Tersteegen, Gerhard - Briefe in Auswahl - Der Schreiber findet es am besten, wie ein unwissendes Kind zu folgen, ohne lange zu untersuchen, in wiefern dieses oder jenes vom HErrn ist. Über die Worte: Gott ist gut, Gott ist genug.
In dem HErrn, der allein HErr sei, liebe Schwester! Heute morgen, etwas in inwendiger Einsamkeit sitzend (die innere Einsamkeit ist da, wo die Kreatur und das Unsrige zurückbleibt), wurde mir eingeprägt: ich müsse um keines Geschöpfes willen nach außen gehen; wie auch: dass, um ganz in Gott zu sein, man nichts in der Kreatur und nichts in sich selbst sein müsse. Dennoch fühlte ich bald darauf Neigung, Dich zu begrüßen. Ich bekümmere mich nicht darum, wie ich beides vereinigen soll: nicht nach außen gehen sollen, und doch Lust zu fühlen es zu tun; noch weniger mag ich untersuchen, in wie weit dieses oder jenes vom HErrn ist. Wie ein unwissendes Kind bloß zu folgen, ist beruhigend für mich. Ich grüße Dich also, meine werte Schwester, in dem HErrn und in seinem Namen! Er selbst, dieser Gott der Ewigkeit, segne Dich, und sei mit Dir und in Deinem Geiste! Amen. Ich weiß Dir nichts anderes zu sagen als: Gott ist gut! Gott ist genug! Dies ist ein kurzes, aber ein großes Wort, und obschon es Dir bekannt ist, so ist es mir doch süß und erquickend, dass ich es jemand sagen kann, der dieses Wort versteht; indem ich es oft guten Seelen vorhalte, von denen ich mit Verwunderung entdecke, dass sie dessen Kraft so wenig begreifen, als ob ich mit fremden Zungen zu ihnen redete. Wie entfernt und entfremdet ist das arme Herz von Gott und von seiner wahren Kenntnis, auch bei allen Kenntnissen, die man besitzt! Aber es ist Gnade. Gott muss sich selbst zu erkennen geben, dass Er ist, und so, wie Er ist; ja, Gott muss erkannt werden in Gott. Glaubet an das Licht, auf dass ihr des Lichtes Kinder seid; doch die Menschen wollen sich selbst und ihr eigenes Licht nicht verlassen, um einzugehen in die göttliche Dunkelheit des Glaubens, in welcher der HErr wohnt. Man fürchtet sich loszulassen und zu verlieren, wodurch wir doch alles erlangen würden. O, welche Barmherzigkeit ist es, wenn der HErr uns darin zuvorkommt, uns diesen geheimen Eingang kennen lehrt und uns durch sich selbst darin erhält! Da allein findet und versteht man: dass Gott gut und dass Er genug ist.
Dass also alles unsrige zurückbleibe, um diesem allgenügenden Gute Platz zu machen, und um von seinem göttlichen Leben durchdrungen zu werden. Ich kann es nicht aussprechen, wie sehr der HErr will, dass wir kleine, einfältige, unwissende Kindlein werden sollen, um nur in dem gegenwärtigen Augenblicke so zu leben, als ob wir nicht lebten. Doch ich drücke mich so gebrechlich aus, und Du weißt und fühlst dasselbe.
So grüße ich Dich denn, meine liebe Schwester, nochmals sehr herzlich in dem Geiste der Liebe Jesu, die das Leben, der Frieden und das all Deines Geistes sein möge in Ewigkeit! O ja, unser Herz sei ewig für diesen Gott allein und ohne Umsehen und Widersprechen unter seiner göttlichen Leitung! Dies Ganze gibt eine große Freiheit, aber der HErr muss uns dahin führen und alles in uns werden: in Ihm bleiben wir einander, auch abwesend, gegenwärtig, und können einander im Geiste grüßen, segnen und die Hand bieten, wenn der HErr uns es eingibt. Er tue, was Ihm wohlgefällig ist.
Ich bleibe
Dein
durch die Gnade treu verbundener Bruder.
Mülheim, den 13. August 1745.