Taube, Emil Heinrich - Psalm 126.
Dieses auf historischem Grunde eine weit- und tiefgehende Symbolik in sich bergende Stufenlied hat zum Inhalt den Ausdruck dankbarer Freude für die Heimführung der Gefangenen Zions V. 1-3; sodann die Bitte um Vollendung dieses Werkes (V. 4) und endlich die hoffnungsreiche Aussicht auf eine herrliche Freudenernte von der ausgestreuten Tränensaat. (V. 5. 6.) Die geschichtliche Situation ist dieselbe, wie in Ps. 85; ein Teil der Gefangenen Zions ist in das Land der Väter heimgekehrt, denkt mit Jubelton der erfahrnen Erlösung, bittet um die gleiche Gnade für die noch Zurückgebliebenen und ist der getrosten Hoffnung, dass die erfahrne, wie die noch gegenwärtige Trübsal nicht nur nicht vergeblich, sondern reich gesegnet sein werden. Wenn aber Israels Geschichte überhaupt einen vorbildlichen Charakter für das Volk Gottes zu allen Zeiten in sich trägt, wenn insbesondre jenen beiden Großtaten Gottes am Anfang wie am Ende seiner Führung, der Erlösung aus Ägyptens und aus Babels Dienstbarkeit, dieser Stempel aufgedrückt ist, so ist es sehr begreiflich, dass die Kirche des Neuen Testamentes in diesem köstlichen Stufenliede den willkommnen Ausdruck ihrer seligen Erlösungswonne, ihres tiefsten Sehnens und höchsten Hoffens wiedergefunden hat, und dass dieses Lied für die gläubige Christenseele Flügel der Morgenröte hat. Nach der strophischen Form bewegt es sich in zwei langen Vierzeilern.
V. 1. Ein Wallfahrtslied. Als der Herr zurückführte die Heimkehrenden Zions, waren wir wie die Träumenden. V. 2. Da war unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens; da sagte man unter den Heiden: der Herr hat Großes an ihnen getan. V. 3. Der Herr hat Großes an uns getan, wir waren fröhlich. Wenn wir auf Grund unsrer deutschen Bibelübersetzung gewohnt sind, schon bei den ersten Lauten dieses Liedes mit unsern Gedanken dem seligen Ziele der letzten Erlösung zuzueilen und die Lobgesänge der Ewigkeiten zu vernehmen, so soll es uns nicht leid tun, wenn uns der Grundtext zunächst auf den geschichtlichen Boden stellt. Es ist das nur eine Bereicherung; wir büßen darum den ahnungsvollen Lichtsaum des Hintergrundes nicht ein, wenn wir die Staffage des Vordergrundes anschauen und an Israels Erlösungswonne inne werden, wo und wie sich das Vorspiel hören lässt. Die Großtaten Gottes treten nicht unvermittelt auf; sie haben ihre vorbildlichen Ansätze, ihren innern Reflex und ihre weitgehende Perspektive, daher einen historischen, symbolischen, prophetischen Sinn, dessen Erkenntnis einen herrlichen Einblick in die mannigfaltige Weisheit Gottes und in die Majestät der Schrift abgibt. Man achte nur auf die überaus zutreffenden Grundzüge dabei, auf den wunderbaren Stimmungswechsel beim Wechsel des Loses, auf die unaussprechliche Freude, auf das lobsingende Bekenntnis zur Ehre Gottes. Israel hatte ja wohl in der Zerstreuung das Verheißungswort von seiner Rückkehr ins Land der Väter, aber es ging ihm, wie es uns im Elend mit dem teuerwerten Worte Gottes geht, wir wissen es, als wüssten wir es nicht; die Kummertränen verschleiern das Auge des Glaubens, dem das Unsichtbare gewisser ist, als das Sichtbare.
Dass die Hilfe und Rettung überhaupt noch kam, nachdem sie über ein halbes Jahrhundert im gottwidrigen Babel geseufzt und geschmachtet hatten, war eine große, freudenreiche Überraschung für sie; die Art aber, wie sie kam, durch den heidnischen Fürsten Cyrus, und so über alle Erwartung schnell, so über alles Hoffen groß und herrlich, das brachte in ihnen einen so plötzlichen Umschlag der Stimmung hervor, dass das Lied mit voller Wahrheit aus Israels Herzen bezeugt: „wir waren wie die Träumenden“; da mag's ein Fragen gegeben haben: Ist's möglich? ist's wirklich wahr? ist's nicht nur ein schöner Traum? Nein, es ist volle, bare Wirklichkeit; das Wort ist gegeben, die Anstalten werden getroffen, das traumartige Helldunkel macht einer lichten, unaussprechlichen Freude Platz. Je größer und unbegreiflicher das Wunder der Errettung ist, desto größer auch der Jubel, der grenzenlose. Doch Israel kennt den Gott, der Wunder tut, und gibt Ihm die Ehre; darum wandelt sich der Jubel in Lobgesang, in Ströme des Lobgesangs, dessen Schallwellen sich auf der Heiden Ohr, Herz und Lippen fortpflanzen. Was aber Israel begegnete, das findet seinen tiefen innern Reflex in dem Herzen jedes Menschen, der aus dem Diensthaus der Sünde erlöst ist und sich zu seinem Gott bekehrt hat. Wer diese größte Verwandlung erfahren hat ist's dem nicht wie einem Träumenden zu Mut? Mit einemmale durch den Machtspruch der Gnade los vom bösen Gewissen, frei von den Sündenketten, geschieden von der argen Welt zu sein; mit einemmale in einer neuen Welt zu atmen, von der man keine Ahnung gehabt, Kräfte zu fühlen, die man nimmer gekannt, den Frieden Gottes wie einen Wasserstrom durchs zerschlagene Gebein zu spüren, welch ein Wechsel! Weiland Finsternis, nun aber ein Licht in dem Herrn - wer kann es fassen?! „Ich bin vor Vielen wie ein Wunder“ spricht man mit David, und man ist es selbst vor der Welt, am meisten aber vor sich selbst und kann darum aus dem Herzen voll Leben und Seligkeit des Bekenntnisses nicht müde werden: „der Herr hat Großes an uns getan!“
Wie groß aber auch dieser Wechsel bei der Bekehrung eines Sünders ist, was ist er gegen den, den Gottes Kinder in und mit dem Tode erfahren! Das ist des Liedes prophetische Perspektive. Bei jenem Wechsel sind sie doch immer noch Gefangene, wenn auch Gefangene Zions, Gefangene auf Hoffnung (Sach. 9,12), sie wandeln noch im Leibe des Todes, der Feind begehrt ihrer noch, ihr Fleisch ficht sie noch an, die Welt hudelt und ängstet sie noch; bei diesem sind sie das Alles los, die morsche Hütte des Todesleibes ist abgelegt, die Not und Sorge dieses Lebens drückt sie nicht mehr, kein verbotener Baum reizt sie mehr, die erlöste Seele ist da, wo kein Leid und kein Geschrei, keine Schmerzen und keine Tränen mehr sein werden, das Alte ist vergangen, siehe, es ist Alles neu worden (Offenb. 21), ihre Füße stehen in deinen Toren, Jerusalem (Ps. 122,2) da wird's im Vollmaße wahr: „Wir werden sein wie die Träumenden, unser Mund wird voll Lachens und unsre Zunge voll Jubel sein“; denn „kein Aug' hat je gespürt, kein Ohr hat je gehört solche Freude!“ Und alle Freude und Wonne des ewigen Lebens, alles Anschaun der neuen, der himmlischen Wunderwelt, alles Überschaun der Führung im Zusammenhang, alles Einschaun in die unermesslichen Tiefen der ewigen Erbarmung gegen unwürdige Sünder und unnütze Knechte wandelt sich in den durch Ewigkeiten unerschöpflichen Lobgesang: „Der Herr hat Großes an uns getan!“
V. 4. Herr, führe zurück unsre Gefangenen, wie die Regenbäche im Südland. V. 5. Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten. V. 6. Sie gehen und gehen unter Weinen, tragend den Zug des Samens, sie kommen und kommen mit Jubel, tragend ihre Garben. Hienieden ist die Erlösungswonne noch nicht vollendet, sondern Stückwerk; denn ihr zur Seite steht das Kreuz, das der Kinder Gottes täglich Brot ist, sei es, dass eignes oder fremdes Leid es bereitet. Darum reihet sich an den Lobgesang wieder brünstiges Gebet. (V. 4.) Da es historisch erwiesen ist, dass zunächst nur ein verhältnismäßig kleiner Teil ins Land der Väter zurückgekehrt war, so liegt nahe bei der Freude der Heimgekehrten die Liebe, die der in Babel noch schmachtenden Brüder gedenkt und für sie um die gleiche Gnade der Zurückbringung fleht: „Herr, führe zurück unsre Gefangenen (Andre übersetzen: kehre zurück zu unserm Gefängnis), wie die Regenbäche im Südland.“ Das hierbei gebrauchte Gleichnis kann nicht bedeuten: „wie du die Wasser gegen Mittag trocknest“ (Luther), sondern vielmehr: wie das dürre Mittagsland durch die Wiederkehr der Regenbäche wieder fruchtbar wird, so wollest du dein schmachtendes Volk und Land wieder erquicken und fruchtbar machen durch die Heimführung aller Seiner Kinder. Es ist also eine Bitte an den Herrn um die Vollendung seines gnadenreichen Werkes.
Auch diese Bitte Israels hat ihre Stelle in der Kirche des Herrn, ja sie findet in ihrem unendlich erweiterten Haushalt einen noch viel breiteren Boden, da der gefangenen Kinder drinnen und draußen aller Orten und Enden eine zahllose Menge ist. Sie Alle sind denen aufs Herz gebunden, die in der Besitzesfreude der Erlösung jubeln, und der Geist winkt mit dem Wort: „unsre Gefangenen“ ebenso nachdrücklich auf dieses Pflichtteil der Erlösten hin, wie der Herr des Neuen Bundes im heiligen Vater Unser aus gleichem Zwecke das Wörtlein „unser“ durchweg betont. Das fremde Leid hat ja auch allezeit seinen Resonanzboden im eignen Leid. Der Kreuzbecher geht nach Gottes weisem Rat die Reihe herum; aber es ruht auch hie wie da die hoffnungsreichste Verheißung der Freudenernte auf dieser Tränensaat. Das gewinnt seinen herrlichen Ausdruck in den letzten Versen. Möge man bei der Tränensaat in Betreff der geschichtlichen Unterlage an die derzeitige Dürre des heiligen Landes, wovon der Prophet Haggai (Hagg. 1,10,11.) berichtet, oder an den um des unablässigen Widerstandes der Samariter willen äußerst mühseligen Wiederanbau des heiligen Landes und beginnenden Tempelbau (Esra 4.) oder an die Seufzer der in Babel noch Zurückgebliebenen denken, das Eine steht fest: Israel ward aufs Neue inne, dass es hienieden noch im Jammertal ist, dass es den Acker des Fluches, wo die Dornen und Disteln zu Hauf stehen, zu bauen gilt, und dass alle Arbeit, auch die für das Haus des Herrn, nicht ohne viele Tränen geschehen kann; aber es weiß auch aus alter und reicher Erfahrung: Was verleugnet und gelitten, wird dein Segen überschütten.“ Und das ist dem Gottesvolke aller Zeiten zum Vorbild geschrieben. Mühe und Tränen sind freilich des Menschen Los überhaupt, sie seufzen Alle unter des Lebens Last und Not; aber die meisten dieser Tränen haben keine Verheißung. Hier gilt es: wie die Saat, so die Tränen. Wer auf sein Fleisch sei, weint auch dabei fleischliche Tränen, die wüsten Tränen der weltlichen Traurigkeit, die wilden Tränen trotzigen Murrens, die leeren Tränen der Eitelkeit und wird das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der weint auch dabei tiefgeistliche Tränen, die seligen Tränen der Buße, des Glaubens, der erbarmenden Liebe, der ausharrenden Geduld und wird das ewige Leben ernten. (Gal. 6,8.) Diese tränenvolle Geistessaat hebt mit dem Schaffen des eignen Seelenheils an und dehnt sich von da aus über Alles hin, was das Kommen des Reichs Gottes in der Welt, also die Ehre Gottes und die brüderliche Seligkeit fördert. Welch' eine Schmerzenssaat des Glaubenskampfes, des Gebetsringens, der harrenden Geduld und Selbstverleugnung schließt das bei der großen Verkehrtheit des Menschenherzens und dem Trotz seines Widerstandes in sich! Eines Davids Tränen über den eignen Sohn, eines Jeremia Tränenquellen über sein Volk, des Herrn Tränen über Jerusalem, eines Paulus Tränen über die Feinde des Kreuzes bezeugen's genugsam, und der Geist deutet's sprechend an mit den Worten: „Sie gehen und gehen unter Weinen, tragend den Zug des Samens“ nichts als Tränensaat, so lange die Saatzeit währt!
Aber auch nur so lange; kommt die Ernte, so ist nichts mehr von Tränen zu spüren, so kehrt der Jubel ein. Warum doch? Das zeigen die lachenden Worte: „Sie kommen und kommen mit Jubel, tragend ihre Garben.“ Nun ist nicht mehr das mühselige Dahingehen, das tränenschwere Tragen des Saatlassens, das Ausstreuen an der Zeit, sondern das Kommen, das jubelnde Kommen zum Erntefest. Da trägt man auch noch, aber das tränenschwere Tragen des Samens hat sich in das segensschwere Tragen der Garbenbündel gewandelt. Fragst du: wie sind denn auf einmal aus Samenkörnern Garben geworden? Das ist geschehen in der Hand des himmlischen Wucherers, der die Tränen zählt und „der nicht ungerecht ist, dass Er vergesse eures Werks und Arbeit der Liebe, die ihr bewiesen habt an Seinem Namen.“ (Hebr. 6,10.) Tropfenweis wird ausgesät, stromweis wird gesammelt, kornweis wird ausgestreut, garbenweis wird geerntet. „Das Gehen und gehen unter Weinen“ hatte seine Zeit und währte eine kleine Zeit, das „Kommen und Kommen mit Jubel“ hat keine Zeit, sondern währt ewiglich; denn wir werden, wie St. Paulus bezeugt, ernten ohne Aufhören. (Gal. 6,9.) Beim Blick auf die Garben wird's den Säeleuten wieder sein „wie den Träumenden“ und ihre Zunge voll Rühmens: „Der Herr hat Großes an uns getan!“