Tauler, Johannes - Medulla Animae - Zweites Kapitel. Von dem Schaden der lässlichen Sünden, und wie wir jede Sünde meiden können.

Tauler, Johannes - Medulla Animae - Zweites Kapitel. Von dem Schaden der lässlichen Sünden, und wie wir jede Sünde meiden können.

Wenn wir auch nicht im Stande sind, alle und jede lässliche oder tägliche Sünden zu vermeiden, so können und sollen wir es doch durch die Gnade Gottes dahin bringen, dass wir weniger und seltener, und wenigstens nie mit Vorbedacht darein fallen; denn auch ihr Schaden ist durchaus nicht geringe zu achten. Sie sind, wie ein dichter Nebel für das Auge, so für die Seele dasselbe, nämlich ein trübendes Dunkel, welches den reinen und freien Blick zu Gott hindert; sie mindern, ja sie verzehren gleichsam das Feuer der göttlichen Liebe; sie sind die Ursache, weshalb unsere Gebete so oft nicht erhört werden; sie beflecken die Seele und verunstalten sie; sie betrüben den heiligen Geist, erfreuen hingegen und ermutigen den bösen Geist; werden sie nicht gebessert, so entfremden sie die Seele von Gott! sie sind der erste und nächste Reiz zu größeren und schwereren Sünden; sie nehmen der Seele die Kraft, der bösen Lust mutig zu widerstehen, und machen sie träge und schläfrig zum Guten; sie ziehen die Begierden nieder zu zeitlichen Dingen; sie verursachen ein großes und langes Fege- und Reinigungsfeuer, und entfernen uns sehr lange von Gottes Anschauung. Nun erwägt, ob der Schade klein und geringe sei, besonders, wenn wir sie wissentlich oder aus böser Gewohnheit begehen?

Nun sind aber sechs Mittel, durch welche wir unter göttlicher Hilfe, und wenn wir treu darin bestehen, von aller und jeder, sowohl täglichen als schweren Sünde, bewahrt werden.

Das erste ist, wenn der Mensch durch die göttliche Kraft beschirmt, und alle seine Kräfte durch die Gnade Gottes gestärkt werden. Das geschieht dann, wenn Gott der Vater Seinen Sohn in dem Wesen der Seele gebährt; dann gibt sich die göttliche Gnade in alle Kräfte des Menschen ein, und durchdringt sie, so dass jede Kraft der Seele eine göttliche Kraft empfängt, allem dem zu widerstehen, was Gott nicht, oder was gegen Ihn ist.

Das zweite ist, wenn die niederen Kräfte - der sinnliche Mensch - allzeit nach den oberen Kräften - den geistigen Menschen - gerichtet und geordnet sind, wodurch er in seiner ursprünglichen Reinheit und Gerechtigkeit, in welcher Gott den ersten Menschen schuf, erhalten wird, der aber, sobald die Sinnlichkeit sich vom Geist abwendete, sogleich in Sünde und Schuld fiel. Gleiches widerfährt uns, wenden wir uns ohne Rücksicht des Höheren und Besseren in uns, des Geistes, zur Sinnlichkeit, so müssen und werden wir gewiss fallen. Wirken wir aber nach außen mit Bewilligung unseres Oberen von innen, dann sind wir vor dem Fall sicher; aber auch hier selbst ist göttliches Licht und wahre Demut vonnöten, damit uns der Feind nicht täusche und irreführe.

Das dritte ist, wenn der Mensch seinen Willen vollkommen in den Willen Gottes eingibt, denselben zur einzigen Richtschnur seines Denkens und Handelns macht, und seines eigenen Willens durchaus verzichtet; dann kann und wird er nicht sündigen.

Das vierte ist, wenn in allen Dingen Maß und Ziel beobachtet, d. i. die Mitte gehalten wird. Wer überall die Mitte zu halten weiß, der fehlt nicht; denn nur die Unordnung ist die Mutter der Gebrechen, die Übertreibung führt die Sünde herbei, zu viel und zu wenig ist allemal schädlich; wer aber allemal das tut, was er tun soll, und das lässt, was zu lassen ist, dem steht Gott allzeit bei.

Das fünfte Mittel ist die freiwillige, sowohl äußere als innere Armut, denn die Armen stehen allzeit im Leiden; fallen sie dann zuweilen in irgend ein Gebrechen, so steht die Ahnung dessen sogleich an der Seite und der Glutofen der Not reinigt das Unreine, und sondert die Schlacken.

Das sechste ist, wenn des Menschen Herz mit dem lebendigen Feuer des heiligen Geistes durchglüht ist. Innige Liebe zu Gott tilgt alle Sünden, und brennte dieses göttliche Liebefeuer immer in unseren Herzen, wir wären ewig ledig aller Sünde; denn Sünde ist Hass, wo nun Liebe ist, kann diese nicht bestehen, weil Hass und Liebe nicht zusammen sein können. Liebst du Gott vom Herzen, dann kannst du nicht anders, du musst und wirst alles lassen, was Ihm zuwider ist; jedes Wort, das du reden willst, überlegst du, jede Handlung, die du verrichten willst, prüfst du, und findest du das Wort oder das Werk eitel oder unnütz, du unterlässt es, du verzichtest darauf aus Liebe Gottes und Seiner Ehre, und sündigst nicht; dich ehren die Engel, dich achtet und schützt das himmlische Heer; rein ist dein Gebet, und es wird dir die Bitte gewährt, du hast freien Zugang zu Gott, du stehst im Freundesbunde mit Ihm, und dem du zeitlich entsagt hast, das ist dir zur Quelle des Trostes und des süßesten Seelenfriedens in Gott geworden; gestärkt ist das Herz, ermutigt alle Kräfte, kein böser Gedanke kann ferner deiner Meister werden, dich nimmermehr ziehen in tieferen Abgrund; stirbst du in dieser heiligen Seelenstimmung, so bedarfst du keiner ferneren Reinigung, du gehst unmittelbar ein in die Freuden des himmlischen Vaterlandes.

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