Tholuck, August - Offenbarung 14,13 - "Unsere Werke folgen uns nach"

Tholuck, August - Offenbarung 14,13 - "Unsere Werke folgen uns nach"

Am Todtenfeste

Ich hatte beabsichtigt, andächtige Versammlung, in unserer heutigen Erbauung den betrachtenden Blick auf jenes Bekenntniß des Glaubens zu richten, welches wir allsonntäglich vor dem Altare des Herrn aussprechen; allein abermals ruft uns ein Fest zur Festbetrachtung - ein Fest, das die evangelischen Christen in unserm Vaterlande mit so ganz besonderer Theilnahme zu begehen pflegen. Es ist das Todtenfest. Wenn indeß die Gemeinde mit besonderer Bewegung des Herzens sich an diesem Feste versammelt, so kann andererseits gerade an diesem Feste das Herz des Predigers vorzüglich beklommen werden, wenn er in Erwägung zieht, was er an demselben zu predigen habe. Es ist dieses Fest, wie unsere Liturgie es ausspricht, der Erinnerung an die Todten geweiht. Sollen wir uns ihrer erinnern in gottesdienstlicher Versammlung, so ist natürlich, daß diese Erinnerung Alles abstreifen muß, was an ihren vergänglichen Menschen erinnert; nur diejenige Seite an ihnen kann hier in Betracht kommen, welche der Ewigkeit zugewandt war. So müßte denn unsere Erinnerung an dieser Stätte unsere theuren Entschlafenen darstellen als unsere christlichen Vorbilder. Aber sind sie würklich allesammt unsere christlichen Vorbilder gewesen? Sind sie hie besten Vorbilder, deren die christliche Predigt gedenken kann? - Und überhaupt, ist es würklich die Erinnerung an ihre christlichen Tugenden, welche die Gemeinde verlangt, wenn sie gerade an diesem Feste so zahlreich zusammenströmt? Ich irre mich gewiß nicht, wenn ich sage: nicht die Erinnerung an ihre christlichen Tugenden ist es, welche die Gemeinde verlangt, überhaupt nicht bloß Erinnerung - Trost ist es, den ihr verlangt über ihren Verlust. Willig nun auch spendet der Prediger des Evangeliums euch diesen Trost; aber kann er euch Allen ihn spenden, kann er ohne Unterschied euch Allen ihn spenden? Das kann er nicht, so lange einer unserer Glaubensartikel der ist, daß es einen Richter giebt, „vor dessen Richterstuhle wir Alle offenbar werden, auf daß ein Jeglicher empfange, nach dem er gethan hat bei Leibes Leben.“ Sollte nun aber die Feier dieses Tages vielleicht dazu dienen, den Ausspruch jenes Gerichts selber beschwichtigen zu helfen: was bliebe anders übrig, als ein Allerseelenfest, wie die römische Kirche es feiert, wo die Meß- und Gebetsopfer der Zurückgebliebenen die Flammen des göttlichen Strafurtheils besänftigen sollen, in denen die Abgeschiedenen seufzen? Wenn nun aber der Glaube unserer Kirche von einem solchen Gebetsopfer nichts weiß, das aus dem Feuer der Reinigung erlösen könnte, so werden wir denn sagen müssen, daß dieses unser Todtenfest im evangelischen Sinne nur dann gefeiert werden könne, wenn wir es zu einem Todesfest machen; zu einem Feste, in welchem uns der Tod mit seinen ewigen Freuden, aber auch mit seinen zeitlichen und ewigen Schrecken vor das Auge treten soll. So wird sich denn dieses Fest anreihen an jene Feste ernsterer Art, wo die christliche Gemeinde sich nicht der Freude hingiebt, sondern der Wehmuth, wie das Bußfest und das Charfreitagsfest. Ein solches Fest in unserer Kirche zu feiern, ist aber auch in neuerer Zeit um so mehr Veranlassung, je mehr der Gedanke des Todes geflohen wird.

Ich weiß es wohl, Geliebte, daß mancher Prediger am heutigen Sonntage nur das als seinen Beruf ansieht, euch Thränen zu entlocken im Andenken an eure Verluste. Ihr nennt ihn menschenfreundlich; aber wie? ist er nicht vielmehr grausam? Thränen läßt er euch weinen, die nichts mehr gut machen können, und lehrt nicht jene Thränen euch weinen, die noch so viel gut machen können, ich meine die Thränen über die Sorglosigkeit für das Seelenheil der Angehörigen, die uns Gott noch gelassen hat, und die Thränen über die Sorglosigkeit gegen unser eignes Seelenheil! Wir weinen über die Verstorbenen, und vergessen der Lebenden? Wäre das ächte Liebe? O Geliebte, so zürnet denn dem nicht, der heut ernste Gedanken in euch hervorruft. Verwechselt nicht die Hand des Wundarztes, der nach den Wunden fühlt, um sie zu heilen, mit der des Mörders, der sie schlägt!

Und so laßt uns denn zur Ermunterung, damit wir unserer eignen Seelen Seligkeit und die der uns Anvertrauten desto mehr mit Furcht und Zittern schaffen, ehe der Tod kommt, unsere heutige Betrachtung an das Wort der Schrift Offenb. 14, 13. anknüpfen: „Und ich hörete eine Stimme vom Himmel zu mir sagen, schreibe: Selig sind die Todten, die in dem Herrn sterben, von nun an. Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach.“ - Nicht im ganzen Umfange wollen wir diesen Ausspruch erwägen; nur die Worte sollen unsere Betrachtung leiten: „Ihre Werke folgen ihnen nach.“

Wer rief dieses Wort? „Eine Stimme vom Himmel her,“ sagt der Seher - war es ein Engel? war es einer der Seligen? wir wissen es nicht. Wir dürfen annehmen, daß die, welche schon hinüber gegangen sind in das Land, aus dem kein Lebendiger wiederkommt, es uns selbst in dieses Leben hineinrufen: „des Menschen Werke folgen ihm nach, wenn er stirbt.“ Das lasset uns betrachten als den Zuruf der Vorangegangenen. Wir wollen zuerst den Sinn dieser Wahrheit erwägen, und zweitens: die ernste Wichtigkeit derselben für die, denen die Werke der Finsterniß nachfolgen.

Unser Blick richtet sich zuerst auf das Wort: Werke. Wohl mancher von uns wird hiebei nur an zwei bestimmte Klassen von Werken denken, an die vorzugsweise so genannten guten, und an die vorzugsweise so genannten bösen Werke. Denn so Pflegen wir ja häufig alles unser Thun in die drei Klassen zu zerlegen, die guten und die bösen Werke und die, die weder das Eine noch das Andere sind. Diese Eintheilungen in drei Klassen aber muß aufhören, meine Freunde, wenn wir im Lichte des göttlichen Wortes unser Thun betrachten wollen, das von allem menschlichen Thun nur spricht als von Werken der Finsterniß und von Werken des Lichts. Nur zwei Quellen giebt es, aus denen alles menschliche Thun strömt, die Liebe Gottes und die Eigenliebe, und auf eine dieser beiden ist auch jedwedes Thun, und sei es das geringste, zurückzuführen. Jedwedes unserer Werke hat eine Seele, einen innern Kern, und ist danach ein göttliches oder ein faules Werk, und so sind es denn nicht bloß diese oder jene einzelnen Werke, die nachfolgen, sondern all' unser Werk und Thun, wie es entweder aus dem Quell des Gehorsams gegen Gott oder aus der natürlichen Eigenliebe geflossen ist. Seht, wie sie sich alle um euch her versammeln, eure Werke, die ihr von der Kindheit an gethan habt! die ihr in stiller Kammer gethan, und vor den Augen der Welt, und jedes Werk hat eine Seele des Lichts oder der Finsterniß! Nackend bist du aus Mutterleibe gekommen, nackend mußt du wieder dahin fahren, aber eines mußt du mitnehmen - hinter dir her den unendlichen Zug aller deiner Werke. -

Unsere Werke folgen uns nach; sie folgen uns nach vor den Thron Gottes, sie folgen uns nach in der eignen Brust. - Gott kann ihrer keines vergessen, und der Mensch darf ihrer keines vergessen. Gott vergißt keines unserer Werke. Machet euren Geist weit, meine Brüder, denn es ist ein unermeßlicher Gedanke! Von Gott wird nichts vergessen, was in seiner ganzen weiten Schöpfung geschieht; in dem Geiste dessen, der Alles wußte, ehe es ward, wie kann in seinem Geiste etwas vergessen werden? So steht denn Alles in gleicher Klarheit vor seinem Gottesauge - der Tag, ha die Morgensterne jauchzten über die neugeschaffene Erde, wie die Aeonen, die da seyn werden, wenn die Erde nicht mehr ist. Das nächtliche Werk jenes Jüngers, dessen Name weit über die Erde hin der Verräther heißt, und die flüchtige Jugendsünde, über welche du noch neulich den Schleier gezogen hattest, daß kein anderes Menschenauge sie sehen konnte - in gleicher Klarheit steht das Alles vor seinem Auge. Und der, in dessen Gedächtniß auch nicht eines deiner Werke untergegangen ist, der ist dein Richter, Mensch! und hält die Wagschaale in seiner Hand, und wird sie wägen. Die Werke der Finsterniß wird er auf die eine Schaale legen, und die Werke des Lichts auf die andere. - Mit demantenem Griffel muß die Wahrheit, daß Gott Richter ist, in die Menschenbrust eingegraben seyn, die Wahrheit, daß vor Gott und seinem Throne keines unserer Werke vergessen wird; denn soweit ihr auch über die Erde hin geht, unter allen Völkern der Erde findet ihr ihre Kunde. In Bildern haben sie davon gesprochen, bald reden sie von dem engen, schmalen Brückenpfade, über den die Gestorbenen werden wandeln müssen, bald von den Wagschaalen, welche die Rechte der Gerechtigkeit hält, bald von dem großen Buche, in welchem die Werke der Menschen geschrieben stehen. Wie ihr denn auch in einem Buche des Neuen Testaments leset: „Und ich sahe die Todten, beide groß und klein, stehen vor Gott, und die Bücher wurden aufgethan, und ein andres Buch ward aufgethan, welches ist das Buch des Lebens, und die Todten wurden gerichtet nach der Schrift in den Büchern nach ihren Werken.“ Wohl ist es ein Bild, aber das Bild bildet die Wahrheit ab.

Und wie unsere Werke uns nachfolgen vor dem Throne Gottes, so folgen sie uns nach in der eignen Brust. Brüder, der Ausspruch des Dichters lautet erschütternd: „Auswendig lernen kann der Mensch Alles, was er will, nur nicht vergessen.“ O wie viel Mancher darum geben würde, wenn er vergessen könnte! O wie viel Judas darum gegeben hätte, das einzige Wörtlein vergessen zu können: Verräther, Verräther deines Herrn! Aber weil er es nicht vergessen, weil er sein Gedächtniß nicht vernichten konnte, so hat er sich selbst vernichtet. Dieses Gedächtniß des Gottlosen ist es, was die Schrift mit dem gräßlichen Bilde des Wurmes bezeichnet, der nicht stirbt, des Wurmes, der tiefer und tiefer bohrt. Judas, dich selber hast du vernichten können, aber dein Gedächtniß hast du nicht vernichten können, und wie hier in der Zeit, so schreit es dort in der Ewigkeit: Verräther, Verräther deines Herrn! - Nicht Alles, sagten wir, kann der Mensch vergessen, was er will, aber Vieles kann er vergessen, und Vieles, Vieles von unsern schwarzen Werken ist vergessen worden und untergesunken in der Tiefe unserer Brust: und doch ist auch dieses Vergessen nur ein Schein; eigentlich müssen wir sagen: der Mensch kann nichts vergessen. Ihr habt ja wohl Alle aus Erfahrung kennen gelernt, was für ein wunderbares Ding das Gedächtniß ist, wie so manches oft in den Fluthen der Vergessenheit untergegangen zu seyn scheint, und unversehens auftaucht; und was wir zuweilen, wenn wir mühsam etwas zurückzurufen suchen, zu sagen pflegen: vergessen habe ich es nicht, ich kann mich aber nicht darauf besinnen, dasselbige gilt von Allem, Allem, was je in unserm Leben vorgekommen ist. Hat nicht der Eine und der Andere unter euch es erfahren, wie oft unwillkührlich irgend eine Scene aus der frühesten Kindheit, die längst vergessen zu seyn schien, vor seinem Geiste wieder auftauchte? Habt ihr nicht von jener Erscheinung in den Zuständen des Hellsehens vernommen, wo das wunderbare, zauberische Licht, das dem Menschen in solchen Zuständen leuchtet und die Zukunft ihm erhellt, auch zugleich seinen Strahl bis weit zurück in die Tage der Kindheit wirft? Erschütternde Wahrheit: Eigentlich kann der Mensch nichts vergessen, sondern gleichwie wenn im Schlafe die ganze Tageswelt vergessen scheint, und doch wieder in dein Gedächtniß eintritt, wenn der Morgen kommt, so wird sichs finden, daß du nichts vergessen hast, und daß deine Werke allzumal dir nachgefolgt sind in deiner eignen Brust!

Begreift ihr es, welche ernste Wichtigkeit die Wahrheit, daß alle unsre Werke uns nachfolgen, für den hat, dessen Werke Werke der Finsterniß sind? Hier konnte er sie vergessen, wenigstens zum Theil vergessen, dort werden sie ewig vor ihm offenbar werden. Sehen wir, meine Freunde, wie derjenige Mensch gequält und zerrissen wird, der das eine oder das andere Werk der Finsterniß nicht zu vergessen vermag, also daß die Schrecken des Gewissens, wo die Buße nicht eintritt, bis zur Verzweiflung und zum Selbstmorde hintreiben können; so kann, wenn wir andrerseits so Viele, welche die Werke der Finsterniß thun, in Ruhe und Wohlbehagen leben sehen, der Grund davon nur darin liegen, daß es ihnen gelingt, ihre eignen Werke zu vergessen: die Zerstreuung der Sinnenwelt und des täglichen Geschäftslebens kommt ihnen zu Hülfe. Ein buntes Bilderspiel bringt jeder Tag des Sinnenlebens dem Auge: so kann er ja wohl darüber vergessen das Schauspiel des Ungewitters in seiner eignen Brust. Wie eine brausende Katarakte rauscht der Strom des Geschäftslebens vor seinem Ohr: so kann ja wohl dieses Ohr die mahnende Stimme im Innern überhören. Aber, über das bunte Schauspiel wird der Vorhang herabfallen, und die Katarakte wird erstarren und stillstehen, - o wie dann die lang überhörten Töne werden wieder wach werden! Den Wurm und die Flammenqual, ihr braucht sie ja nicht bloß außer dem Menschen zu suchen, der Wurm und die Hölle werden in seinem Herzen seyn. -

Das sagen wir von solchen, die ohne Gott gelebt haben in der Welt. Aber wie denn wird es mit euch seyn, ihr Gesegneten des Herrn, ihr Kinder des Lichts, die ihr treu gestrebt habt, in dieser Welt zu wandeln, wie unser Herr auch gewandelt ist? Ihr, die ihr des Lichtes Kinder geworden seid - hat auch für euch noch der Gedanke etwas Drohendes, daß unsre Werke allesammt mit uns hinüberziehen werden? O es ist ja wohl gewiß, daß, wenn ihr alle, ihr treuen Christenseelen, die ihr lebendige Reben am Weinstocke gewesen seid einst werdet Flügel nehmen, eurer Heimath zuzueilen, eine Heerschaar von Werken des Lichts mit euch hinüberziehen wird in das Jenseits, gleichsam eine heilige Schaar von Engeln Gottes. O es ist ja wohl gewiß, daß auf den, der einmal ein lebendiges Glied des Herrn ist, heiligende Ströme herniederfließen müssen von Christo, seinem Haupte, und daß an solchen erfüllt wird, wozu ihr Heiland nach seinen eigenen Worten sie gesetzt hat, daß sie „viel Frucht bringen!“ In jedem Christenleben werden Kämpfe der Selbstverleugnung gekämpft worden seyn, von denen niemand weiß, als das Auge, das ins Verborgene sieht. In jedem Christenleben werden geistliche und leibliche Wohlthaten geübt worden seyn, von denen kein Auge weiß, als das, welches ins Verborgene sieht. Und alle diese Werke des Lichts werden sie selber vergessen haben, wenn sie vor der Schranke der Ewigkeit stehen werden; denn das gehört zur kindlichen Einfalt im Christenleben, daß man an seine eignen guten Werke nicht weiter denkt. Wie aber die Werke der Finsterniß, so werden auch die Werke des Lichts jenseits wieder in das Gedächtniß der Christen treten. Habt ihr gelesen, wie dort der Herr im Gleichnisse zu den Gesegneten des Herrn sagt: Kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt; denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist, ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränket! und wie diese Kinder erstaunt fragen: „Herr, wann haben wir dich hungrig und durstig gesehen?“ So, kann man sagen, werden christliche Seelen verwundert seyn, wenn man ihnen ihre eignen guten Werke vorführt. Die christliche Sonne sendet ihre Strahlen aus nach allen Seiten, ohne selbst davon zu wissen, und das ist ein ganz unterscheidendes Kennzeichen christlicher Tugend von aller andern, daß sie in Engelseinfalt von sich selber nichts weiß. Ganz gewiß also dürfen wir hoffen, geliebte Christenseelen, daß wenn dort die Vergangenheit uns sichtbar werden wird, und sich um uns herstellen werden die Werke unsers vergangenen Lebens, wir manchen Engel Gottes darunter finden werden; aber - werden keine Werke der Finsterniß darunter seyn? Wer von uns wagt nein zu sagen? Sie werden darunter seyn, es werden ihrer viele darunter seyn. Denn mit Jacobus bekennen wir gern: „Wir fehlen alle mannichfaltig“ und mit Johannes sprechen auch wir: „So wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst!“ Und wie nun steht es mit diesen Sünden des Christenlebens? Es ist wahr, mit der Sünde im Christenleben verhält es sich nicht mehr, wie mit der Sünde außer demselben. Je mehr wir nämlich recht an unserm Herrn hangen, desto mehr kommt es mit uns dahin, daß eigentlich nicht mehr wir selbst die Sünde thun. Des Christen innerster Trieb geht zu Gott hin; er selbst thut die Sünde nicht mehr. Wie eine fremde Gewalt nur überfällt sie ihn, und hat sie ihn überfallen, o da kommt zugleich die heilige Wehmuth, mit deren Thränen er sie wieder hinwegwischen möchte - wie Augustinus sagt: „Christen thun nicht mehr Sünde, sondern leiden sie nur!“ Insofern nun unsre Sünde würklich so beschaffen ist, so hat sie freilich nicht mehr die schwarze Gestalt der Sünde des natürlichen Menschen, und kann uns nicht mehr verdammen; immer aber bleibt sie noch ein Werk der Finsterniß, das gerichtet werden muß, und daran eigne Schuld haftet. Denn warum anders mußt du die Sünde noch so viel leiden, als weil du noch nicht ganz liebest? Liebe Jesum mehr, und du wirst weniger die Sünde zu leiden brauchen! So haftet denn allerdings auch an diesen Sünden des Christen die Schuld. Ach, und wären nur alle Sünden dieser Art! Aber saget, wer wäre unter uns, der nicht bekennen müßte, daß dann und wann sich auch wohl noch eine Lust gezeigt hat, von der er gestehen mußte: Mein Herz ist darin? So giebt es denn allerdings auch für den Christen Werke der Finsterniß, die ihm nachfolgen werden; so hat denn auch der Christ noch ein Gericht zu fürchten, und Christen sind es ja gewesen, denen der Apostel zuruft: Darum fleißigen wir uns auch, wir sind daheim oder wallen, daß wir ihm wohlgefallen. Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf daß ein jeglicher empfange, nach dem er gehandelt hat bei Leibes Leben, es sei gut oder böse.„ -

So können wir es denn nicht bezweifeln, auch für uns, die wir an den Namen Jesu glauben, wird die nächste Zukunft nach diesem Leben sich nach dem Maaße bestimmen, in welchem wir treu hausgehalten haben mit dem Gute, das uns anvertraut war, nach der Beschaffenheit der Werke des Lichts und der Finsterniß, die uns nachfolgen werden. Daß wir nicht verdammt werden, das wissen wir; denn wir sind Glieder jenes Heiligen Gottes geworden, der zu Gerichte sitzen wird. Wie kann er seine eignen Glieder verdammen? Aber richten wird er uns und seine Kronen vertheilen, je nachdem wir des Glaubens Früchte gebracht haben, so daß denn also auch der christliche Wandel geführt wird mit Früchten, wie dessen die Apostel des Herrn Zeugen sind! wie denn auch ein Paulus, der da sagen konnte: „Mir ist durch Christum die Welt gekreuzigt, und ich der Welt,“ wiederum sagen kann: „Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht, daß ich es ergriffen habe; Eines aber sage ich: ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich nach dem, was vorn ist.“

Ihr habt, Geliebte, den Ernst der Mahnung begriffen, welche aus den Gräbern der euch Vorangegangenen euch entgegenhallt. Ihr seid besorgt um jene; o glaubt mir, noch viel mehr sind sie besorgt um euch! Denn euch sehen sie noch auf dem Saatfelde, sie aber sind auf dem Erndtefelde. Was sie betrifft, so wollen wir uns dessen getrösten, daß wir wissen, sie sind in keine andern Hände gefallen, als in die Hände dessen, der unser Gott und Vater ist; wollen wir denn nicht vertrauen, daß sein Thun eitel Licht und Gerechtigkeit seyn wird? Ja, was noch mehr ist, wir wissen, daß der Vater dem Sohne das Gericht übergeben hat, daß also ihr Gericht in den Händen dessen liegt, von dem geschrieben steht, daß „er versucht ist, gleich wie wir allenthalben“ und darum ein barmherziger Hoherpriester geworden. Aber sie, die Vorangegangenen, die auf dem Erndtefelde sind, sind besorgt um euch, die ihr auf dem Saatfelde seid. Ach, könnten sie, in euren Träumen würden sie euch umschweben, aller Orte würden sie euch zurufen: Kindlein, des Menschen Werke folgen ihm nach, wenn er stirbt! Kindlein, des Menschen Werke folgen ihm nach, wenn er stirbt! Kindlein, des Menschen Werke folgen ihm nach, wenn er stirbt!!“ Darum wendet eure ganze Sorge hin zu dem Seelenheile derer, die euch noch geblieben sind, zu eurem eignen Seelenheil. Ja, Geliebte, wollt ihr ihnen noch einen letzten Dienst erweisen, o so wende sich eure Liebe verdoppelt vom Andenken an die Todten zu dem Andenken an die noch Lebenden zurück! - Unsre Besorgniß für das Seelenheil der Dahingeschiedenen hat wohl oftmals auch die Anklage unsers eignen Gewissens zur Ursache, daß wir ihnen mehr hätten seyn können. Wenn ein Mensch auf der Todtenbahre erblaßt vor uns liegt in seinem Leichenschmucke, o wie dann erst die Erinnerungen an alles das, was wir ihm hätten sein sollen und nicht gewesen sind, in unsrer Seele aufwachen! Ach, weinen wir dann oft, könntet ihr wiederkommen, geliebte Verblichene, ich wollte euch mit einer neuen Liebe lieben. Sie kommen nicht wieder; aber vom Himmel her weist ihr Finger auf Alle, die euch Gott noch gelassen hat. O wenn wir an diesen unsere Treue verdoppeln, der Gatte am Gatten, Bruder an Bruder, Freund an Freund - o wie dann aus der Thränensaat für die Todten am heutigen Tage eine schöne Freudenerndte für die Lebendigen hervorgehen würde! -

Tholuck, August - Predigten über Hauptstücke des christlichen Glaubens und Lebens, Band II.

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