Tauler, Johannes - Vierundzwanzigster Brief.

Tauler, Johannes - Vierundzwanzigster Brief.

Frage und Antwort zu der höchsten Vollkommenheit.

Mein allerliebster Vater in Christo Jesu! Ich bin eine elende Waise, Gott und euch allein überlassen, und ich weiß nicht, was ich thun soll. Wie ich geheißen worden bin, habe ich mich mehr abgezogen etliche Tage durch, und habe mich mehr geübt bei mir selber in dem verborgenen Funken der Begehrungen, und alle Dinge nicht zu achten; und ich überstieg und überging alle Einblasungen und Lichter, und Süßigkeit der Bilder der Vernunft, und was da Gutes ist, das die Seele mit Natürlichkeit oder Ergötzlichkeit in sich bilden kann. Und hierin allein empfinde ich die elende Armuth und die weite, inwendige Wüstenei, worin alle Phantasien, gute und böse, keine Stätte haben können, und ich bin wie ein Bettler, liegend vor der Thüre, wartend auf den Willen meines Herrn. Und ich weiß nicht, was dieß sey; denn dieser Funke der Begehrungen rastet nicht, bis daß alle Kräfte meines Herzens und meines Hauptes verzehrt und ausgeschöpft werden. Aber wenn ich dann eine kleine Rast haben kann, sogleich werden dann die Kräfte wieder erneuert, und so viel ich abgeschiedener bin, so viel mehr Lust hat meine Inwendigkeit und mein inwendiger Mensch in dieser Armuth, obgleich mein auswendiger Mensch gern auf alle Weise fliehen wollte, wenn er könnte. Was aber hieraus geboren werden soll, weiß ich nicht: das Leben oder der Tod. Nach meinem Bedünken und Urtheil jedoch wird hier sehr gestärkt Glaube, Hoffnung und Liebe. Darum, hätte ich eine einsame Stätte, ich wollte mich hiebei halten, mehr als ich nun vermag.

Hierauf antworte ich nun durch die Gnade Gottes, daß hiezu gehört einsam seyn, mit einem unwandelbaren Gemüthe und freier Gelassenheit deines Willens in den liebsten Willen Gottes, in den der heilige Paulus entwältigt war, und fragte: Herr, was willst du, daß ich thue? und das immer und immer erneuern, und dabei bleiben bis zu dem Tode. Dazu kann kein menschliches Werk gelangen, außer dieses wahre Beibleiben und das Jagen nach Gott. Also frei sind die Werke unsers Herrn in dem Menschen, daß sie alle Dinge auf das Höchste vollbringen, so fern als es der Mensch selbst nicht hindert oder entthut. Und sollte ein Mensch auch vierzig Jahre in diesem Begehren, Verlangen und Jagen nach Gott leben: das sollte er billig leiden mit Geduld, in rechter Gelassenheit, nach dem liebsten Willen Gottes. Amen.

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