und haben die Menschen recht oder unrecht, wenn sie so viel jammern und klagen? Sie haben nicht unrecht; Grund zu Jammer und Klage giebt es allenthalben in der Welt, und immerwährend. Werfet nur einen Blick hin auf die lange Reihe von Wassers- und Feuersnöthen, von Krankheiten und Kriegszeiten, von Erdbeben und Seuchen, womit ganze Landstrecken heimgesucht werden; auf die Leidenschaften, welche Familien und Gesellschaften zerrütten, auf Neid, Haß, Zorn, Zwietracht in allen ihren Gestalten, und wer wird nicht sagen: Ja es ist Grund vorhanden für die Menschen zu bittern Klagen! Und doch habe ich noch nicht das größte Leiden der Menschen genannt, worüber sie am bittersten klagen sollten, die Sünde. O, meine Theuren! die Sünde ist das größte Leiden. Denn was ist die Sünde? Sie ist die Feindschaft gegen Gott; die aber fleischlich sind, können Gott nicht gefallen, sagt der Apostel. Wenn jemand unter euch die Majestät seines Königs angetastet hätte, und wüßte, daß sein König sein Feind ist, und daß der Arm seines Zorns ihn zu erreichen trachtet, wie würde er zittern? Doch nur über Ein Land erstreckt sich seines Königs Arm. Fliehst du über die Grenzen, so bist du gerettet. Und könntest du nicht der Gewalt deines Königs entfliehen in fremde Länder, Ein Land ist, dahin sein Arm nicht reicht, dahin gehst du ein durch den Tod, in das Land der Freiheit. Aber wohin willst du fliehen, Mensch! wenn dein Gott dein Feind ist? In ein anderes Land? - Sein ist Himmel und Erde! - In die Ewigkeit? - Dort trittst du vor den Richterstuhl, vor den die Lebendigen und Tobten treten. Möchtet ihr es doch alle darum in dieser Stunde recht ernst empfinden, daß Ein Leiden ist, größer als alle andere - das ist die Sünde. Und wenn nun unser Leiden so unaussprechlich groß ist auf dieser Erde, wenn es allenthalben ist, und immerwährend, welche erquickende Stimme, wenn wir im Evangelium vernehmen: „Kommet her zu mir, die ihr mühselig und beladen seyd, ich will euch erquicken!“

Lasset uns betrachten:

  1. Zuerst, Wer hier eingeladen wird.
  2. Dann, Wer da einladet.
  3. Drittens, Wozu wir eingeladen werden.
  4. Und endlich, Was wir bei dieser Einladung zu thun haben.

Wer wird hier eingeladen?

Alle, die mühselig und beladen sind. Werden nur einige Mühselige und Beladene genannt? Nein, alle. Es ist wohl hier unter uns auch nicht ein Einziger, der gar keinen Kummer auf dem Herzen hätte; irgend ein Gram drückt wohl jeden unter uns. Somit sind wir denn auch alle eingeladen von Christo.

Aber, meine Lieben! wenn nicht der Gram über unsere Sünden gestillet ist, so kann kein anderes Leiden uns gründlich abgenommen werden. Denn wie die Sünde der Stachel des Todes ist, so ist sie auch der Stachel in jedem Leiden. Wie es dem Kranken nicht nützt, wenn er umringt wird mit köstlicher Speise, so erquickt den Sünder kein Trost, und kein Genuß des Lebens, wenn er kein versöhntes Herz hat. Was hilft es, daß dir alle deine Thränen getrocknet werden? Wenn du noch nicht Thränen über deine Sünde geweint hast, hilft es dir nicht, und sie können auch nicht ohne dieses getrocknet werden. Und die Thränen über die Sünde, wie bitter sie auch sind, weine sie lieber hier, mein Bruder, meine Schwester, sonst mußt du sie dort weinen, und wirst dort noch heißere Thränen weinen, wenn du vergeblich wirst nach dem Tropfen Wasser blicken, deine Zunge zu kühlen. Der Prophet Jeremia sagt - und o, daß man es laut in die Straßen und das Leben der Menschen hineinrufen könnte: - „Wie murren die Leute im Leben also; ein jeglicher murre wider seine Sünde!“ (Klagel. 3, 39.) So laßt mich nun auch an euch mich mit der Frage wenden: Habt ihr recht tiefen, bleibenden Jammer über eure Sünde? Fühlt ihr sie wie ein eisernes Joch auf euren Nacken? Fühlt ihr unter allen euren Leiden, daß sie das größte und schwerste ist? Oder ist vielleicht der Eine oder Andere unter euch, der da meinet, er ist kein Sünder? - Wer ist denn ein Sünder? Wer Gott nicht liebt aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzem Gemüthe, wer ihn nicht über alles liebt, der ist ein Sünder. Wer ihn also nicht liebt mehr als Weib, Kind, Haus und Hof; wer nicht bereit ist, in jedem Augenblick und mit Freuden, Weib und Kind, Haus und Hof der Sache seines Gottes aufzuopfern; wer nicht überall und mit Freuden, sein eigenes Interesse der heiligen Sache seines Gottes unterordnet, und um ihretwillen dahin giebt, der ist ein Sünder. Und wer unter euch ist kein Sünder? - Alle ohne Ausnahme sind es. Aber wenn ihr es auch alle im Allgemeinen erkennt, daß ihr Uebertreter der Gebote eures Gottes seyd, vielleicht wird es doch Manchem von euch schwer, es in seinem ganzen Umfange und in seiner Tiefe zu erkennen, und eben darum auch schwer, sich beladen zu fühlen von der Sünde, sich beugen und wahrhaft demüthigen zu lassen von dem Bewußtseyn sündlicher Verdorbenheit. Wie nun, wenn ich euch einen Lehrer nenne, der euch leicht und gründlich belehren kann, über die Länge und Breite und Höhe und Tiefe eures Elendes? Einen Lehrer, so treu und liebend, wie keine Mutter, so ernst und weise, wie kein Vater; einen Lehrer, der nicht von eurer Seite weicht, sondern immerdar warnt, lehrt, straft, tröstet, räth und pflegt? Wollt ihr zu diesem in die Schule gehn? Und welches ist der Lehrer, den ich meine? Es ist der Heilige Geist. Denn der Heilige Geist ist es, der den Menschen von seiner Sünde überführt. Habt ihr den Heiligen Geist? Wer unter euch ihn nicht hat, darf sich nicht entschuldigen, denn ein jeder kann ihn haben. „So ihr, die ihr arg seyd, könnet euren Kindern gute Gaben geben, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten.“ So giebt er ihn also jedem, der darum bittet. Du, meine Schwester, mein Bruder, der du den Heiligen Geist nicht hast, hast du auch schon ernst, anhaltend darum gebeten? Wenn nicht, so gehe heute, wenn du von dieser Stätte kommst, in deine Kammer, und bitte, daß du ihn empfangest; der wird dich überführen von der Tiefe deines. Verderbens, aber auch dir verklären die Höhe und Tiefe der Liebe deines Erbarmers. - Und ihr nun, meine Lieben, die ihr euch arm und bloß wißt, die ihr seufzet unter der Last, damit ihr beladen seyd, freuet euch, denn - ihr seyd eingeladen.

Und wer ladet denn die Mühseligen ein?

Jesus Christus, der ewige Sohn Gottes, der da war, ehe der Welt Grund gelegt ist, das A der ganzen Schöpfung und das O; der, um deßwillen alles geschaffen ist, und ohne den nichts geschaffen ist, was geschaffen ist; der, welcher, nachdem er uns gleich geworden ist in allem, außer in der Sünde, aufgefahren ist gen Himmel, und sitzet zur rechten Hand Gottes, und ist von Gott eingesetzt zum Richter der Lebendigen und Tobten. So ist denn auch unsere Seligkeit unumstößlich: Sie ist in den Händen der Allmacht, und der Liebe. Sie ist in den Händen der Allmacht, denn wer will verdammen, wenn der Sohn gerecht spricht? Die Menschen? Sie müssen ja selbst vor dem Richter erscheinen, der die Gläubigen rechtfertigt. Die Engel? Es sind ja unterthänig gemacht dem Herzoge des Lebens alle Engel, Gewaltige und Kräfte. Der Vater? Er hat ja selbst eingesetzt den Sohn, zu richten den Erdkreis, und hat ihm die Macht gegeben, selig zu machen oder zu verdammen. Unsere Seligkeit ist aber auch in den Händen der Liebe. Brüder! fühlt ihr die Liebe? Euer Richter ist euer Seligmacher? Wenn du vor den weltlichen Richterstuhl gefordert wärest, und zittertest vor dem Urtheilsspruch, und plötzlich stiege der Richter von seinem Stuhl herab, und ladete dich ein, dich von ihm beraten zu lassen, und wiese dir nicht nur den Weg dem Gerichte zu entrinnen, sondern den Weg zum Frieden, zu Glück und Freude: Mensch! was würdest du für den irdischen Richter fühlen? Und hier ladet dich dein ewiger Richter ein zu Wegen des Friedens, nicht nur dem Gericht zu entrinnen, sondern ewiges Leben zu erreichen. Dein ewiger Richter hat den Thron des Himmels verlassen, ist auf die Straßen und an die Ecken gegangen, und hat die Sünder eingeladen. Was solche Liebe angefangen hat, das vollendet sie; aber möchtest du, o Sünder! dich von solcher Liebe fesseln und besiegen lassen, ihr dich zu ergeben in der Zeit und in der Ewigkeit. Rührt dich die Liebe in irdischen Verhältnissen, o so laß dich auch die Liebe rühren in den himmlischen Dingen. Ueberwindet dich die Liebe deines Mitmenschen, und willst du dich nicht überwinden lassen von der Liebe deines Gottes? Gieß dich hin seiner Liebe, so lange er seine Liebe dir anbietet; denn wisse, Gott kann auch zürnen mit einem Zorne, der die Gottlosen verzehrt wie Stoppeln, und brennt bis in die untersten Tiefen der Hölle! Freunde! Jetzt ist die Zeit der Liebe, das Jetzt vergeht; Heute, so ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht!

Und was will der Erlöser, der also einladet, seinen Eingeladenen geben?

Ich will euch erquicken, sagt er - Und worin besteht diese Erquickung? Die Erquickung, die von Jesu auf die Beladenen ausgeht, besteht darin, daß er den Fluch, der auf ihnen ruhte, in die Kindschaft verwandelt, und indem er den Seinen die Kindschaft erworben, ihnen auch den Geist der Kindschaft geschenkt hat. Von dem Berge Ebal ward es mit lauter Stimme verkündiget: Verflucht sey, wer nicht alle Worte dieses Gesetzes erfüllet, daß er darnach thuet Das Gesetz brechen wir alle; so sind wir denn auch alle unter dem Fluche Gottes. Unter dem Fluche eines Vaters, einer Mutter seyn, welch trauriges Schicksal! Aber wir sind von Natur - unter dem Fluche Gottes! Unter Gottes Fluch? Wer kann es denken, ohne zu schaudern! Doch wir schlagen die Blätter des neuen Bundes auf, und wir lesen: Christus hat uns erlöset von dem Fluch des Gesetzes, da er ward ein Fluch für uns. Hat er uns den Fluch abgenommen, so hat er auch aus Knechten Kinder gemacht, die Strafe und die Verdammniß ist weggenommen, und Freundlichkeit und Beseligung ist an die Stelle getreten. Wir haben durch ihn den Zutritt zum Vater. Wie der Sohn des Königs vor dem Angesicht seines Vaters erscheinen darf, wenn er will, ohne zu warten, bis er gerufen wird; so haben wir das selige Recht erhalten, zu dem heiligen Gotte, als zu unserm liebenden Vater, hinzutreten, so oft wir von dem Lichte seines Angesichtes erleuchtet, und aus dem Born der Gnade, der von ihm ausgeht, getränkt werden wollen. Und wer nur hinzutritt, wer nur Gnade um Gnade erbittet, dem wird geschenkt ein gerütteltes und geschütteltes Maaß. Er empfängt den Geist der Kindschaft. Habt ihr diesen Geist, meine Brüder, meine Schwestern? Send ihr Knechte oder Kinder? O, wie viele unter denen selbst, die zu den erweckten Christen gezählt werden, wissen noch nicht aus Erfahrung von dem Geiste jener beseligenden Kindschaft, sind Knechte statt Kinder! Worin besteht denn der Unterschied eines Knechtes und eines Kindes? Der Knecht kommt, wann der Herr ihn ruft. Er naht mit Zagen, weil er sich der vielfachen Uebertretungen bewußt ist; sobald er den Befehl empfangen, und wohl oder übel ausgeführt, sucht er schnell dem Angesicht seines Herrn zu entrinnen, und freuet sich deß, wenn er fern von ihm ist. Nicht also ein Kind. Das Kind wartet nicht, bis es von dem Vater gerufen wird, es eilt von selbst herbei; es wartet auch nicht, bis der Vater befiehlt, es sieht ihm fragend ins Auge, um zu erkennen, was sein Wunsch und Wille ist; und wenn es gethan, dann eilt es nicht hinweg, sondern schmiegt sich je länger je inniger an das Herz seines lieben Vaters. Wer nun unter euch ist ein Knecht, wer ist ein Kind vor Gott? Wer ist unter euch, der keine höhere Seligkeit kennt, als die, an der Brust Jesu ohne Unterlaß zu liegen; der den Willen seines himmlischen Vaters zu thun zu seiner Speise macht; dem es Verdammniß und Hölle ist, einen Augenblick die Gnadengegenwart Jesu zu verlieren, und der in dem Himmel keinen Himmel finden würde, wenn er seinen Erlöser nicht fände? Wer ist unter euch, der nicht fragt, was er für seinen Herrn zu thun hat, sondern dessen Leben und Athemholen ein ununterbrochenes Thun für seinen Herrn ist? Meinet nicht, meine Lieben, dieses Ziel sey zu hoch, dieses sey zuviel vom Christen verlangt. Es ist dieses die Natur der Kindschaft Gottes. Der Herr Jesus hat wirklich solche Kinder unter den Gliedern seiner Gemeinde, und es sind wohl auch manche unter dieser Gemeinde, die es aus Erfahrung wissen, daß die Gnade Gottes so große Dinge im Menschen wirken kann. Vor Menschen-Augen ist's freilich unmöglich, und nach dem Maßstabe, den Menschen gewöhnlich gebrauchen, bringt man es auch nicht weiter als zum Knechte. Aber es ist ein herrliches Vorrecht des Geistes Gottes, nicht nur ausstreuen, sondern auch aus den untreusten Knechten Kinder zu machen, ja Kinder zu schaffen, wie der Thau aus der Morgenröthe geboren wird.

Wir haben nur noch Eins übrig: uns zu fragen, was nun wir zu thun haben, bei der Einladung unsers Herrn?

Wir sollen kommen. Aber heißt es nicht an einen andern Orte: Niemand kann zu mir kommen, es ziehe ihn denn der Vater? Wir können also nur kommen, wenn wir gezogen werden.

Und wie zieht denn der Vater? Es giebt einen Zug von außen, und einen Zug von innen. Der Zug von außen ist die lockende Stimme Gottes, die uns in allen Führungen unseres Lebens anredet. Sie spricht in den Freuden unseres Lebens, durch welche der barmherzige Gott uns zur warmen Dankbarkeit führen will, und durch diese zur Liebe zu ihm und zu seinem Sohne. Sie spricht in unsern Trübsalen, durch welche Gott uns beugen und brechen will, damit wir, elend, arm, Hülflos, an ihn uns wenden, und durch seinen Sohn bei ihm Hülfe suchen. Blicket zurück in euer Leben, o Christen, erwäget noch einmal jede eurer Führungen mit Ernst, und erkennet es, wie jede Trübsal und jede Freude ein Liebesseil war, daran euch Gott zu sich und zu seinem Sohne hinziehen wollte. Doch in dem Ausspruche des Heilandes ist eigentlich noch von einem andern Zuge des Vaters die Rede. Der Heiland weiset nämlich in jenem Ausspruche auf jene geheimnißvolle Stimme hin, die wohl Jeder von euch kennt, die derjenige, welcher jetzt von der Welt ausgeschieden ist, sich erinnern wird so manchmal vernommen zu haben, und die derjenige, welcher jetzt noch in der Welt steht, noch jetzt gar manchmal vernehmen wird; jene geheimnißvolle Stimme, die den Sünder zuweilen in der Stille des Nachtlagers mitten in seinen Lüsten gewaltig überfällt, und ihn weckt und züchtigt, und nach einer Ruhe und einem Frieden sehnsüchtig macht, den ihm alles sein Sündenleben nicht geben kann. Wie oft, wie oft ruft es im Innern: Mensch, wo du bist, und wie du bist, ist nicht gut seyn!

Ein Christ aus England erzählt in seiner Lebensbeschreibung, wie ihn diese Stimme überall verfolgt habe, wie sie sich, wenn unter allen seinen Zerstreuungen ein Moment der Ruhe gewesen sey, grade in diesem Augenblick eingedrängt, und ihn furchtbar gestraft habe. Im Geräusche des Tanzes, sagt er, in dem Augenblick, wenn die Musik eben beginnen sollte, aber noch schwieg, gerade da, in diesem Momente der Stille, sey mit dem ganzen Gewichte ihrer Majestät diese Stimme in seine Seele gefallen, und wie in ein Meer habe er sich in das Gewühl des Tanzes gestürzt, um ihrer los zu werden. Sobald er aber wieder aus dem Strudel der Musik und des Tanzes in die Stille der Nacht getreten, siehe! da stand abermal der Richter im Innern auf, und sprach: Willst du mir noch entfliehen? Und jedes Verlangen des Herzens nach Frieden ist, eben wie jede Bestrafung, ein Ruf jener Stimme. Wer solchem Rufe folgt, wer sich hinbringen läßt, wo der Laut dieser heiligen Stimme hinführt, der kommt zum Sohne, der wird vom Vater zum Sohne gezogen. Und der Sohn, was thut er? Er ladet ein, wie wir sahen, während der Vater ziehet. Und wie ladet denn du Sohn ein? Er ladet ein durch die Predigt seines Wortes, sey es, daß ihr sein Wort für euch selbst betrachtet, oder daß ihr es von geheiligten Stätten verkündigen hört. So ladet er euch denn täglich ein, so ladet er euch jetzt ein. Ja er ladet jetzt in dieser Stunde ein; und weil du vielleicht die nächste Stunde sterben könntest, - wehe dir, wenn er zum letztenmale dich vergebens einladete!

So betrachtet nun beides, die Erbarmung eures Gottes und den Trotz eures Herzens. Der Sohn ladet ein, der Vater zieht, und wir - säumen zu kommen!

Wenn ein Kranker am Wege läge, unfähig sich zu regen, und der Arzt vor ihn träte, und ihn einladete zu kommen, und der Freund des Arztes hinzuträte, den Kranken auf seine Arme zu nehmen und hinzutragen zu dem Arzte, und der Kranke widerstrebte, und weigerte sich, was würdet ihr, o Geliebte! von dem Kranken sagen? Wir sind alle, ach, alle! solche Kranke. Täglich ladet der Sohn ein, täglich zieht der. Vater, und wir - wollen alle Tage nicht kommen. Und das gilt nicht bloß denen unter uns, die Christum noch nicht kennen, das gilt auch uns, die wir ihn kennen und seine Anhänger seyn wollen. Denn, meine Geliebten, es ist nicht genug, daß wir erwacht sind aus unserm Sündenschlafe, und in das helle Licht Jesu Christi hineinschauen; wir müssen auch wandeln im Licht. Es begnüge sich keiner unter uns damit, nur zu wissen, wo der Weg zum Himmel ist, oder ihn einzuschlagen, ohne darauf fortzugehn. Es ist kein anderer Rath, meine Brüder, wahres Christenthum nimmt täglich ab, wenn es nicht täglich zunimmt. „Von Klarheit zu Klarheit, von Licht zu Licht,“ das ist des wahren Christen Weg. Und wenn der Geist Gottes uns dazu führen will, durch seine tief im Herzen geschäftigen Wirkungen, da sind wir alle untreu, da suchen wir alle Auswege, da widerstreben wir allzumal vielfach, weil es unserm Fleisch wehe thut.„

So habe ich denn, meine Brüder und Schwestern, meine mir von meinem Herrn aufgetragene Botschaft ausgerichtet. Ich bin als ein Fremdling Hieher gekommen, und ziehe vorüber. Auch ihr, meine Brüder, zieht vorüber, am Ende aber kommen wir zusammen. Und, bedenket es, dann kommen wir zusammen vor dem Throne dessen, der Nacht hat selig zu machen und zu verdammen. Und der Friede Gottes bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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