Thiersch, Heinrich Wilhelm Josias - Die Vorbereitung auf das Kommen des Herrn

Thiersch, Heinrich Wilhelm Josias - Die Vorbereitung auf das Kommen des Herrn

Matth. 25, 1. 5-7. An diese Worte des Evangeliums müssen wir anknüpfen. Sind sie nicht reich an prophetischer Bedeutung? Die Ankunft des Bräutigams, welcher die auf ihn wartende Braut heimführen will in das Haus seines Vaters, bedeutet die heimholende Wiederkunft des Herrn. In den Jungfrauen, die dem Bräutigam zu Ehren mit brennenden Lampen ihm entgegengehen sollen, sehen wir wohl mit Recht das Bild der verschiedenen christlichen Gemeinschaften. Nun wird uns hier deutlich vorausgesagt, daß sich diese ersehnte und freudenreiche Wiederkunft des Herrn länger, und zwar weit länger verziehen würde als seine Jünger dazumal dachten. Es wird uns ferner warnend angezeigt, welche Folgen dieser Aufschub haben werde. Die zehn Jungfrauen wurden alle schläfrig und schliefen ein, nicht bloß die törichten, auch die klugen. Also ein Nachlassen der Hoffnung, eine geistige Ermüdung tritt ein, und allen Kirchengemeinschaften wird der Blick auf das eigentliche Ziel der Kirche, auf die Wiederkunft des Herrn, getrübt.

Ist es nicht wirklich so gekommen? Der Glaube ist erhalten geblieben, und die Liebe ist geübt worden, aber die Hoffnung der Kirche, die wahre, lebendige, freudige Hoffnung auf das Kommen des Herrn ist eingeschlummert. Zwar glaubte man noch, daß er einst kommen wird zu richten die Lebendigen und die Toten. Aber man sagte: der Herr kommt noch lange nicht; und dieses in unabsehbare Ferne gerückte Kommen des Herrn faßte man nur noch einseitig als sein Erscheinen zum I Weltgericht und nicht mehr als das freudebringende Kommen : des Bräutigams zur Erlösung seiner Gemeinde und zur Aufrichtung seines Reimes. Das prophetische Licht in der Kirche war verdüstert, und es trat wirklich die Zeit ein, die uns der Herr im Gleichnis als Mitternachtsstunde bezeichnet. Das Dunkel des zunehmenden Abfalls und der geistliche Schlummer verbreitete sich über die Christenheit. Was soll nun geschehen? Mit einemmal wird die Stille der Nacht unterbrochen durch den Ruf, der von einer und dann von vielen Stimmen sich erhebt: „Siehe, der Bräutigam kommt, gehet aus, ihm entgegen.“ Woher kann dieser Ruf kommen? Nicht von der Erde, sondern nur aus dem Himmel. Von wem kann er ausgehen? Nur von dem Herrn, der sich aufmacht zu kommen. Wie kann dieser Ruf in der Kirche erschallen? Nicht anders als durch den Heiligen Geist, den der Herr ihr geschenkt hat, der in ihr wohnt und von dem er gesagt hat: „Das Kommende wird er euch verkündigen. Was er hören wird, das wird er reden.“ (Joh. 16, 13-15). Also eine i prophetische Ankündigung geht der Wiederkunft des Herrn , voraus. Ein Wiedererwachen des prophetischen Geistes in der Kirche findet statt. Er hat vor Zeiten durch Menschenmund i in der christlichen Kirche geredet, und er nimmt wieder das Wort. Er spricht diese Ankündigung aus, sie findet Wiederhall in den verschiedenen Teilen der Christenheit, die schlafenden Jungfrauen wachen auf, sie werden mit einemmal inne, daß es Zeit ist, sich auf die Ankunft des Herrn zu bereiten.

Es ist die höchste Freudenbotschaft, und doch zugleich eine Ankündigung von erschütterndem Ernst. Denn nur denen, welche wirklich bereit sind, gereicht das Kommen des Herrn zur Freude, den anderen zum Schrecken. Es tritt eine Scheidung und mit derselben eine Entscheidung ein; es zeigt sich, daß einige der Jungfrauen weise sind, andere töricht. Die einen gehen ein in die Freude des Herrn und sein himmlisches Reich, die anderen bleiben zurück in der Finsternis der antichristlichen Welt. Sie kommen zu spät und finden die Tür verschlossen.

Darin liegt das Erschütternde dieser Worte im Evangelium. Und in der Tat haben alle Christen Ursache, bei einer solchen Ankündigung zu erzittern. Denn es muß offenbar werden, wer in der Taufgnade geblieben ist und die Früchte des Geistes gebracht hat und wer nicht.

Jene Ausstattung mit Früchten und Gaben des Geistes, deren sich die Kirche am Anfang erfreute, ist eine Ausstattung, welche sie treu bewahren und anwenden sollte. In einem wohlbekannten Gleichnis bezeichnet Christus sich selbst als einen Edlen, der über Land zog, um eine Königskrone in Empfang zu nehmen. Vor seinem Weggang übergab er seinen Dienern seine Schätze zur Verwaltung, und als er nach geraumer Zeit wiederkam, mit der Königswürde geschmückt, um seine Herrschaft anzutreten, forderte er von seinen Dienern Rechenschaft über das, was er ihnen vor seinem Hingang anvertraut hatte (Luk. 19, 12 ff.). Hieraus ergibt sich mit völliger Klarheit, daß wir alle, Geistliche und Gemeinden, bei der Wiederkunft des Herrn nach dem gefragt werden sollen, was die Kirche im Anfang von ihm empfangen hat.

Von diesen Gütern gibt uns die Heilige Schrift Kunde; in ihr ist der Maßstab enthalten, nach welchem die Kirche gemessen werden soll; es kann nicht genügen, wenn wir uns dem Herrn gegenüber auf jenes beschränktere Maß von Wahrheit, Gnade und christlicher Tugend berufen wollten, womit man sich späterhin, sei es im Mittelalter oder in der Reformationszeit, zufrieden gestellt hat. Um vor dem Herrn bestehen zu können, muß jeder einzelne Christ seines Christenstandes würdig wandeln, und die Kirche muß sich im vollen Besitz des Heiligen Geistes und der göttlichen Gnadenmittel befinden.

Wie mit dem einzelnen, ähnlich verhält es sich nun auch mit der Kirche. Auch für sie ist das Kommen des Herrn die Stunde der Rechenschaft. Auch sie kann so, wie sie ist, nicht vor ihm bestehen, und wohl keiner seiner Diener kann es. Er will die Diener anerkennen und nicht stürzen. Er will nicht, wenn er kommt, das Erdreim mit dem Banne schlagen (Mal. 4, 6). Er will seiner Kirche Hilfe senden. Und worin kann wohl diese Hilfe bestehen? Darin allein, daß er ihr jene Ausstattung mit Gnadenmitteln und den Gaben des Heiligen Geistes erneuert, die sie anfangs von ihm empfing. In ihrem ursprünglichen unentweihten Zustand war sie wirklich die gesegnete Heilsanstalt, durch die Gott verherrlicht und jeder einzelne Christ erleuchtet und geheiligt wurde. Hilfe für die Kirche und Hilfe für den einzelnen ist nicht zu trennen, beides kann nur miteinander zustande kommen.

Christus ist der Sämann, der bei seiner ersten Erscheinung den guten Samen auf den Acker der Welt ausgestreut hat. Die reime Wirksamkeit des Heiligen Geistes in der ersten Zeit der Kirche war der Frühregen. Die Ernte, so sagt der Herr selbst im prophetischen Gleichnis, ist das Ende dieses Weltalters, sie wird stattfinden bei der Wiederkunft des Herrn. Jetzt ist die Zeit, wo wir alle des Spätregens bedürfen, einer reimen, gnadenvollen Erquickung und Stärkung durch den Geist des Herrn, damit wir die volle Reife erlangen und tüchtig werden zum Eingang in sein Reim, wann er kommt.

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