Tersteegen, Gerhard - Briefe in Auswahl - Trost bei dem Tode einer Freundin. Ermunterung zum treuen Ausharren in dem Werke Gottes und zu gegenseitiger Liebe unter den hinterbliebenen Seelenfreunden.
In dem HErrn Jesu, unserm Haupte, unserm Hirten und unserm wahrhaftigen Leben sehr werte und herzlich geliebte Brüder und Schwestern!
So hat es denn endlich dem HErrn gefallen; unsere sehr geliebte Schwester N. N. von uns weg und zu sich zu nehmen. Selig für sie, obschon schmerzlich für uns, die ihre erquickende und erbauende Gegenwart entbehren, und dadurch um so einsamer in dieser fremden Wüste und gefahrvollen Welt werden. Ich muss bekennen, dass mir das Entbehren dieser so geliebten Schwester, mit der ich seit vielen Jahren in einer innigen Freundschaft stand, schmerzlich fällt; aber der Anteil, den ich an dem Verluste nehme, welchen meine übrigen lieben Reisegenossen dadurch leiden, trifft mich, wie ich fühle, noch mehr, und was Ihr verliert, brauche ich nicht zu sagen. Indessen der HErr, der die Weisheit selbst ist, hat es so gewollt; unterwerfen wir daher, wie gehorsame Kinder, unser gebrechliches Urteil dem unsres Vaters. Der HErr liebte unsre Schwester viel mehr als wir. Er hatte das größte Recht an sie, darum forderte Er sie, nachdem Er sie uns auf einige Zeit gegönnt hatte, billigerweise zurück, um ihr Ruhe zu schenken von ihrer Arbeit. Vielleicht haben wir ihre Gegenwart nicht so benutzt, wie wir sollten, und darum gönnt ihr der HErr lieber den Aufenthalt der Seligen; auch dies muss uns demütigen, aber nicht mutlos machen. Jetzt nur inniger, ernstlicher und herzlicher fortgewandelt, dann werden wir unsere geschiedene Reisegefährtin bald wieder und herrlicher einholen; lassen wir uns daher dasjenige, was dem HErrn zu nehmen beliebt, nicht abnötigen, sondern Ihm unser Opfer, selbst im Gefühl der Schmerzen, freiwillig bringen. Tröstet Euch, liebe Reisegefährten, mit dem gläubigen Beschauen des unaussprechlichen Glücks, das unsrer lieben Schwester durch diesen Übergang widerfahren ist. Wir wollen es ihr nicht missgönnen, sondern mit reiner Liebe Teil daran nehmen, und durch unsre Freude darüber unsre Betrübnis zu mäßigen suchen. Ihre Arbeit, ihr Druck, ihre Gefahr, ihre Beklemmung ist zu Ende, denn sie ist in dem HErrn gestorben, wie sie in dem HErrn gelebt hat. Die Fesseln sind gebrochen, der HErr hat ihr Gefängnis geöffnet, der Geist ist frei und wie ein Vögelchen, das dem Käfige entschlüpft; sie ist mit Entzücken in den freien Raum der seligen Ewigkeit eingezogen; ermüdet von der Pilgerfahrt, ist sie in der Heimat angelangt und pflegt der Ruhe. Was wird sie jetzt nicht, während wir noch betrübt hier sitzen, alles tun, denken und fühlen? Gewiss verrichtet sie nun in Vollkommenheit dort oben, was ihr ganzes Herz hier unten zu verrichten strebte. Sie schauet nunmehr das selige Angesicht ihres Gottes, in dessen inwendiger Erkenntnis sie schon auf Erden Seligkeit empfand. Sie betet jetzt ganz gereinigt zu diesem Gott im Allerheiligsten, in dessen Dienst und Verehrung alle Cherubim, sich mit ihr vor Ihm beugend, ihre Wonne finden. Sie preist und verherrlicht jetzt jenes unendlich vollkommene Wesen, das alle seine Vollkommenheiten und Wunder entfaltet, und findet diesen Gott verherrlicht in sich und in allen Gerechten. Jetzt liebt sie den größten Schatz mit der zärtlichsten Liebe. Sie erlangt selige Sättigung durch den vollkommensten Genuss dieses höchsten Gutes und durch dessen Liebe. Sie erhebt sich mit himmlischem Freudetriumph in diesem Genuss der Seligkeit, und sinkt wieder herab zur süßesten Bewunderung der unbegreiflichen Güte Gottes und seiner Barmherzigkeit. Sie verliert sich selig in diesen Gott, in diesen Abgrund, in dies Wunder aller Wunder! Amen! Sela!
Noch eins: sie sieht, wie das Lamm Gottes, das aus Liebe für ihre unsterbliche Seele geschlachtet wurde, zur Rechten Gottes sitzend, sie liebreich zu sich nimmt. O, wie fühlte dies ihr Herz schon hier auf Erden! Aber wie wird sie es nun im Himmel empfinden, dass sie diesem Lamm und seinem Blute allein ihre Seligkeit verdankt! Wie wird sie nun in dem süßesten Namen Jesu ihre Knie beugen; wie wird sie nun mit der unzählbaren Menge niederfallen vor diesem Lamme! Mit welchem frohen Gemüte wird sie nun diesen Gesang des Lammes mitsingen: Ihm, der auf dem Stuhle sitzt und dem Lamme Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen! (Offenb. 5, 13.)
Wie wird sie jetzt nicht diesem ihren Hirten danken, dass Er sie erkauft, gesucht, gefunden, geweidet, bewahrt und wohlbehalten in seine Wohnung gebracht hat! Nun wird sie in Ewigkeit preisen die Barmherzigkeit des HErrn, die Er ihr in der Zeit ihrer Pilgerschaft bewiesen hat. O, welch ein großes Register voller Barmherzigkeiten wird sie vor sich aufgeschlagen sehen; und auch die Barmherzigkeit wird sie darunter finden, dass Gott sie zu seinen Kindern gebracht hat.
Denn, meine vielgeliebten Kinder, ich glaube nicht, dass unsre selige Schwester, so hingenommen von dem Strom des Lebens und den reichen Gütern des Hauses Gottes (Psalm 36, 9) sein wird, dass sie uns ihre ehemaligen Liebesgenossen ganz vergessen sollte; die Vereinigung mit ihr ist durch ihr Hinscheiden nicht abgebrochen; ohne Zweifel wünscht sie uns das Gute, und erfleht von dem HErrn dasjenige, was sie jedem von uns sagen würde, wenn wir sie noch einmal hören könnten. O, was würde sie uns Großes zu erzählen haben! Würde sie uns nicht auf das kräftigste den schmalen Glaubensweg des Gebetes aus dem Herzen und die allgemeine Entsagung aus Liebe zu dem Gekreuzigten anpreisen, jetzt, wo sie mit Erstaunen die herrlichen Früchte eines solchen Wandels sieht? Würde sie uns nicht ermuntern, im Vertrauen auf diesen Gott der Liebe mutig alles zu wagen? Würde sie uns nicht das kräftigste Zeugnis ablegen, wie unendlich sich dieses lohnt? Würde sie uns nicht zurufen: Kinder wandelt doch mit Ernst und mutig fort, denn die kleine Arbeit, die geringe Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schaffet eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit (2. Kor. 4, 17)?
Nun, meine lieben Mitpilger, dieser und ähnlicher Wahrheiten können wir uns gläubig erinnern, wenn wir auch nicht mehr die angenehme Stimme unsrer verstorbenen Schwester hören. Auf diese Art müssen wir durch dergleichen Ermahnungen gegenseitig unser aufrichtiges Gemüt ermuntern. Was mich betrifft, so hoffe ich, dazu das Meinige mit Gott beizutragen, so lange ich in dieser Hütte sein werde. Wenn schon wir unsre liebe Schwester nicht mehr vor Augen sehen, so wollen wir uns darum doch nicht trennen. Das verhüte Gott! Ich biete Euch allen aufs neue die Bruderhand und das Bruderherz; tut alle auch so; wir wollen mit und bei einander aushalten, bis wir unsre Schwester bei Gott auf Zion wieder sehen und umarmen. Ihr habt mit mir ihren Wandel gesehen, und ich besonders weiß, was der HErr an ihr getan hat; darum lasst uns also ihrem Glauben nachfolgen, Augen und Herz dieser Welt verschließend, und zurückgezogen im Geiste lebend vor Gott und der Ewigkeit. Liebt einander alle herzlich und rein in Gott, helft und dient einander jeder nach seinen Kräften; erweckt, tragt und erbaut einer den andern mit Sanftmut, jeder sei der Kleinste, aber auch gern der Reinste; vereinigt Euch zuweilen auch äußerlich; hütet Euch vor den fremden Geistern, die in diesen Tagen ausgegangen sind, um die Seelen nach außen hin zu locken, und die den schmalen Weg breit machen wollen; hört nicht auf sie, aber folgt denen, die im Geiste Jesu wandeln und in seine Fußstapfen treten, wie Ihr wisst, dass es unsre hingeschiedene Schwester tat. Und nun, Kindlein, bleibt bei Ihm, der uns mit einer so teuren Stimme gerufen hat; auf dass, wenn Er geoffenbart wird, wir Freudigkeit haben, und nicht zu Schanden werden vor Ihm und vor unsrer seligen vorausgegangenen Freundin. Darum seid fest, unbeweglich, und nehmt immer zu im Werk des HErrn, sintemal ihr wisst, dass eure Arbeit nicht vergeblich ist in dem HErrn (1 Kor. 15, 58). Betet auch für mich; auch ich kann Euch keineswegs vergessen, sondern hoffe durch die Gnade Christi zu bleiben
Euer
schwacher, aber treu verbundener Bruder.
Mülheim, den 11. November 1755.