Tholuck, August - Glaubens-, Gewissens- und Gelegenheitspredigten – 2. Tim. 3, 16-17.

Tholuck, August - Glaubens-, Gewissens- und Gelegenheitspredigten – 2. Tim. 3, 16-17.

In Christo Geliebte. Zu den Nennungen, die es zu einem wahrhaft gottgefälligen Leben nicht kommen lassen, hat in den meisten Zeiten der Christenheit auch die gehört, daß die Einen nach inwendiger Vollkommenheit des Herzens einseitig getrachtet haben, die Andern nach auswendiger Vollkommenheit des Lebens. Auf den Mittelpunkt haben die Einen einseitig ihr Streben gerichtet, die Andern auf den Umkreis. Wir haben ganze Zeiträume vor uns, wo die Treuen im Lande nur in ihren Klausen durch Beten und Herzensreinigung den Himmel haben erobern wollen, andere, wo der Schweiß der Arbeit für den Herrn, der Ruhm der erfüllten Lebenspflicht die Himmelsthür aufthun sollte. Nach einer von beiden Seiten fehlt es in den meisten Zeiten bei den Christen. Frage ich, auf welcher Seite am meisten bei denen, die unserer Tage zu den Treuen gezählt wer. den wollen, so möchte ich sagen - auf beiden Seiten fehlt es, bei den Einen mehr auf dieser, bei den Andern mehr auf jener. Zwei Klassen kann man jetzt unter den Christen unterscheiden: die Einen, denen man zurufen muß: zeige mir an den Früchten deiner Werke deinen Glauben! die Andern, denen man zurufen muß: zeige mir an deinen Werken die Wurzel deines Glaubens! die Einen, die über dem Umkreise den Mittelpunkt, die Andern, die über dem Mittelpunkte den Umkreis zu sehr aus dem Auge verlieren. Wir haben eine große Anzahl Christen, die zu einseitig danach fragen, wie es mit ihrem Glauben steht und um die Vollkommenheit des Lebens sich zu wenig kümmern und eine andere Anzahl, die sich alle Lebenspflichten vorhalten, aber die tägliche Erneuerung in Buße und Glauben vergessen. Auch unter der Jugend, die Christum ergriffen hat, geht es also. Da findet man solche - doch ist das die kleinere Zahl - die über den Forderungen christlicher Lebensvollkommenheit, die sie an sich selbst stellen und nicht erfüllen, den Muth verlieren, Christi Namen und Zeichen noch zu tragen, und ihnen gegenüber die große Zahl der Anderen, die nach ihrem schwachen ersten Ansatz zu Buße und Glauben so selbstzufrieden ausruhen als ob sie schon am Ziele wären. Ihr Treuen im Lande, die ihr am Bau der Kirche dieser Zeit arbeiten wollt, nehmt es daher zu Herzen, daß, wer ein rechter Christ seyn will, sich ebenso sehr täglich zu fragen hat, wie es mit der christlichen Vollkommenheit von Buße und Glauben im Herzen steht, als wie es mit der christlichen Vollkommenheit im Leben steht. Davon laßt mich euch heut predigen nach dem Wort des Apostels, das 2 Tim. 3, 16. 17 geschrieben steht.

Denn alle Schrift von Gott eingegeben ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit; daß ein Mensch Gottes sei vollkommen, zu allem guten Werk geschickt.

Dieser Ausspruch des Apostels legt uns zunächst ein Zeugniß darüber ab, als was für ein Buch wir die heilige Schrift anzusehen haben: für ein vom Geiste Gottes eingegebenes, oder wie der Grundtext es noch bedeutsamer ausdrückt - für ein vom Geist Gottes durchhauchtes Buch. Dann giebt unser Text Ziel und Zweck an, warum es von Gottes Geiste durchhaucht wird - um vollkommene Gottesmenschen aus uns zu machen, um zur Gerechtigkeit uns zu erziehen, und endlich giebt er Mittel und Weg an, wie es dazu kommt - dadurch daß dies Buch das Lehr- und das Besserungs- oder Bekehrungsamt an uns übt. Was nun daraus folgt, ist dies, daß wer ein rechter Christ seyn will, sich täglich eben so sehr zu fragen hat, wie es mit der Erneuerung von Buße und Glauben im Herzen steht, als wie es mit der christlichen Vollkommenheit steht im Leben.

Der Zweck, den das Wort Gottes an einem Menschen erreichen will, ist in den Worten ausgesprochen: „Alle Schrift von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit, auf daß ein Mensch Gottes werde vollkommen, zu allem guten Werk geschickt.“ Das ist Zweck und Aufgabe, wozu dieses Wort von Gottes Geist eingegeben worden zu Gottes Menschen will es euch machen, vollkommen und zu allem guten Werk geschickt. Das ist die christliche Vollkommenheit des Lebens. Nachdem, wie manche es sich vorstellen und darum wohl gar dem Christenthum gram werden, wäre ein Christ etwas ganz Apartes und Besonderes, das neben allem Anderen steht was ein Mensch ist; allein hier wird es uns gesagt: Christ seyn, das soll vielmehr eine Kraft seyn, wodurch man zu allem guten Werk geschickt wird. Christseyn, das soll also gute Hausväter machen und gute Hausmütter, gute Meister und gute Gesellen und Lehrlinge, gute Könige und gute Bürger, gute Lehrer und gute Schüler, gute Aeltern und gute Kinder. Habt ihr vielleicht gemeint, Christenthum sei bloß dazu fähig, eine Kirche zu bauen, deren Spitze sich oben in den Himmel hinein verliert? Nein, Christenthum soll und kann Staaten bauen und Städte, Künste blühend machen und Gewerbe, Ehre und Gedeihen geben und Freundschaften stiften: was nur ein gutes Werk ist, dazu kann das Christenthum einen auch geschickt machen. Wohl verlieren Kirchthurmspitzen sich oben in den Wolken, aber ist nicht das Fundament der Kirche in dem Erdboden gelegt? - Es ist wahr, daß, um das alles zu vermögen, was ich gesagt habe, noch mancherlei andere Gaben und Fertigkeiten dazu gehören außer dem Christenthum im Herzen, vieles was man von außen und durch Menschen lernen muß. Aber ausreichen thut das alles noch nicht und die Hauptsache fehlt, wo ein Mensch nicht auch zu Gott so steht, wie stehen soll, denn dadurch allein kommt man dahin, das alles fruchtbar zu machen in der Liebe, bekommt den Sinn und das Geschick das alles recht zu gebrauchen, wie es für Andere frommt. Gar Manche nun, auch von den Treuen, bleiben ganz allein bei dem Gottesmenschen stehen - und was weiter geschrieben steht, vollkommen und zu allem guten Werke geschickt. das übersehen sie. Das giebt denn solche Pietisten, die alles Andere als eine gleichgültige Sache stehen lassen und meinen, ob einer ein tüchtiger Bürger ist oder eine geschickte Hausfrau, ein in seinem Fach tüchtiger Lehrer und Studirender oder ein geschickter Handwerksmann, darauf komme nichts weiter an, wenn ich nur für mein Seelenheil gesorgt habe und ein guter Christ bin. Nein, sagt unser Text „vollkommen und zu allem guten Werke geschickt“ soll uns das Wort Gottes machen. Ist irgend eine Tugend, ist irgend ein Lob. ruft der Apostel an einer andern Stelle, dem denket nach. Wenn es heißt: Was für ein geschickter Arbeiter in seinem Berufe, was für ein tüchtiger Student, der an seinem Platze alles das ist, was ein rechter Student seyn soll - ist das etwa kein Lob und keine Tugend? Ist's eines, nun so heißt's auch in dem Stück zu euch Treuen: „ihr Treuen, dem denket nach“.

So sind dies denn, lieben Brüder, Worte, die jeden, der ein echter Christ seyn will, darauf hinweisen, täglich sich danach zu fragen, wie's mit der christlichen Vollkommenheit stehe im Leben, ob einer, daß ich so sage, seinem Herrn und Meister Ehre mache in allen Stücken, oder ob es heiße, wie Paulus von den Juden sagt: „um euretwillen wird der Name Gottes gelästert unter den Heiden“. Ich spreche davon, täglich sich danach zu fragen- - so möchte ich aber zunächst dessen gewiß seyn können, daß wir Christen sind, die überhaupt gewohnt sind, prüfende Fragen an sich zu richten! O Brüder, sind wir alle solche, welche kennen und üben, was die heilige Schrift und die Kirche die Pflicht der Selbstprüfung nennt? Behaltet ihr denn in der Zerstreutheit und Arbeit eures Lebens noch dazu eine einsame Stunde übrig? So wahr es ist, was der Prophet spricht, daß des Menschen Herz ist ein trotzig und verzagt Ding - wer mag es ergründen? - so gewiß muß ein Christenleben immer aufs Neue Stunden haben, wo das Senkblei ausgeworfen wird in diese Tiefen. Davon haben alle Heiligen geredet und geschrieben: „Prüfe mich, Herr und versuche mich, erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz“ hat David einmal über das andere Mal in den einsamen Stunden seiner Selbstprüfung gebetet, in den Stunden, wo niemand zwischen ihm war und seinem Gotte. „Ein jeder prüfe sein eigen Werk“ ruft Paulus, und abermals: „prüfet und versuchet euch selbst, ob ihr im Glauben stehet“. Aber die ins Ungeheure vermehrten Interessen und Zerstreuungen unserer Tage hatten schon vor den Ereignissen der letzten zwei Jahre die Menschen so ganz sich selbst aus den Augen verlieren lassen - nun sind diese letzten Zeiten mit ihren unerhörten Ereignissen hinzugekommen. Nun ist's so weit, daß selbst bei manchem Christen die Stunden der Selbstprüfung in Monaten und Jahren nicht vorkommen, vielleicht etwa einmal - bevor er zum Tische des Herrn tritt. Denn ist das nicht auch ein schöner Segen des Abendmahlsgenusses, daß wenigstens dann doch einmal für die gedankenlosen Christen eine Stunde, ein Tag kommt, wo die, welche sich selbst ganz vergessen hatten und abhanden gekommen waren, sich auf sich selbst besinnen? Sind nicht für manchen in Jahren die einzigen Stunden der Selbstbesinnung die, wenn die Kirche ihm das Wort des Apostels vorhält: „Ein jeder prüft sich selbst und so esse er von dem Brote!“

Und was und wie soll man prüfen? Unser Text spricht: ob und inwiefern du mehr und mehr ein Gottesmensch geworden bist, vollkommen und zu allem guten Werk geschickt. Dazu also wirst du aufgefordert, nicht allein nach innen den Blick zu richten, nicht allem auf den Quell, aus dem alle Werke stießen, sondern auf den Bach auch, der aus diesem Quell sich ergießt, auf alle Gebiete und Beziehungen des Lebens, in das dich Gott gestellt hat. Und wie steht es in dieser Hinsicht mit uns meine Brüder? Hält jeder von euch nach seinem Beruf und Stande es sich deutlich vor, wie er als Gottesmensch sich bewähren könne - der Beamte in seinen Pflichten als Beamter, die Mutter in ihren Pflichten als Mutter, die Tochter in ihren Pflichten als Tochter, ihr Studirenden in euren Pflichten als Studirende? Gewiß, ihr sprecht mit mir: einen Menschen zu sehen, der so ganz in seinem Beruf ist, was er seyn soll, das ist eine der schönsten, einer der wohlthuendsten Anblicke, und eben das ist es, was die Schrift nennt „sich als Gottesmensch bewähren vollkommen und in allen Stücken geschickt“. Kann etwas die treuen Christen in Mißachtung bringen, ist's nicht das, wenn sie treue Christen seyn wollen, ohne treue Väter und Söhne, treue Lehrer und Schüler, treue Berufsgenossen und Freunde zu seyn? Wo es nach allen diesen einzelnen Seiten und Beziehungen nun fehlt, das merkt man durchaus Nicht, so lange einer sich nicht ganz ausdrücklich darauf ansieht und ganz ausdrücklich die Frage danach an sich richtet. Das meine ich, - ich meine den prüfenden Blick nicht bloß auf den Mittelpunkt unsres Lebens richten, sondern im Umkreis ringsherum. Thut man das selbst nicht und thut einem auch kein Freund den Dienst, so kann man sein Lebelang hingehen in Selbstbetrug - es wäre denn, daß wo die Freunde alle schweigen, die giftigen Zungen der Feinde einem den Dienst erweisen. - Wie kann nun aber einer die Runzeln und Flecken seines Angesichts erkennen lernen, wo er gar keinen oder nur einen blinden Spiegel vorhält? Blinde Spiegel, theure Freunde, sind nun alle Tugendmuster und Vorbilder, die der Mensch aus seiner eigenen Phantasie sich selbst geschaffen hat. Das Wort nämlich, darin wir gerichtet werden sollen, darf durchaus nicht unser eigenes seyn, denn wo Verklagter und Richter in Einer Person: wo soll da der gerechte Urteilsspruch herkommen? Klar und lauter ist Ein Spiegel nur - der des Wortes Gottes. Von dem heißt es darum in unserem Texte, daß es uns gegeben sei zur Zucht d. h. zur Erziehung in der Gerechtigkeit. Es hält uns nämlich vor den Spiegel der Gesinnung gegen Gott und gegen Menschen, die ein wahrhaft bekehrter Christ haben soll. Hast du den Spiegel bei deinen Selbstprüfungen nicht zur Seite, so kannst du Jahrelang auf dein eignes Tugendmuster blicken und wenn du's würklich erreichtest, würde das Abbild nicht besser als das Vorbild seyn. So ungetrennt gehört Schrift und Selbstbetrachtung zu einander, daß Christen von jeher, wenn sie von Stunden der Selbstprüfung vor Gott gesprochen, darunter stets verstanden haben eine Prüfung an und nach dem Worte Gottes. Wenn es bei allen andern Spiegeln geschehen mag, daß der Mensch nach einer solchen Selbstprüfung wohlgemuth und selbstzufrieden von dannen geht: vor dem lautern Gottesspiegel wird aller Eigenruhm zu Schanden und wer da sich nicht dessen rühmen kann, der uns gegeben ist zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung, der wird zu Schanden.

Betrübniß, Schmerz und Selbstanklage, das wird das Ende jeder Selbstprüfung vor diesem Spiegel seyn, und zwar gerade dann am meisten, wenn der Blick nicht bloß in's Unbestimmte und Allgemeine hinausgeschickt wird, sondern auf die Treue im Kleinen sich richtet, in Haus und Hof, in Werkstätte und Studierstube, auf die Vater- und Bürger-, Gatten- und Kindertreue, auf die Lehrer-, Schüler- und Freundestreue, auf die Treue in all den besondern Lebensbeziehungen, in die uns Gott gesetzt hat, und man bei jeder einzelnen sich fragt: bin ich da ein Gottesmensch? Ein Häuflein giebt's nun auch unter den Treuen, ein Häuflein von Gewissenstreuen unter den Glauben streuen, bei denen jede Selbstprüfung traurig damit abschließt: ach es ist eben mit meiner Gerechtigkeit nichts und mit meinem Glauben nichts! Und was sollen wir zu solchem Bekenntniß sagen? das sagen wir: Meinst du deine eigene Gerechtigkeit - nun das wissen wir längst, daß durch des Gesetzes Werke kein Mensch gerecht wird. Sprichst du: aber wie kann der Glaube ächt seyn, der doch keine Werke zeigen kann – „zeige mir deinen Glauben aus deinen Werken“. Ja freilich muß der Glaube schwach seyn, der nur schwache Werke hat, aber ist denn etwa nur dem starken Glauben an den Sünderheiland verheißen, daß er selig macht, oder haben nicht auch die schon gläubigen Jünger gebeten: „Herr, stärke unsern Glauben?“ Hat Paulus Trost und Ruhe des Gewissens gefunden in den Werken, die aus seinem Glauben kamen? Hat er von sich behaupten können, daß er lediglich in und aus dem Glauben lebe? Wie heißt es vielmehr bei ihm? Nachdem er von sich selbst hat rühmen dürfen, was wenige von uns ihm nachzusprechen sich getrauen: „nun lebe nicht ich, sondern Christus lebt in mir. kommt nicht gleich das arme Sünderbekenntniß hinterdrein, das wir alle nachsprechen können: „was ich aber jetzt noch lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben des Sohnes Gottes, der mich geliebet hat und sich selbst für mich dahingegeben!“ - Mit deinem Glauben ist's nichts, sprichst du - ja wenn's der Glaube an deine Gerechtigkeit ist, so ist's nichts, was gehört da auch noch der Glaube dazu? die kannst du sehen. Was das Christenherz mit dem Glaubensauge erfaßt, das ist, daß auch den verlornen und ungerathenen Kindern Kindesrechte zugesprochen sind aus Gnaden.

Und das ist nun das andere Stück, worin ein anderer Haufe unter den Treuen es versieht. Wir nehmen den Spiegel Gottes wohl in die Hand, wir besehen uns nach oben und unten - trostloser legen wir ihn wieder nieder. Da fangen wir stückweise an uns zu bessern, hier ein Stück, da ein Stück, hier eine Tugend, da eine Tugend und immer Stückwerk und wieder Stückwerk. Statt dafür zu sorgen, daß der Kronleuchter in der Mitte hell brenne, damit das Licht in alle Winkel dringe, zünden wir die kleinen Lichtlein an in dieser und jener Ecke und in der Mitte bleibt es dunkel. Wer aber ein rechter Christ seyn will, hat nicht bloß täglich sich zu fragen wie es mit seiner christlichen Vollkommenheit des Lebens stehe, sondern auch mit der Vollkommenheit von Buße und Glauben im Herzen. Und das ist das andere Stück, das ich euch ans Herz zu legen habe. An euch wende ich mich jetzt, die ihr bei jeder neuen Selbstprüfung nur desto mehr über euch erschreckt, die ihr Gottesmenschen in allen Stücken werden möchtet, und die ihr euch immer wieder trotz alles eures Glaubens als Knechte der alten Sünden wieder findet. Den Ernst dieser Selbstprüfung möchte ich euch erhalten, aber die lähmende Angst möchte ich euch hinwegnehmen. Ich möchte gern eure Selbstprüfung fruchtbar machen. Ihr sollt von der Schrift euch nicht blos täglich das Ziel vorhalten lassen, wo es mit uns hin soll, sondern auch den Weg, auf dem wir dahin gelangen können. Zur Zucht d. i. Erziehung in der Gerechtigkeit ist sie uns als ein Spiegel gegeben, diese ihre Bestimmung ist jedoch in unserm Texte zuletzt gestellt und ist damit angedeutet, daß wer durch die Schrift zur Gerechtigkeit erzogen werden will, ein Mensch seyn muß, an dem sie zuvor ihr Amt der Lehre, der Strafe und der Besserung, d. h. Bekehrung geübt haben muß. Zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung oder Bekehrung und zur Erziehung in der Gerechtigkeit ist uns die Schrift gegeben, auf daß ein Mensch Gottes vollkommen werde, zu allem guten Werke geschickt. Hier habt ihr also das Ziel, wozu sie euch bringen will, dort habt ihr den Weg, auf den sie zu diesem Ziele euch führen will. Dieser Weg aber, auf dem einer dahin kommen kann immermehr ein solcher Gottesmensch zu werden, ist demnach immer nur derselbe Weg, auf dem man den Anfang damit gemacht hat, ein Gottesmensch zu werden. Es giebt nicht bloß eine Vollkommenheit des christlichen Lebens, zu der wir gelangen sollen, sondern auch eine Vollkommenheit christlicher Buße und Glaubens im Herzen, und das Wachsthum in dieser ist das Wachsthum in jener. Gerade über dem eifrigen Trachten nach der Vollkommenheit im christlichen Leben, vergessen manche ganz und gar, daß sie der täglichen Erneuerung in Buße und Glauben bedürfen: da kann dann ein solcher Christ noch so wenig Fehler machen in seinem Leben - sein ganzes Leben ist ein Fehler. In wahrhaftigem Glauben zu Jesu kommen, das ist die Besserung, in der du dich täglich aufs Neue bekehren mußt; und, wenn mau je länger je mehr von der Schrift unterwiesen wird und erfährt, wie viel zur wahren Gerechtigkeit einem noch fehlt, unter Flehen und Gebet der Taufe des heiligen Geistes theilhaftig werden - das ist die Erziehung in der Gerechtigkeit, unter der der innere Mensch täglich neue Kraft empfangen und erstarken muß. Das ist der Kronleuchter in der Mitte: wer diesem täglich neues Oel zugießt durch Erneuerung seiner Buße und seines Glaubens, der wird es mehr und mehr erfahren, daß sein Licht in alle Winkel dringt und helle macht wo es dunkel war. Seht nun, meine Brüder, wie die heilige Schrift es meint, wenn sie, die uns in so starken Worten bezeugt, daß es kein Gesetz giebt, das den Menschen lebendig machen könnte, und daß wir ohne Verdienst geschenkweise gerecht werden müssen aus Seiner Gnade durch die Erlösung, so in Jesu Christo geschehen - wie sie es meint, sage ich, wenn sie dennoch aller Orten verkündet, daß es „ein Gericht giebt nach den Werken, die wir bei Leibesleben gethan haben.“ Irret euch nicht, da ist kein Zwiespalt und Widerspruch der heiligen Schrift, als ob Jacobus nur die Werke predigte und Paulus nur den Glauben. Derselbe Jacobus, der da spricht: „zeige mir deinen Glauben aus deinen Werken“ der schreibt: „also ist Abrahams Glaube durch seine Werle vollkommen geworden“ - wie nämlich das Samenkorn vollkommen wird, wenn es zur Blüthe sich aufschließt. Und derselbe Paulus, der da schreibt, daß kein Fleisch durch des Gesetzes Werk gerecht werden mag, der hat geschrieben: „Gottes Werk sind wir, geschaffen in Jesu Christo zu guten Werken, daß wir darin wandeln sollen“ und abermals „die Beschneidung ist nichts und die Vorhaut ist nichts, sondern Gottes Gebote halten.“ Menschen Gottes werden, vollkommen und zu allem guten Werl geschickt, wie unser Text spricht, das ist das Ziel, zu dem der Sohn Gottes vom Himmel herabgekommen. Und auch Johannes wenn er predigt, daß Christus die Macht und Kraft gegeben Gottes Kinder zu werden allen, die an ihn glauben, was heißt das anders, als daß er die Macht uns geschenkt hat und daß das Ziel und der Zweck seiner Erscheinung in der Menschheit ist, vollkommene Gottesmenschen zu werden, zu allem guten Werk geschickt. Ja, und weil dahin der Glaube uns führen soll, weil gottgefällige Werke nur die Blüthen und Blumen sind, worin der verborgene Herzensglaube hinauswächst in die Welt und vor Gott und Menschen sich bewährt, darum giebt es auch für die Guten ein Gericht nach den Werken, welches in Wahrheit und Wesen nur ein Gericht ist über Schwäche und Stärke ihres Glaubens. Und wenn nun Gott selber an dem wie du gelebt hast, erkennen will, wie du geglaubt hast, wie sollte nicht deine Selbstprüfung an der Kraft deines Lebens für Christum eben die Kraft deines Glaubens an ihn zu prüfen haben? So kann denn kein Zweifel seyn, unserer aller, die wir an Christum als dem Heiland unserer Seelen geglaubt haben, kann in jenem Leben nicht ein gleicher Stand warten. Eine andere Klarheit hat die Sonne, eine andere Klarheit hat der Mond, eine andere! Klarheit haben die Sterne“ - so schreibt Paulus – „also auch die Auferstehung der Todten.“ Was der Mensch und auch was der Christ gesäet hat, das wird er auch ernten und - „unsere Werke folgen uns nach“. Das ist eben von uns Christen geschrieben; das ist die ernste, nur selten gehörte Predigt von einer zukünftigen Vergeltung, die auch der Christen wartet. Es ist kein Sprung und Riß zwischen dem Herzenszustande, in dem du aus dieser Welt hinausgehst und dem, in welchem du in jener Welt ankommst. Was hier angefangen ist, das setzt sich dort fort. Dieweil wir alle offenbar werden müssen vor dem Richterstuhl Christi und wissen, daß der Herr zu fürchten ist, spricht Paulus von sich und den Christen allen, darum fahren wir schön mit den Leuten, sind aber Gott offenbar.

Dennoch aber, lieben Brüder, bleibt bei alle dem das unverkürzt - nicht dem starken Glauben allein, sondern dem schwachen auch ist der Sünderheiland verheißen und auch den ungerathenen und verlornen Kindern ist das Kindesrecht geschenkt aus Gnaden. Giebt's auch eine verschiedene Klarheit in den ewigen Hütten der Gerechten, die Seligkeit ist doch nur Eine, die nicht auf unserer Gerechtigkeit, die wir gethan haben, beruht, sondern auf seiner Gerechtigkeit, ergriffen im Glauben. Selig sind, die im Herrn sterben“ heißt! es, obgleich hinterher geschrieben steht „ihre Werke folgen ihnen nach“ Im Feuer jenes Tages wird das Heu, Holz und die Stoppeln, die einer auf den Grund gebaut hat, verzehrt werden, spricht der Apostel: „wird nun Jemandes Werk verbrannt werden, so wird er deß Schaden leiden, er selbst aber wird selig werden, wenn auch also als durch's Feuer“ also nicht ohne Läuterung.

Ihr sehet, es darf kein Christenleben geben, worin nicht- die Schrift, diese Erzieherin zur Gerechtigkeit in der Hand- der Blick der Selbstprüfung auch in alle Winkel und Kammern des Lebens hineindringt und dessen christliche Vollkommenheit prüfet, denn - unsere Werke folgen uns nach und aus unsern Werken werden wir unsern Glauben zeigen müssen. Wiederum, so oft der Blick von dieser Umschau trüb und wehmüthig zurückkommt - nur nicht stehen bleiben in diesem Umkreise, sondern in Buße und Glauben immer tiefer hinein in den Mittelpunkt, Jesum Christum, der uns von Gott gemacht ist, beides zu unserer Gerechtigkeit und zu unserer Heiligung. Es giebt keine würksamere Kraft zu unserer sittlichen Forderung als den Glaubensblick auf die Liebe, welche uns zuerst geliebet und die Kindschaft uns ertheilt hat, da wir noch Sünder waren. Laßt alle eure Schwachheiten und Sünden, alle offenbaren und verborgenen Ankläger, laßt sie nur um euch herum sich stellen, doch bleibt es wahr: „nun wir denn sind gerecht worden durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christum“. O dies Friedensgefühl der versöhnten Kinder Gottes, ja wenn das uns begleitete, mild und unmerklich würde es einfließen in alle unsre Lebensbeziehungen und würde uns gewiß je länger je mehr zu Gottesmenschen machen, vollkommen und zu allem guten Werk geschickt.

Weg, Sünde, bleib mir unbewußt,
Kommt Christi Blut ins Herz.
So stirbet alle Sündenlust,
Der Blick geht himmelwärts.
Zeuch mich in dein versöhnend Herz
Mein Jesu tief hinein,
Laß es in aller Noch und Schmerz
Mein Schloß und Zuflucht seyn,

Amen.

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