Tholuck, August - Luc. 20,37.38. "Vor Gott leben alle Todten." Am Todtenfeste

Tholuck, August - Luc. 20,37.38. "Vor Gott leben alle Todten." Am Todtenfeste

Freunde in Christo! Wir begehen am heutigen Tage ein Fest, über dessen wahre Bedeutung nur Wenige in der evangelischen Kirche sich und Andern eine deutliche Rechenschaft zu geben wissen. Als das vorjährige Fest an derselben Stätte uns versammelte, habe ich es versucht, den dunkeln Vorstellungen und Gefühlen, welche hierüber bei uns obwalten, Worte zu geben, habe ich versucht, diejenige Bedeutung, welche eine Todtenfeier in der evangelischen Kirche allein haben kann, euch darzulegen. Laßt mich voraussetzen, daß die Erinnerung daran noch jetzt in den Herzen lebendig sei. Nur das Eine laßt mich abermals erwähnen, daß das Todtenfest im Sinne der evangelischen Kirche eigentlich niemals etwas Anderes seyn könne, als ein Todesfest, ein ernstes Fest, an welchem der Tod für uns als Prediger auftritt. Diesen Prediger wollen wir also auch heut vernehmen, und es leite uns dabei des Herrn Wort, das wir im 20. Cap. Lucä im 37 - 38. V. aufgezeichnet finden in folgenden Worten: „Daß aber die Todten auserstehen, hat auch Moses gedeutet bei dem Busch, da er den Herrn heißet: Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs. Gott aber ist nicht der Todten, sondern der Lebendigen Gott; denn sie leben ihm Alle.“

Nicht bloß aus dem alten Bunde im Allgemeinen, aus Mosis Schriften zu zeigen, daß der Menschengeist ewig sei bei Gott, hatten die an der Unsterblichkeit zweifelnden, und an allen übrigen Büchern des alten Bundes, mit Ausnahme der Bücher Mosis, irre gewordenen Sadducäer dem Heilande aufgegeben. In der That ließ ein unzweifelhafter Ausspruch hierüber aus dem Gesetze selbst sich nicht nachweisen. Wohl mag erleuchteten Seelen in Israel das Bewußtseyn über diese große Wahrheit nicht minder aufgegangen seyn, als uns; stand doch mit unmißverstehbaren Worten in ihrem heiligen Buche geschrieben, daß Henoch zu Gott genommen worden sei, dieweil er schon hienieden „ein göttliches Leben geführt.“ In dem Volke im Ganzen ist aber das Bewußtseyn hierüber nur lebendiger und allgemeiner geworden in dem Maaße, als das Verlangen und die Hoffnung auf den Messias lebendiger und allgemeiner wurde, durch welche das wahrhafte, diesseits und jenseits dauernde Leben dem Menschen zu Theil wird. Mit der allgemeinen Erwartung des Messias wurde auch das Bewußtseyn einer Auferstehung der Todten beim Anbruch seines verklärten Reiches allgemein. Wie sollten aber nicht die tieferen Gemüther auch vorher zu dieser Ahnung erwacht seyn, welche verstanden, was in einer Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen schon in diesem Leben liegt? Ist es erst mit einem Menschen zu einer solchen Gemeinschaft mit Gott gekommen, daß er in Wahrheit auszurufen vermag: „Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde?“ so mag man wohl sagen, es ist unmöglich, daß ein solcher glaube, daß mit dem Tode Alles aus sei. In, dieser Gemeinschaft selber wird er inne, daß er der Vergänglichkeit enthoben sei. - Es ist diese Wahrheit, die in unserer Stelle liegt; und zugleich haben wir auch in ihr ein Beispiel von jenem tieferen Blicke des Erlösers in die Schriften des alten Bundes, wie sein Auge auch die leisesten Züge der Wahrheit aufzufinden und zu deuten weiß. „Daß die Todten auferstehen, sagt er, hat auch Moses gedeutet“ - nicht daß er es in Klarheit ausgesprochen, aber daß er es angedeutet für den, der den Geist hat, sagt er. Und zwar hat er es angedeutet, wenn er von dem Gotte spricht, der zu den Patriarchen in ein so nahes Verhältniß sich gesetzt hat, daß er in einem besondern Sinne sich den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nennt - Gott aber ist nicht ein Gott der Todten, sondern der Lebendigen. Der, welchen ein David in der Gemeinde Israels lobte mit den Worten: „Gelobet seist du, Herr Gott Israels, ewiglich; dir gebühret die Majestät und Gewalt, Herrlichkeit, Sieg und Dank, denn Alles, was im Himmel und auf Erden ist, das ist dein!“ - sollte dieser majestätische Gott sich den Schirmherrn und Gott eines Menschen nennen, der nach siebenzig Jahren in den Staub dahinsinkt, und dessen Stätte nicht mehr gekannt wird? Nimmermehr. Wer es jemals erfahren hat, was darin liegt, wenn eine Seele ausrufen darf: „Mein Gott und mein Herr,“ unverläugbar trägt der das Bewußtseyn in seinem Innern, daß der Menschengeist, der diesen Gott sein nennen kann, auch ewig ist, wie sein Gott. - „Ihm leben alle Todten,“ so setzt der Heiland hinzu, und diese Worte sind es, an welche unsere Betrachtung sich anschließen wird.

Gemeinde Gottes, weithin schalle es unter euch, das Wort aus dem Munde der Wahrheit: „Vor Gott leben alle Todten!“ Es leben alle Todten, die je gestorben sind. - So giebt es denn ein Leben in allen Menschengeistern, das, auch wenn sie sterben, nicht stirbt. Das ist die erste Wahrheit, auf welche diese Worte uns leiten. - Gott leben alle Todten, die je gestorben sind. So giebt es denn ein Auge Gottes über allen Menschengeistern, das, auch wenn sie sterben, sich nicht schließt. - So giebt es eine verhüllte Welt neben und um allen Menschengeistern, die erst, wenn sie sterben, sich enthüllt. Das sind die andern zwei Wahrheiten, welche sich aus der Erwägung jener Worte uns ergeben.

Ich sage: es giebt in allen Menschengeistern ein Leben, das, auch wenn sie sterben, nicht stirbt; denn Christus spricht: „Vor Gott leben alle Todten.“ Wohl giebt es Geschöpft ohne Zahl, die kein anderes Leben in sich tragen, als welches im Tode für immer stirbt, und alles Leben, das im Tode für immer stirbt, es hat seine Bestimmung erreicht auf dieser Erde, es hat seinen Zweck erfüllt innerhalb der Schranken dieser Welt und darum ist ihm ein Ziel gesetzt. Wenn aber im Menschengeiste ein Leben liegt, das auch im Tode nicht stirbt, wenn es wahr ist, daß „alle Todten leben,“ so kann auch das Ziel ihres Daseyns nicht innerhalb der engen Schranken dieser Erde liegen, so ist der Menschengeist ein Fremdling auf der Erde, und seine Heimath ist die Ewigkeit. So laßt denn, Geliebte, an dem Tage, welcher der Betrachtung des Todes geweiht ist, in Erwägung der ausgesprochenen Wahrheit uns ernst und einfach die Frage vorlegen: leben wir als Menschen in dieser Welt, deren Heimath die Ewigkeit ist? Und zwar laßt mich bemerken, daß diese Ewigkeit, von der hier im christlichen Sinne die Rede ist, nicht bloß jener Abschnitt ist, der hinter der Zeit liegt, nicht bloß der leere Begriff einer Fortdauer, deren Wesen wir nicht wüßten; das ewige Leben im Sinne des Evangeliums, es bezeichnet ja auch das, was dereinst in der Ewigkeit erscheinen soll, jenes vollkommene Gottesreich, in dem, wie der erhabene Gesang des Psalmisten sagt, „Gerechtigkeit und Wahrheit sich küssen sollen“, jenes Reich, von dem der Prophet verkündet, daß man „in diesem Lande keinen Frevel mehr hören soll, noch Schaden oder Verderben in seinen Grenzen, in dem die Sonne nicht mehr des Tages, und der Glanz des Mondes nicht mehr bei Nacht leuchten soll, in dem Gott, der Herr, das unvergängliche Licht der Menschen seyn soll.“ Dieses Reich ist die wahre Heimath des Menschen, ist die Ewigkeit, dahin des Christen Herz sich richtet, und in dem Maaße, als es sich dahin richtet, zieht dieses ewige Reich auch in die Zeitlichkeit ein, und die Erde wird zum Himmel. Christen, während ihr auf Erden wandelt, lebet euer Herz in dieser Heimath? während auf Erden euer Werk ist, ist im Himmel euer Ziel? während auf Erden eure Last ist, ist im Himmel euer Trost?

Ja wohl ist der Schauplatz, auf dem wir wandeln, ein Land der Fremde; denn es ist die sinnliche und vergängliche Welt, in der wir nur reisen sollen für die unsichtbare und unvergängliche. Verflochten ist unser geistiges Leben in die nieder n Bedürfnisse der Sinnlichkeit, und tief kann es einen demüthigen, wenn man den Blick darauf richtet; wenn man etwa den Blick darauf richtet, wie der, welcher göttlichen Geschlechts ist, die Furche der Erde in saurem Schweiße durchschneiden muß, bloß um ein Stück Brot zu gewinnen, oder etwa, wie die spielende Mücke, wie der fallende Regentropfen den Geist, der die Gedanken der Ewigkeit denkt, in seinem Fluge plötzlich aufhält und in den Staub zieht. Aber über alle dem kann doch, während wir auf Erden wandeln, der Geist in seiner Heimath leben und das Herz seyn, wo unser Schatz ist. Geliebte, könnet ihr nun sagen, daß in Wahrheit in allem euren sinnlichen Treiben das Herz in eurer Heimath, der Ewigkeit, ist? Ja, wen Christus frei gemacht hat, der wandelt auf Erden, und lebet im Himmel. Wie ein Mensch in der Fremde, der daheim Weib und Kind erwartet und den friedlichen Heerd und die Flur seiner Jugend, wie ein solcher Mensch dahinwandelt durch die Fremde, während sein Herz daheim ist; so wandelt, wen Christus frei gemacht hat vom Dienste der Vergänglichkeit, dahin durch den Reiz des sinnlichen Lebens, das uns umfängt, und sein Herz ist da, wo sein Schatz ist. - Eines solchen Menschen Werk ist auf Erden, er durchforscht die Berge in der Tiefe und die Wolken in der Höhe, mit Meißel und Hammer baut er sich ein Haus auf der Oberfläche, ordnet Staat und Gesetze in der sichtbaren Welt: sein Werk ist auf Erden, aber sein Ziel ist im Himmel; denn was er bei all' diesem Werk vor Augen hat, es ist das unbewegliche Reich, da „Gerechtigkeit und Wahrheit sich küssen,“ dem will er zur Erscheinung verhelfen in der sichtbaren Welt. Wohlan nun, seid ihr Menschen, deren Werk auf Erden, und deren Ziel im Himmel ist? - Wohl habt ihr Last im Tagewerk der Erde - Menschen, deren Heimath die Ewigkeit ist, und wo suchet ihr euren Trost? Ach, wie sie de n Trost immer nur wieder da' suchen, wo ihre Last ist, und darum die Last selber nicht los werden! Brüder, unser vollkommener Trost wird freilich nur dann da seyn, wenn das Reich Gottes in seiner Vollendung wird gekommen seyn; aber wenn von diesem Reiche geschrieben steht, daß sein Friede sei, wie ein großer Strom, 0 wahrlich, so muß ein Mensch, eine menschliche Gemeinschaft, in welcher das Reich Gottes auch nur dem Anfange nach gekommen ist, doch schon reich an Frieden seyn, und wenn der Strom im Lande der Heimath fließt, so muß wenigstens ein Bach des Friedens auch das Land der Fremde bewässern können.

Wohlan nun, Erlösete Jesu Christi, spricht euer Haupt und Heiland, daß alle Todten leben, unvergänglich leben, so lebet denn als Menschen, deren Leben im Tode nicht stirbt, und deren Heimath die Ewigkeit ist!

Gott leben alle Todten, hat der Heiland gesagt, und hiemit ausgesprochen, daß es ein Gottesauge über allen Menschengeistern giebt, das auch, wenn sie sterben, sich nicht schließt. O Geliebte, was ist der Gang in den Tod für einen Menschen, der den Glauben nicht hat, für ein trauriger Gang! Wenn der Sterbende den letzten Blick wirft auf Alles, was er dreißig, fünfzig, siebzig Jahre lang sein nannte, wenn diejenigen um ihn her stehen, die seine Hand hielten, so oft er fallen wollte, und seine Stirn trockneten, so oft er den Schweiß der Sorge vergoß, wenn er diese stehen lassen muß um die entseelte Hülle und der Geist nun allein seine Wallfahrt antreten soll in das weite, ferne Land - nackt und einsam; wenn ernst und leise der Tod sein schauriges Flügelthor öffnet, und der Geist nun eintreten soll in ein unendliches, aber unbekanntes Land, ist es ein Wunder, wenn der Gedanke an den Tod, ohne Glauben gedacht, Schauder erweckt? Wie wird dann unwillkührlich das einsame, kalte Grab zum Sinnbilde des Landes, in das der Geist nach dem Tode eintritt, und die zagende Seele singt:

Das Grab ist tief und stille.
Und schauerlich sein Rand,
Es deckt mit tiefer Hülle
Ein unbekanntes Land!

O wenn ich zuweilen einsam unter dem weiten Nachthimmel stand, wie hat sich mir da der Gedanke aufgedrängt: wenn die, in deren unruhige Geselligkeit keine stille Stunde einen Einschnitt macht, und die nur auf Erden Freunde haben, wenn die werden einsam eingehen durch die Pforte der Ewigkeit, und kein Freund der Erde wird ihr Wegweiser seyn! O wie ist ein weiter, stiller Nachthimmel ein so mahnungsvolles Bild des stillen Landes, in das man durch den Tod geht! Aber ihr frommen Seelen, deren bester Freund nimmer auf Erden gewesen ist, ihr werdet so einsam und verlassen nicht hineintreten in das stille Land. „Ihr seid hinzugekommen - so lautet das Wort der Offenbarung an die Gläubigen - zu dem Berge Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, zu dem himmlischen Jerusalem und zu der Menge vieler tausend Engel und zu der Gemeinde der Erstgebornen, die im Himmel angeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über Alle, und zu den Geistern der vollkommnen Gerechten und zu dem Mittler des neuen Testaments, Jesu.“ Euch werden die früher Vollendeten und die ungefallenen Himmelsbürger, euch werden sie in dem stillen Lande entgegen gehen bis an seine Grenzen. Sie wissen, wen dort vor Allen euer Herz sucht, und werden zum Freunde eurer Seelen euch hingeleiten mit dem Triumphliede, das dem Ueberwinder gesungen wird, und Gottes Auge wird über euch wachen dort, wie hier, über allen euren Bahnen; denn - Gott leben alle Todten! O tröstender Gedanke, daß, wenn des Frommen Auge im Todte bricht, seines Gottes Auge auch dann noch wach bleibt, wach bleibt über ihm in alle Ewigkeit. Tröstender Gedanke für die Frommen, aber auch schreckender Gedanke für das Weltkind! Hier hat Gottes Auge ihn angeblickt, von Gewölk umhüllt, es lag die Sinnlichkeit zwischen ihm und diesem Gottesauge. Das Gewölk der Erde wird zergehen, wenn er stirbt, und Gottes Auge wird dann ihn anblicken unverhüllt. Jeder seiner Strahlen wird ein Blitz seyn in das Herz, was ihm entfremdet war. Hier konntest du dich zerstreuen, konntest das Reich der ganzen sichtbaren Welt zwischen dich und deinen Gott schieben; dort mußt du ihn ansehen. Hier konntest du vergessen, daß der Spruch in der Bibel steht: „Es ist erschrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen,“ dort wirst du seine Wahrheit erfahren. - Gott leben die Todten, wie die Lebendigen. Er bleibt derselbige, während die Menschen ihre Wohnung verändern. Welch' schreckender Gedanke für Alle, die durch das bloße Sterben selig zu werden hoffen, durch die bloße Veränderung des Ortes, anstatt sich selbst zu ändern. Gott bleibt dort derselbige, wie hier. „Sei heilig, Herz, sei heilig, wenn du willst selig seyn,“ tönt ewig von seinem Throne. Welch' schreckender Gedanke auch namentlich für die, welche mit eigener Hand dem Leben auf Erden ein Ende machen, weil sie die Hand Gottes, wie sie auf Erden über ihnen waltete, nicht ertragen wollten, und nun in die Hände desselbigen Gottes fallen, des Gottes, von dem geschrieben steht: „Es ist erschrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.“ Mit welcher tiefen Wahrheit hat von diesen Unglücklichen der Dichter gesungen:

Er glaubte sich und seine Noth
Zu lösen durch den Tod.
Wie hat er sich betrogen!
Hier stand er hinter'm Busch versteckt,
Dort steht er bloß und unbedeckt,
Und Alles, was ihn hier geschreckt,
Ist mit ihm hingezogen,
Wie hat er sich betrogen!

Von dem Allen steht freilich unser Auge Nichts. Hat aber Christus die Wahrheit geredet: Gott leben alle Todten!: so giebt es ja eine verhüllte Welt neben und um uns, die erst, wenn wir sterben, sich enthüllt, so giebt es um und neben der sichtbaren Welt eine unsichtbare, die, wenn sie auch verborgen ist vor dem Menschenauge, doch da ist vor dem Auge Gottes. So laßt uns denn zum Schluß noch das Tröstliche, das Erhebende und auch das Demüthigende betrachten, was in dieser Wahrheit liegt.

Laßt uns ihr Tröstliches betrachten: Gott leben alle Todten! So ist denn noch Keiner, der gestorben ist, vergangen. So ist denn noch Keiner vergangen von Allen, die von Anfang an gewesen sind! Sie Alle, nach denen unser Auge sehnend hinabsieht in die Vergangenheit, die Patriarchen und die Propheten alle, die Apostel und die Märtyrer allzumal, und Er selbst, das Haupt, auf den die Welt von Anfang an geharret, sie sind gegenwärtig vor Gottes Augen; und auch sie, die unserm Herzen auf Erden theuer waren, und die jetzt unser Auge an der Stätte nicht mehr findet, wo es sie sucht, - sie sind nicht vergangen, sie sind gegenwärtig vor dem Auge Gottes. Und sie sind gegenwärtig in der verhüllten Welt, die neben und um uns ist, o Christen, warum wollt ihr sie Todte nennen? O wie ist das Wort todt so kalt, wie greift es so eisig an das Menschenherz! Nennt sie denn die Heimgegangenen, die Verewigten, die Geschiedenen, nur nicht die Todten; denn - Gott leben alle Todten! Wenn die, welche wir lieben, von uns geschieden sind in ein fremdes Land der Erde, so ist unser Herz ruhig, warum? denn - sie sind noch da. Aber, Christen, auch alle eure Todten sind noch da - wo da? - da, wohin das Auge des Glaubens sieht, sie sind da, nur daß sie in der verhüllten Welt Gottes stehen, die neben und um uns ist, und auch Er ist noch da, der Herr über die Lebendigen und die Todten. Nicht bloß in der Vergangenheit auf Palästinas Bergen steht er, nein, er steht in der unsichtbaren Welt, die neben und um euch ist, und er ist euch gegenwärtig, wie kein Freund dem andern ist. Und wer von euch Glauben hat, der trockne fortan seine Thränen, denn - Alle, um die wir als um Todte weinten, sie sind noch da.

Tröstlich über alle Maaßen ist der Gedanke, daß in der verhüllten Welt, die neben und um uns ist, alle Todten noch da sind. Wie erhebend ist er aber auch, wenn wir erwägen, was damit zusammenhängt. Sie sind allzumal noch da, die von Anfang an das Pilgerkleid der Erde getragen haben, o welche Schauspiele müssen in der verhüllten Welt vorgehen, die neben und um uns ist. Welche Scenen des Wiedererkennens, welche Scenen des Erwachens, welche Entfaltungen und welche Entwickelungen, welche Gerichte der Beseligung, welche Gerichte der Verdammniß - eine verhüllte Geschichte der Menschheit neben der offenbaren, eine verborgene Geschichte der erziehenden Liebe Gottes neben der sichtbaren. Gott der Gnade und der Macht, du bist so überschwänglich groß in der Geschichte der Menschheit, die vor unsern Augen ist: o wie so groß wirst du uns erscheinen, wenn die verhüllte Welt vor unserm Auge ihre Schleier abwerfen wird!

Mit der Erhebung, die diese Aussicht uns gewährt, geht dann aber auch, Geliebte, die Demüthigung Hand in Hand. Wenn wir einen Blick auf unsere menschliche Wissenschaft werfen - wie der Mensch so eitel und selbstgefällig werden kann, wenn er in der Welt, die ihn umgiebt, oder von der Geschichte, die hinter ihm liegt, etliche Gedanken Gottes verstanden hat. Und wie wenig ist es, das wir auch von den Dingen der Erde verstehen. Ist alle unsere Wissenschaft doch nur, wie wer von einem großen Buche etliche Sylben entziffert hätte, den Sinn des Uebrigen aber nur dunkel ahnete. Und wenn wir nun erst denken an die verhüllte Welt und an die verhüllte Geschichte der Menschheit, die um und neben uns geschieht, und die nur Gottes Auge sieht - ein menschlicheres Bekenntniß ist nie in eines Menschen Mund gekommen, als des großen Apostels Wort, daß „unser Wissen Stückwerk ist.“ O ihr, die ihr der Wissenschaft obliegt, so diene denn diese heutige Andacht euch auch dazu, daß ihr mit tiefer Demuth das Werk betreibet, welches Gott euch angewiesen, dessen eingedenk, daß, wenn auch die Geheimnisse dieser Welt alle ihre Schleier vor eurem Auge abwürfen, eine verhüllte Welt übrig bleibt, deren Geheimnisse sich nur denjenigen enthüllen werden, welche Glauben gehalten und den guten Kampf gekämpft haben. Uns Alle aber, die wir an jene verhüllte Welt glauben, in der alle Todten Gottes leben, treibe die Sehnsucht nach ihrer Herrlichkeit dazu an, nachzuwandeln den Fußtapfen des Fürsten des Lebens, der dahin uns vorangegangen ist.

Gott, laß uns dein Heil schauen,
Auf nichts Vergänglich's trauen,
Nicht Eitelkeit uns freun!
Laß uns einfältig werden,
Und vor dir hier auf Erden
Wie Kinder fromm und fröhlich seyn.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/t/tholuck/hauptstuecke/tholuck_hauptstuecke_14.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain