Spener, Philipp Jakob - Pia desideria - Einleitung

Spener, Philipp Jakob - Pia desideria - Einleitung

Gnade, Licht und Heil von Gott, dem himmlischen Vater durch Christum Jesum in dem heiligen Geist, allen denen, die den Herrn suchen.
Wenn wir den gegenwärtigen Zustand der gesammten Christenheit ansehen, so möchten wir billig mit Jeremia 9,1 in die kläglichen Worte ausbrechen: „Ach, daß wir Wassers genug hätten in unsern Häuptern, und unsere Augen Thränenquellen wären, daß wir Tag und Nacht beweinen möchten den Jammer unsers Volks.“ Und hat zu den noch goldnen Zeiten jener liebe alte Vater sprechen mögen: Ah in quae nos tempora reservasti, Domine! so haben wir heut zu Tage weit mehr Ursach, es nicht nachzusprechen, sondern, da die größte Betrübniß kaum Worte herauszubringen vermag, nachzuseufzen.
Ich will jetzt nicht reden von dem Elend der Glieder der christlichen Kirche, welche in dem babylonischen Gefängniß der römischen Kirche, in den, unter der schweren türkischen Tyrannei liegenden, von unglaublicher Unwissenheit, Irrthümern und schrecklichen Aergernissen verderbten griechischen und morgenländischen Kirchen, und in vielen andern, von dem Papst zwar abgetretenen, aber zur Reinigkeit der Lehre nicht gekommenen Gemeinen verborgen sind, und in höchster Gefahr mit Furcht und Zittern ihre Seligkeit wirken müssen, obwohl an ihren Jammer ohne einige Bewegung von einer gottseligen Seele nicht gedacht werden kann; sondern wenn wir allein bei unserer evangelischen Kirche bleiben, die das theure und reine Evangelium dem äußerlichen Bekenntniß nach annimmt, und die wir deshalb als die wahre sichtbare Kirche anerkennen müssen, so können wir doch auch auf diese die Augen nicht wenden, ohne sie aus Betrübniß und Scham sobald wieder niederschlagen zu müssen. Sehen wir den äußern Zustand an, so müssen wir bekennen, daß seit geraumer Zeit die dieser Kirche angehörigen Reiche und Länder, obwohl in verschiedenen Graden und Zeiträumen, alle die Plagen oft haben erfahren müssen, womit nach der Schrift der gerechte Gott seinen Zorn zu bezeugen und anzudeuten pflegt, nämlich ansteckende Krankheiten, schlechte Zeiten und Kriege. Ich halte aber gleichwohl diese Trübsale für die geringsten, ja für eine Wohlthat, wodurch Gott noch Viele der Seinigen erhalten, und dem Schaden, der durch stetes leibliches Wohlergehen noch verzweifelter werden würde, etwas gewehret hat.
Aber, obwohl fleischlichen Augen unkenntlicher, so doch weit schwerer und gefährlicher ist das geistliche Elend unsrer armen Kirche und zwar vornehmlich aus zwei Ursachen:
Die Eine bestehet in den Verfolgungen, welche die wahre Lehre, sonderlich von der römischen Kirche leiden muß. Nun ist es zwar wahr, daß die Verfolgungen ein gutes Mittel sind, wodurch der Kirche Wachsthum oft befördert wird, also, daß wir die christliche Kirche von der Apostel Zeit her, in keinem bessern und vor Gott herrlichern Stande antreffen, als da sie unter den grausamsten Verfolgungen stand, wo ihr Gold unaufhörlich in dem Schmelzofen gelegen, dessen Flamme keine Schlacken daran wachsen lassen, oder dieselben bald wieder verzehret hat. Aber durch zwei Stücke unterscheiden sich die jetzigen Verfolgungen von den frühern, welche uns tief schmerzen. Einmal, daß der Teufel, nachdem er erkannt, daß seine Gewaltthätigkeiten und blutigen Verfolgungen nichts vermocht, sondern die Leute zu einer obwohl schrecklicheren, doch kürzeren Marter mehr geeilet, als davor geflohen sind, nunmehr klüger geworden ist, und eine andere Art der Verfolgung angefangen hat, die Bekenner der wahren Religion von der erkannten Wahrheit durch langwierige Drangsale oder dadurch abzuziehen, daß man ihnen theils mit steten Drohungen, theils Versprechungen und Vorstellungen von der Herrlichkeit der Welt zusetzt, besonders aber die wahren Lehrer vertreibt und entzieht, um so auf’s Wenigste die Kinder und Nachkömmlinge wieder zu falscher Religion zu bringen.
Daraus folget das Andere, daß durch diese Art der Verfolgung das römische Papstthum manche Reiche und Provinzen, die entweder ganz die Wahrheit der Lehre erkannt, oder in denen doch viel guter Saame ausgestreut gewesen, wieder so unter sich gebracht hat, daß keine oder nur wenige Bekenner der evangelischen Wahrheit in denselben sind; während sonst die Verfolgungen allezeit die Vermehrung der Christen gewirket, und das Blut der Märtyrer der beste Dünger des Kirchen-Ackers stets gewesen.
Wir haben daher weit mehr über den unglücklichen Erfolg dieser Verfolgungen, als über die Verfolgungen selbst zu klagen, und wie Josua (Jos. 7,5.6.), als sein vorher siegreiches Heer von den Einwohnern zu Ai geschlagen wurde, und die Israeliten, als sie vor Benjamin zweimal fliehen mußten (Richter 20,21-26), daraus abnahmen, daß um begangner Sünden willen der Herr von ihnen müßte gewichen sein, und ihn daher mit demüthiger Buße wieder suchten, so ist uns diese Macht, welche Gott unsern Gegnern giebt, ein gewisses Zeugniß, daß unsere ganze Kirche keineswegs in dem Stande sei, in welchem sie sich befinden sollte, und viel Glieder darunter sein müssen, die von Außen scheinen, aber im Schmelzen die Probe nicht halten.
Die andere und vornehmste Ursache des Jammers unserer Kirche ist die, daß sie innerlich fast durch und durch zerrüttet ist, ausgenommen, daß uns Gott doch nach seiner überschwenglichen Güte sein Wort und heilige Sakramente gelassen hat. Wo ist ein Stand, von dem wir rühmen könnten, daß es in ihm stehe, wie die Vorschriften des Wortes Gottes erfordern?
Sehen wir den weltlichen Stand an, und in demselben diejenigen, welche nach göttlicher Verheißung, Jes. 49,23 Pfleger und Säugammen der Kirche sein sollten, ach, wie Wenige sind unter denselben, welche sich erinnern, daß ihnen Gott ihr Scepter und Regiment dazu gegeben, um ihre Macht zur Förderung seines Reiches zu gebrauchen, sondern die meisten großen Herren leben in den Sünden und weltlichen Lüsten, welche das Hofleben gewöhnlich mit sich führt, ja die fast als unzertrennlich davon geachtet werden, während andere Obrigkeiten ihren eigenen Nutzen suchen, so daß man aus solchem Leben mit Seufzen abnehmen muß, daß Wenige unter denselben nur wissen, was das Christenthum sei, geschweige daß sie selbst solches haben und üben sollten! Wie viele sind derer, die sich um das Geistliche durchaus nicht bekümmern, sondern mit Gallion Ap. Gesch. 18,12-17 dafür halten, es gehe sie nichts an, als das Zeitliche? Auch unter denen, die sich noch der Kirche anzunehmen gedenken, wie viele sind nicht derer, die sich vollkommen damit begnügen, daß die hergebrachte reine Religion möge erhalten und vor Beeinträchtigung der Falschen bewahret werden, womit es doch noch lange nicht ausgemacht ist? Ja, von Vielen ist zu fürchten, daß ihr Eifer, den sie noch für unsere Religion zeigen, vielmehr aus politischen Beweggründen, als aus Liebe der Wahrheit herrühre? Wie undankbar sind ihrer Viele für die große Güte Gottes, welche sie von dem harten Joche des Papstthums, welches vor etlichen hundert Jahren die damals lebenden gekrönten Häupter hart gedrückt hat, befreiet und freien Gebrauch ihrer Herrschaft und Macht gegeben hat, daß sie jetzt ihre Gewalt, die ihnen zur Beförderung der Wohlfahrt, nicht zur Unterdrückung der Kirche verliehen worden ist, durch eine unverantwortliche Cäsaro-Papie mißbrauchen, und es so muthwillig hindern, wo etwa einige von Gott dazu erweckte Diener der Kirche etwas Gutes zur Besserung derselben zu stiften versuchen wollen. Das geht so weit, daß manchen Gemeinden, deren Obrigkeit einer andern Religion zugethan ist, und sie wohl in manchen äußerlichen Dingen etwas leiden läßt, aber doch in der Uebung dessen, was zu ihrer Erbauung dienet, nicht behindert, besser gerathen ist, als denen, deren Obrigkeit von ihrer Religion ist, aber oft ebendeshalb mehr Hindernisse, als Nutzen stiftet.
Wie es nun in dem weltlichen Stande betrübt genug aussieht, ach, so mögen wir Prediger in dem geistlichen Stande nicht läugnen, daß auch dieser Stand ganz verderbet sei, und also von den beiden oberen Ständen das meiste Verderben in die Gemeinden übergehe. Jener alte Kirchenvater hat also zu schließen befohlen: „Gleichwie Du, wenn Du einen verdorreten Baum mit abgestorbenen Blättern siehst, schließest, es müsse ein Mangel an der Wurzel sein, also kannst Du, wenn Du das Volk zuchtlos siehest, mit Recht schließen, daß es ihm an einer heiligen Priesterschaft fehle.“ Ich erkenne gern unsers göttlichen Berufes Heiligkeit, auch weiß ich, daß Gott in unserm Stande die Seinen übrig behalten hat, die das Werk des Herrn treulich meinen; auch möchte ich nicht mit Elias Prätorius auf der andern Seite zu weit gehen, und das Kind mit dem Bade ausschütten; sondern der allsehende Herzenskündiger siehet, mit welcher Betrübniß meiner Seele ich es schreibe: Daß wir Prediger in unserm Stande so viele Reformation bedürfen, als irgend ein anderer Stand bedürfen mag. Gott hat auch gemeiniglich, so oft er eine Reformation vorgehabt, z.B. im Alten Testamente durch die gottseligen Könige, dieselbe bei dem geistlichen Stande lassen anfangen. Ich nehme mich auch nicht aus von der Zahl derer, welche in unserm Stande bisher des Ruhms mangeln, den wir vor Gott und der Kirche haben sollten, sondern sehe mehr und mehr, was mir mangelt, bin auch bereit, von Andern fernere Erinnerungen brüderlich anzunehmen. Ja es betrübt mich nichts mehr, als ich fast nicht sehe, wie in solcher gräulichen Verderbniß unser Einer sein Gewissen retten möge.
Wir müssen ja bekennen, daß in unserm Stande nicht nur hin und wieder Männer gefunden werden, die sogar von öffentlichen Aergernissen nicht frei sind, sondern daß auch derjenigen viel weniger sind, als man dem ersten Anscheine nach urtheilen sollte, welche das wahre Christenthum (das ja nicht bloß in Enthaltung von äußerlichen Lastern, und in einem äußerlichen ehrbaren Leben besteht) recht verstehen und üben; denn es blicket auch bei Vielen, deren Leben, wo es mit gemeinen und von der Weltmode eingenommenen Augen angesehen wird, untadelhaft scheinet, gleichwohl der Weltgeist in Fleischeslust, Augenlust und hoffärtigem Leben, wenn auch noch so fein, doch so hervor, daß sich erkennen läßt, man habe die erste praktische Grundlage des Christenthums, die Verläugnung seiner selbst, noch niemals mit Ernst vorgenommen.
Man sehe auf die Art, wie die Meisten Beförderungen und Aenderungen im Amte suchen, man sehe auf ihre Lehre, Amtsverrichtungen und Leben, mit wenn auch noch so liebreichen, doch mit dem Lichte des Geistes erleuchteten Augen, was gilts, ob man nicht von Vielen, von denen man gern aus christlicher Liebe besser urtheilen wollte, endlich doch dergleichen finden würde, was sie selbst nicht sehen, wie tief sie noch in dem natürlichen Wesen stecken, und die rechten Kennzeichen der Wiedergeburt nirgends in der That haben? So möchte Paulus noch an vielen Orten klagen, Phil. 2,21: „Sie suchen alle das Ihre, nicht das Christi Jesu ist.“ Nun giebt Solches nicht nur großes Aergerniß, wo es von Andern erkannt wird, sondern das größte Aergerniß ist eigentlich da, wo es nicht erkannt wird, und die Leute, die allezeit nach der Unart unserer Natur lieber nach Exempeln, als nach der Lehre urtheilen, auf die Gedanken kommen, das sei schon das rechte Christenthum, was sie an ihren Predigern sehen, und hätten sie nicht nöthig, weiter zu gehen. Ja, was das Betrübteste ist, daß das Leben vieler Prediger, dem alle Glaubensfrüchte fehlen, deutlich anzeiget, daß es ihnen selbst an dem Glauben mangele, und das, was sie für Glauben halten, durchaus nicht der rechte, aus des heiligen Geistes Erleuchtung, Zeugniß und Versiegelung durch’s göttliche Wort erweckte Glaube, sondern eine menschliche Einbildung sei, indem sie aus dem Buchstaben der Schrift ohne Wirkung des heiligen Geistes, aus menschlichem Fleiß, wie Andere in andern Gegenständen dadurch etwas erlernen, die rechte Lehre zwar gefaßt haben, und sie Andern vorzutragen wissen, aber von dem himmlischen Licht und Leben des Glaubens ganz entfernt sind. Daraus will ich zwar nicht folgern, als könnte durch solche Männer und deren Dienst gar nichts Gutes gewirket, oder bei Jemandem der wahre Glaube und Bekehrung zu Wege gebracht werden, denn das Wort empfängt seine göttliche Kraft nicht von der Person dessen, der es vorträgt, sondern hat dieselbe in sich selbst; deswegen freuet sich auch Paulus Phil. 1,15.18: daß nur Christus gepredigt werde, wenn auch von Etlichen um Haß und Haders willen (diese aber können nicht füglich wiedergeborne Kinder Gottes gewesen sein; wenn nun Niemand von ihrer Predigt Nutzen gehabt hätte, so würde er keine Ursach zur Freude gehabt haben); – aber gleichwohl wird ein verständiger Christ nicht läugnen können, daß dergleichen Männer, die selbst den wahren göttlichen Glauben nicht haben, auch nicht im Stande sind, ihr Amt also zu führen, wie es sich gehört, um durch das Wort eine wahre Sinnesänderung bei ihren Zuhörern hervorzubringen; denn zunächst können sie nicht erhörlich beten, wodurch ein gottseliger Prediger vielen Segen erlanget, sodann muß ihnen die göttliche Weisheit fehlen, welche der braucht, der Andere mit allem erforderlichen Nachdruck lehren, und auf den Weg des Heils führen soll. Daher zweifle ich gar nicht, daß wir bald eine ganz andre Kirche haben würden, wenn nur wenigstens der größte Theil von uns Lehrern so wäre, daß wir ohne Erröthen mit Paulo unsern Gemeinen zurufen dürften 1 Kor. 11,1: „Seid meine Nachfolger, gleichwie ich Christi.“ Statt dessen finden wir, daß eine nicht geringe Anzahl Prediger selbst nicht für nöthig hält, was der Apostel Eph 4,21 seinen Ephesern, als eine allgemein anerkannte Wahrheit in Erinnerung bringt, daß in Jesu ein rechtschaffenes Wesen sei; – alle diese erklären also den in der Bibel bezeichneten Weg zur Seligkeit für unnöthig. Wenn aber der Prediger selbst solchen Irrthum hegt, wie will er die Zuhörer so weit bringen, als es nöthig ist?
Ich erschrecke und schäme mich fast, so oft ich daran gedenke, daß die Lehre von der ernstlichen innerlichen Gottseligkeit Etlichen sogar verborgen oder unbekannt sein sollte, daß, wer dieselbe mit Eifer treibt, bei Einigen kaum den Verdacht eines heimlichen Papisten, Weigelianers oder Quäckers vermeiden kann. Der selige D. Balthasar Meißner, welcher als reiner Lehrer bekannt ist, hat zu seiner Zeit geklagt, „daß man kaum mehr des Weigelianismi und neuen Sektirer Lehre unverdächtig bleiben könne, wenn man mit billigem Eifer die Gottseligkeit treibe, und stets ermahne, das, was gelehret wird, in die Uebung zu bringen.“ Dasselbe beklaget auch mein vielgeliebter Schwager, Herr D. Johann Ludwig Hartmann in seinem pastorali evangelico disp. 3, wo er anführet, wie man auch auf den so hochverdienten seligen D. Johann Gerhard einen ähnlichen verläumderischen Verdacht zu bringen versucht. Wo aber kann das Elend und Verderben größer sein, als wenn man das Lobenswerthe zur Ursache eines Verdachtes und bösen Nachrede machet? Das heißt ja: „sie reißen den Grund um, was sollte der Gerechte ausrichten?“
Ueberhaupt sind derer Viele, die den Schaden Josephs in vielen Dingen nicht verstehen, sondern, wenn wir nur eben von den andern Religionspartheien keine Noth hätten, und äußerlicher Friede wäre, meinen, die Kirche wäre in der glücklichsten Lage; sie sehen also derselben gefährliche Wunden gar nicht, wie sollen sie denn verbinden oder heilen? Daher kommts, daß nicht Wenige fast alles allein auf die Controversien setzen, und meinen, es sei der Sache stattlich gerathen, wo wir nur wissen, wie Papisten, Reformirten, Wiedertäufern u.s.w. auf ihre Irrthümer zu antworten sei, es gehe übrigens mit den Früchten der Artikel, die wir etwa auch noch mit ihnen gemein haben, und mit den Alle verpflichtenden Lebensregeln, wie es wolle. Nun gehören freilich die Controversien auch mit zur Theologie, und wir sollen nicht nur wissen, was wahr ist, um demselben zu folgen, sondern auch, was falsch ist, um dasselbe zu widerlegen, aber sie sind doch weder das Einzige, noch Vornehmste. Es klagte der alte und erfahrene Kirchenlehrer Gregorius von Nazianz (Epist. 21) sehr bedächtlich zu seiner Zeit über solche Streitsucht, was eben so auf unsere Zeiten zu ziehen ist: „Wir sind alle allein darin gottselige Leute, daß wir Einer den Andern als Gottlose verdammen. Wer gut oder böse sei, beurtheilen wir nicht nach dem Leben, sondern nachdem sie in der Lehre mit uns eins oder uneins sind. Es sind Einige, welche unter sich über geringe und unnütze Dinge streiten, und sich dann thörlich und vermessen Anhänger suchen, so viel sie nur aufbringen können, dann geben sie vor, als wäre der Glaube in Gefahr, und so wird dieser vortreffliche Name durch Privatstreitigkeit und Zänkereien verunehret.“ Wer erkennt aber nicht auf den ersten Augenschein, wenn der liebe Vater sollte heute wieder aufstehen, daß er zu derselben Klage genug Ursache finden würde! Es wäre wohl nöthig, daß des der Kirche Bestes so hochverständigen D. David Chyträi Rede, wie man das theologische Studium nicht sowohl in zanksüchtigen Disputationen, als in der Uebung der Gottseligkeit suchen sollte, jährlich etliche Mal allen Studenten vorgelesen würde. Dahin zielet auch der selige Rostockische Theologe D. Johann Affelmann, wenn er nach dem Zeugniß seines getreuen Schülers, des seligen Heinrich Varenius (in dessen Christl. Rettung von Joh. Arndts Wahrem Christenthum II. 149) die Studenten der Theologie in einem Programm also angesprochen: „Wir stehen nicht an, diejenigen für verflucht zu erklären, die mit Hintansetzung aller ernsten Uebung der wahren Gottseligkeit und gewissenhaften Pflege des inwendigen Menschen die Hauptsache der Theologie im Disputiren suchen, und also Gott nur die Zunge, dem Teufel aber die Seele ergeben, wie Bernhardus redet (Rede 24 über d. Hohelied). Denn wir wissen, daß Christus sei, zugleich, nicht getrennt, der Weg, die Wahrheit und das Leben, Joh. 14,6. Der Weg ist er wegen seines Lebens, worin wir ihm mit höchstem Fleiß nachfolgen müssen; die Wahrheit wegen seiner Lehre, die wir mit gläubigem Herzen anzunehmen haben; das Leben, wegen seines Verdienstes, das wir mit wahrem Glauben ergreifen sollten. Ach, würde hieran fleißiger gedacht, wie viel besser sollte es stehen!
Aber wir können auch nicht in Abrede stellen, ob wir wohl durch Gottes Gnade die reine Lehre aus Gottes Wort noch übrig haben, daß gleichwohl hin und wieder allmählich in die Theologie viel Fremdes, Unnützes, und mehr nach der Weltweisheit Schmeckendes eingeführt werde, worin mehr Gefahr steckt, als man denken mag. Es sollten uns billig die Worte des hocherleuchteten Luther an die von Erfurt im Sinn liegen (Leipziger Ausgabe XVIII. S. 192): „Hütet Euch, Satan hat es im Sinn, daß er Euch mit dem Unnöthigen aufhalte, und das Nöthige damit hindere, und wenn er eine Hand breit zu Euch einbricht, will er hernach den ganzen Körper mit Secten voll unnützer Fragen einführen, wie er bisher in den hohen Schulen durch die Philosophie gethan hat.“ Also hören wir, wie es nicht ein geringer Schade sei, wenn man außer und über der Schrift will klug und scharfsinnig sein, und doch fehlt es an solchen Exempeln nicht.
Man vergleiche unsers theuern Luthers Schriften, wo derselbe von Erklärung des göttlichen Worts, oder den christlichen Glaubensartikeln handelt, und die Werke vieler andern gleichzeitigen Theologen mit einem großen Theil der heut herauskommenden Schriften, so wird man wahrhaftig finden, wenn man es redlich herausbekennen will, so viel geistreiche Kraft und in höchster Einfalt vorgetragene Weisheit in jenen angetroffen und herausgefühlet wird, so leer sind die Neueren, in denen sich etwa mehr menschliche prächtige Gelehrsamkeit und gekünsteltes Wesen aufgehäuft findet, und vorwitzige Grübeleien in Dingen, wo wir nicht sollten weiser sein wollen, als die Schrift. Und ich weiß es nicht, ob unser seliger Herr Lutherus, wenn er wieder aufstehen sollte, nicht auch an unsern Universitäten Manches würde zu strafen finden, was er mit Eifer zu seiner Zeit den damaligen tadelnd vorgerückt. Es ist zwar diese Klage nicht neu; der stattliche Mann D. David Chyträus, welcher vor vielen Andern die Mängel der Kirche eingesehen, und wegen seiner vortrefflichen Erfahrung und christlichen Klugheit von Königen und Fürsten mit Anordnung von Kirchen und Schulen öfters ist beauftragt worden, klagte schon also im vergangenen Jahrhundert in einem Schreiben an Hier. Menzel (Episteln S. 348): „Wollte Gott, spricht er, wir gewöhnten unsre und unserer Zuhörer Gemüther, in der Furcht des Herrn, Buße und Bekehrung und Schrecken vor dem Zorn und Gericht Gottes über die Sünde, vielmehr zur Uebung der wahren Gottseligkeit, Gerechtigkeit und Liebe zu Gott und dem Nächsten, als zu disputirlichen Zanksachen, wodurch nur angezeigt wird, daß die bei vorigen Zeiten gewesene Sophisterei nicht weggenommen, sondern nur auf andere Fragen und Streitigkeiten umgewechselt oder verändert sei.“ Wiederum schreibt er einem Andern: „Es schmerzt mich, nachdem die Theologie kaum aus der Finsterniß der päpstlichen Sophisterei hervorgekommen, daß sie allzusehr auf eine neue Sophisterei unnützer und vorwitziger Fragen zurückfällt, da doch die christliche Religion nicht eben in der Wissenschaft und Spitzigkeit vorwitziger Fragen, deren in dieser Zeit allzuviel erneuert werden, sondern darin besteht, daß wir den wahren Gott und unsern Erlöser Jesum Christum aus seinem Wort recht erkennen, inniglich fürchten, und aus wahrem Glauben lieb haben, ihn anrufen, ihm im Kreuz und im ganzen Leben gehorsam sein, auch andere Leute von Herzen lieben und ihnen mitleidiglich helfen, in aller Gefahr unsers Lebens, ja auch im Tode selbst mit festem Vertrauen auf die in Christo uns erworbene Gnade uns stützen, und erwarten, daß wir mit Gott ewiglich leben mögen.“
Wie sehr klaget auch der wohlverdiente selige D. Nicolaus Selneccer in der Vorrede über die Psalmen, da er sagt: „Man finde allewege mehr Bücher, die voll Disputirens, Zankens, Scheltens und Lästerns, und voll streitiger Händel sind, die doch zu nichts, als zu dem Schulgezänk allein dienen, als man feine Lehr- und Trostbücher finde und kaufen könne, die fein schlecht und recht das Wort Gottes auslegten, und rechte, reine Lehre führeten. Noch soll es alles köstlich Ding sein, besser als kein Heiligthum, so es doch gemeiniglich voll Leidenschaft, heimlicher Rachgier, und Verwirrung der Wahrheit stecket. Man thue hinweg Menschengedanken, die ohne Gottes Wort und heiligen Geist gehen, und thue davon unnöthiges Gezänk und Disputiren, eigne Rachgier, Ehrgeiz und Lästern, so wird man gewißlich jetziger Zeit wenig gute Bücher finden, die jetzt geschrieben werden.“ Damit stimmet auch der weiland Coburgische Superintendent M. Dünckel überein, der auch den Schaden dabei bemerket, der davon entstehet: „Darüber wird die rechte praktische Theologie, das ist, die Lehre von Glauben, Liebe und Hoffnung hintangesetzet, und wird dadurch wiederum eine stachlichte, dornige Theologie auf die Bahn gebracht, welche Herzen und Seelen ritzet und kratzet, wie vor den Zeiten Luthers auch gewesen.“ Aber wie herzlich dies nun alle diese und andre wohlmeinende Lehrer beklagt und Besserung gewünschet, so ist doch fast nichts damit ausgerichtet worden, sondern der Augenschein giebt es, daß solches Verderben eher zu- als abgenommen habe, wie zu Anfange dieses Jahrhunderts der tiefdenkende selige D. Johann Valentin Andreä in vielen Schriften nicht nur sehnlich beklaget, sondern auch ziemlich empfindlich gegeißelt hat. Doch es wird tauben Ohren gepredigt.

So lernen wir Vieles, das wir öfter wünschen sollten, nicht gelernt zu haben, und das, daran uns mehr, ja Alles gelegen ist, wie wir oben aus Luthers Worten gehört, wird darüber versäumt. Das erfahren gar manche christliche Theologen, wenn sie durch Gottes Gnade erst in ein Amt kommen, daß ihnen ihr Lebenlang ein großer Theil der Dinge nichts nützt, worauf sie ihre saure Arbeit und schweren Kosten gewendet; so wie sie hingegen fast auf’s Neue anfangen müssen, das Nothwendigere zu studiren, wovon sie nun wünschen, daß sie es vorher erkannt hätten, und dazu mit Fleiß und Weisheit angeleitet worden wären. Es mangelt auch selbst zu unsern Zeiten nicht an Männern, die es mit der Kirche Gottes wohl meinen und diesen Fehler bemerken; so habe ich nicht ohne besondere freudige, aber weil keine Frucht davon gekommen, auch schmerzliche Bewegung gelesen, was der christliche Würtembergische Theologe Herr D. Balthasar Raith, mein in der That erkannter und in dem Herrn geehrter Gönner, in der Leichenrede des berühmten seligen Herrn D. Zeller 1669 zu Tübingen erwähnet, wie noch erst vor wenig Jahren, der um die sächsische Kirche wohlverdiente selige Theologe D. Weller auf dem Reichstage zu Regensburg Zellers persönlichen Umgang gesuchet hat, um mit ihm zu berathen, wie man doch die scholastische Theologie, welche Luther zur vordern Thüre hinausgetrieben, Andere aber zur hintern wieder einlassen wollten, aufs Neue in der evangelischen Kirche herausschaffen, und die rechte biblische Theologie wiederum einführen könnte. Ach wenn Gott die damaligen Rathschläge solcher würdiger Theologen gesegnet hätte, oder noch künftig die, welche eben dergleichen verlangen, segnete, so wäre das eine der größten Wohlthaten, welche wir seiner himmlischen Güte zu verdanken hätten; denn dieser Mangel thut mehr Schaden, als die Meisten denken. Die Gemüther werden dadurch an dergleichen Dinge gewöhnet, wovor längst St. Paulus seinen Timotheus gewarnt, und befiehlt ihm 1 Tim. 1,4-7 zu lehren, „daß sie nicht Acht hätten auf die Fabeln und der Geschlechter Register, die kein Ende haben; und bringen Fragen auf, mehr denn Besserung zu Gott im Glauben, da doch die Hauptsumme des Gebotes ist Liebe von reinem Herzen, und von gutem Gewissen, und von ungefärbten Glauben, welcher haben Etliche gefehlet und sind umgewandt zu unnützem Geschwätz; wollen der Schrift Meister sein und verstehen nicht, was sie sagen, oder was sie setzen.“ Wiederum sagt er 1 Tim. 6,3-5: „So Jemand anders lehret, und bleibet nicht bei den heilsamen Worten unsers Herrn Jesu Christi (solche sind aber lauter Einfalt, und nicht menschliche Spitzfindigkeit, sondern göttliche Weisheit) und bei der Lehre von der Gottseligkeit (hier laßt uns den Zweck unserer Studien wahrnehmen), der ist verdüstert, und (wenn er sich einbildet, der gelehrteste Mann in Israel zu sein, und alles zu wissen gerühmet wird) weiß (er doch) nichts, sondern ist seuchtig in Fragen und Wortkriegen, aus welchen entspringet Neid, Hader, Lästerung, böser Argwohn, Schulgezänke solcher Leute, die zerrüttete Sinne haben, und der Wahrheit beraubt sind, die da meinen, Gottseligkeit sei ein Gewerbe.“ So hat er auch seine Colosser 2,8 treulich gewarnet: „Sehet zu, daß euch Niemand beraube durch die Philosophie und lose Verführung nach der Menschen Lehre, und nach der Welt Satzungen und nicht nach Christo.“ Wenn nun ein Gemüth angefüllet ist mit einer solchen Theologie, die zwar den Glaubensgrund aus der Schrift behalten, aber so viel Holz, Heu und Stoppeln menschlichen Vorwitzes darauf gebauet hat, daß man jenes Gold kaum mehr sehen kann, so wird es über alle Maaßen schwer, wenn es nur die rechte Einfalt Christi und seiner Lehrer fassen und gern annehmen soll, weil es den Geschmack so mit andern unserer Vernunft angenehmeren Dingen verwöhnet, daß ihm nachher jenes ganz abgeschmackt vorkommt. Ein solches Wissen aber, so ohne die Liebe bleibet, blähet auf, 1 Kor. 8,1, es lässet den Menschen in seiner Eigenliebe, ja heget und stärket dieselbe mehr und mehr; denn solche der Schrift unbekannte Subtilitäten kommen gewöhnlich bei denjenigen, die sie zuerst vorgebracht, aus der Begierde her, ihren Scharfsinn an den Tag zu legen, es Andern zuvor zu thun, und sich einen großen Namen, wovon sie auch in der Welt Nutzen hätten, zu verschaffen. So wie sie aber aus Ehrgeiz entsprungen, so sind sie auch vielmehr geeignet, bei denen, die damit umgehen, ebenfalls Ehrsucht und andre einem wahren Christen nicht geziemende Leidenschaften zu erregen, als wahre Gottesfurcht zu befördern. Wenn man in solchen Dingen sich geübet, so fängt man an, sich darauf viel einzubilden, wenn man schon vom einzig Nothwendigen, das man für viel zu gering hält, wenig oder nichts versteht; da kann man dann schwerlich lassen, in der Kirche Christi zu Markte zu bringen, worin man sich am Besten gefällt, und dies allein zu treiben, obwohl die heilsbegierigen Zuhörer davon wenig Erbauung finden. Wenn nun solche Leute den ganzen Zweck, den sie sich vorgesetzt, erreicht haben, so besteht’s darin, daß sie die im Nachdenken Geübten unter ihren Zuhörern dahin bringen, daß sie eine ziemliche Kenntniß der Religionsstreitigkeiten bekommen, und für ihre größte Ehre achten, mit Andern zu disputiren, Lehrer und Zuhörer aber in dem Gedanken bleiben, daß die richtige Erkenntniß und Behauptung der reinen Lehre die Hauptsache sei, wenn sie auch mit menschlichem Fürwitz sehr verdunkelt wird. Wie kann man aber da sogar nicht mit St. Paulo sich darauf berufen 1 Kor. 2,45: „Mein Wort und meine Predigt waren nicht in vernünftigen Reden menschlicher Weisheit, sondern in Beweisung des Geistes und der Kraft, auf daß Euer Glaube bestehe nicht auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft.“ Ja wir könnten wohl sagen, wenn der so hocherleuchtete Apostel jetzt zu uns käme, würde er wohl selbst Vieles nicht verstehen, was zuweilen solche eingebildete Köpfe an heiliger Stätte vorbringen; das macht, er hatte seine Weisheit nicht von Menschenkunst, sondern von der Erleuchtung des Geistes, die so weit, als Himmel und Erde von einander sind, und so wenig menschliche Weisheit die göttliche Erleuchtung begreift, so wenig können die von Gott erleuchteten Seelen sich zu jenen kraftlosen Phantasien herablassen.
Siehet es nun also in den beiden obern Ständen aus, welche den dritten Stand sollten regieren und zu der wahren Gottseligkeit führen, so kann man leicht denken, wie es in diesem Letztern nicht besser gehe, und die Regeln Christi überall hintangesetzt werden, wie der Augenschein lehret.
Unser lieber Heiland hat uns längst das Merkmal seiner Jüngerschaft gegeben, Joh. 13,35: „Dabei wird Jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe unter einander habt.“ Hier wird die Liebe zum Kennzeichen gemacht, und zwar eine Liebe, die sich öffentlich hervorthue nach 1 Joh. 3,18: „Meine Kindlein, lasset uns nicht lieben mit Worten, noch mit der Zunge, sondern mit der That und mit der Wahrheit.“ Urtheilen wir nun nach diesem Kennzeichen, wie schwer wird es unter dem großen Haufen derer, die den Namen „Christen“ führen, nur eine geringe Anzahl wahrer Jünger Christi zu finden? Und gleichwohl trügt des Herrn Wort nicht, sondern wird wahr bleiben nun und in Ewigkeit. Man sehe doch das gewöhnliche Leben unserer sogenannten Lutherischen an (sie tragen aber diesen Namen mit Unrecht, weil sie die Lehre des theuern Luther von dem lebendigen Glauben nicht erkennen), finden wir nicht schwere Aergernisse, ja solche, die ganz allgemein verbreitet sind? Ich will nichts sagen von solchen Lastern, die auch die Welt für Unrecht hält, denn derselben Aergerniß thut endlich so viel Schaden nicht, aber viel schwerer ist das Aergerniß, das mit solchen Sünden gegeben wird, die man entweder gar nicht oder doch nicht für so große, schwere Sünden hält. Unter diese Zahl gehöret die Trunkenheit, denn sie herrscht nicht nur in großen und kleinen Orten, im geistlichen und weltlichen Stande, sondern findet sogar ihre Vertheidiger, welche es für keine Sünde halten, sich bei Gelegenheit mit einem guten Freunde zu betrinken, sobald es nur nicht zu oft geschehe, wenn sie auch allenfalls zugeben, daß der, welcher gar ein Handwerk daraus machen wollte, sich damit versündige. Daher wird diese Sünde niemals bußfertig erkannt, denn wäre das, so müßte ein solcher Haß gegen sie entstehen, daß man sie nun und nimmermehr wieder begehen möchte, möchte uns dazu verleiten, wer da wolle. Aber kommt nicht dem Volke das ganz fremd und ungereimt vor, daß man auch diese Sünde ein für allemal lassen müsse, wenn man ein Kind Gottes sein wolle? Vielmehr gelten in den Augen des größten Theils unsers Volks die, welche wider solche Sünden eifern, für wunderliche Leute; und man sucht eine Menge anderer nichtiger Ursachen auf, warum sie dieser Ergötzlichkeit feind sind, um nur nicht ihre Lehre in diesem Punkt für göttlich zu erkennen – was sie gleichwohl ist, denn St. Paulus setzet 1 Kor. 6,9.10. die Trunkenbolde unter keine vor Gott ehrlichere Gesellschaft, als zu den Hurern, Abgöttischen, Ehebrechern, Weichlingen, Knabenschändern, Dieben, Geizigen, Lästerern, Räubern, die alle überhaupt nach seiner Erklärung vom Reiche Gottes ausgeschlossen werden.
Dabei kommt man nicht mit der Behauptung durch, als werden in dieser Stelle nur die gemeint, welche sich alle Tage betränken und ihre einzige Freude darin suchten, nicht aber die, welche es seltener, bei besondern Gelegenheiten, Andern zu Gefallen thäten; denn zu geschweigen, daß die Richtigkeit dieses Einwurfs auch anderweitig aus der Schrift dargethan werden kann, so möchte ich nur solche Leute fragen, ob sie nur der Menschen Leben für verdammlich halten, welche alle Tage hureten, die Ehe brächen, Knaben schändeten, stählen, raubten – oder ob sie nicht zugeben müßten, daß einmal des Jahrs, oder gar des Monats solche Sünden zu thun, schon zu viel sei, und solche lasterhafte Leute, wenn sie nicht rechtschaffen Buße thäten, der Seligkeit verlustig gehen? Wenn ich nun erwarten darf, daß dies Letztere von Allen werde erkannt werden, die nur etwas göttliche Erkenntniß haben, wie kommt’s denn, daß wir allein die Sünde der Trunkenheit für so gering halten, daß wir nur bei deren stets wiederholter Ausübung ihre Strafbarkeit zugeben wollen? Denn was haben wir anders zu deren Vertheidigung, als die alte hergebrachte Gewohnheit der Deutschen? Meinen wir aber, daß unsere Gewohnheiten Gottes Wort aufheben? Gewiß so wenig, als man obigen Worten Pauli mit Bestand hätte entgegen halten können, daß bei den Griechen solche Gewohnheit auch eingerissen gewesen wäre. Ja, so wenig wir die Laster anderer Völker, z.B. Unzucht, Diebstahl u. dgl. deswegen nicht für Laster halten werden, weil sie bei ihnen zur Gewohnheit geworden sind, so wenig können wir unsre Trunkenheit entschuldigen, und um so viel weniger wird sich der gerechte Gott von uns einen Strich durch sein Gesetz machen lassen. Wenn aber Einige deshalb die Trunkenheit nicht für eine so schwere Sünde wollen gelten lassen, weil sonst die wahren Christen unter uns gar zu dünne möchten gesäet sein; so stimme ich dieser Folgerung bei, und schließe noch weiter, daß diese Sünde um so gefährlicher, je allgemeiner sie ist, und je weniger sie als Sünde erkannt wird, so daß man sich sogar wie die Sodomiter derselben rühmt, oder sie beschöniget, oder ganz gering geachtet haben will.
Man betrachte ferner die Menge der Prozesse, und man wird finden, wenn man sie recht untersucht, daß dieselben höchst selten ohne Verletzung der christlichen Liebe und in den rechtmäßigen Schranken auch nur von einer Seite geführt werden. Es ist zwar nicht Unrecht, sich der göttlichen Hülfe durch die Obrigkeit zu bedienen, und sie gerichtlich zu suchen, aber wir müssen uns doch dabei gegen den Nächsten so verhalten, wie wir verlangen, daß er sich gegen uns verhalten solle. Daß dies aber in der Regel nicht geschieht, sondern die Meisten, welche ihr Recht bei der Obrigkeit suchen, die Hülfe derselben nur zu einem Mittel gebrauchen, um ihre Rachgier, Unbilligkeit und sündlichen Begierden zu befriedigen, das ist abermal eine Sünde, welche nicht dafür gehalten wird, und woran man daher in der Buße fast gar nicht denkt.
Siehet man auf die Handlungen, Handwerke, und andere Berufsarten, womit Jeder seinen Lebensunterhalt suchet, so sind dieselben so wenig nach den Regeln Christi eingerichtet, daß vielmehr nicht wenig öffentliche Verordnungen und hergebrachte Gebräuche in denselben ihnen schnurstracks zuwider laufen. Wie selten bedenkt Jemand, daß die Absicht seiner Berufsarbeiten nicht blos seine eigene Erhaltung und die Erwerbung seiner Nothdurft sein solle, sondern ebensowohl seines Gottes Ehre und des Nächsten Nutzen! Daher hält man es nicht für Sünde, wenn man solche Vortheile gebrauchet, die in der Welt keinen bösen Namen nach sich ziehen; sondern wohl als Klugheit und Vorsichtigkeit gerühmet werden, ob sie gleich unserm Nebenmenschen sehr beschwerlich sind, und ihn wohl gar unterdrücken und aussaugen. Die auch die besten Christen sein wollen, machen sich hierüber wohl kein Gewissen. So hat die leidige Gewohnheit die Regeln unsers Christenthums verdunkelt, daß es uns ungereimt erscheinen will, wenn man in den einzelnen Fällen das verlangt, was im Allgemeinen von Allen zugestanden wird, den Nächsten zu lieben, wie uns selbst; denn die Kraft dieser Worte wird wenig erwogen.
Zwar ist die Gemeinschaft der Güter, welche in der ersten Jerusalemitischen Kirche gewesen, unter den Christen nicht geboten, aber wer denket wohl daran, daß eine andre Gemeinschaft der Güter durchaus nothwendig sei? Muß ich nämlich erkennen, ich habe nichts Eignes, sondern es sei Alles meines Gottes Eigenthum, ich aber nur ein darüber bestellter Haushalter, so steht mir keinesweges frei, das Meinige für mich zu behalten, wie und so lange ich will, sondern wo ich sehe, daß die Liebe erfordert, das Meinige zu Ehren des Hausvaters und meiner Mitknechte Nothdurft anzuwenden, darf mich alsdann kein Bedenken zurückhalten, alsbald dasselbe als ein gemeinschaftliches Gut hinzugeben, welches mein Nebenmensch zwar nach weltlichem Recht nicht fordern, ich ihm aber ohne Verletzung des göttlichen Rechts der Liebe nicht vorenthalten darf, sobald ihm dadurch wirklich geholfen werden kann. Sind das nicht fast fremde Lehren, wenn man davon redet? Und doch ist es eine nothwendige Folge der christlichen Liebe, und in der ersten Kirche durch und durch gewesen, so daß weder die Gemeinschaft, da Niemand etwas Eigenes hatte, die Gelegenheit der Tugend und christlichen Liebe aufhob, noch das weltliche Eigenthum ein Hinderniß der brüderlichen Liebe wurde. Daher hatten bei den ersten Christen die Reichen keinen andern Vortheil, als, weil sie auch reich sein mußten in guten Werken, 1 Tim. 6,18, die Sorge und Mühe, ihr Eigenthum recht zu verwalten, indem sie alle Augenblicke bereit waren, es da anzuwenden, wo sie ihre Liebe gegen Gott und den Nächsten bezeugen konnten, und des Letztern Nothdurft sahen. Die Armen aber hatten keine andre Beschwerde (wenn es für Beschwerde zu halten), als daß sie nicht von ihrem Eignen, sondern von ihrer Brüder Handreichung lebten, und bedurfte es unter den Brüdern keines Bettelns, denn sie hätten es für ebenso ungeziemend gehalten, es unter sich zu dergleichen kommen zu lassen, als es Gott im Alten Testamente in seiner wohlgeordneten Polizei-Ordnung den Juden nicht gestatten wollte, 5 Mos. 15,4. Jetzt aber ist es dahin gekommen, daß das Betteln ganz allgemein ist, da man es doch vielmehr als ein Mittel, Deckmantel und Beförderung vieler großen Sünden, eine Beschwerde der zu christlicher Milde geneigten Personen, eine Verkürzung der wirklich Nothdürftigen, einen schändlichen Mißstand des gemeinen Wesens, ja als einen Schandfleck unsers Christenthums ansehen sollte; die Meisten wissen sogar kaum noch von einer andern Wohlthätigkeit gegen den nothdürftigen Nächsten, als dann und wann den Bettlern mit Unwillen einige Pfennige darzureichen, und sie sind weit davon entfernt, zu erkennen, daß sie auch zu solchen Liebeserweisungen verbunden, wobei sie die Ausgaben merklich spüren sollten. Im alten Testament mußte man nach göttlicher Verordnung mehr als den Zehnten (denn wie aus dem Gesetz zu sehen, waren desselben etliche Arten) zur Unterhaltung des Predigtamtes, Gottesdienstes und der Armen zurücklegen und anwenden, sollten nicht die von Christo reichlicher uns erzeigten Wohlthaten uns bereitwillig machen, nicht weniger, sondern noch mehr und Alles, was wir haben, hinzugeben, wenn es die Nothdurft des Nächsten erfordert? Daß dies nicht geschiehet, und daß auch die Mildigkeit der wohlthätigsten Leute fast niemals weiter geht, als aus dem Ueberfluß mitzutheilen, Marc. 12,44, zeigt ziemlich deutlich, wie fern wir von Uebung der recht ernstlichen Bruderliebe seien, so, daß wir kaum glauben wollen, was sie erfordert. Es ist der Ort nicht, Alles auszuführen; aus diesen Exempeln aber erhellet genugsam, daß solche Sünden unter uns herrschen, die ungeachtet des deutlichen Zeugnisses der Schrift nicht für Sünden gehalten werden, und deren Aergerniß desto mehr schadet.
Dabei bleibt es auch nicht, sondern sehen wir die Art, Gott zu dienen, an, wie sie bei dem großen Haufen gewöhnlich ist, so ist sie nicht gemäß unserer heilsamen Lehre, wie der selige D. Paul Tarnow in seiner „Rede vom neuen Evangelium“ so herrlich dargethan, aus welcher man erkennen kann, wie gründlich der eifrige Mann dasjenige, wo es mangele, eingesehen, daher zu wünschen wäre, daß sie in aller Händen sich befände. Wir erkennen gern, daß wir einzig und allein durch den Glauben selig werden müssen, und daß die Werke, oder der gottselige Wandel weder viel noch wenig zur Seligkeit beitragen, sondern diese nur als eine Frucht des Glaubens zu der Dankbarkeit gehören, zu welcher wir Gott verbunden sind, nachdem er bereits unserm Glauben die Gerechtigkeit und Seligkeit geschenkt hat. Es sei ferne von uns, von dieser Lehre nur einen Fingers breit zu weichen, da wir lieber das Leben und die ganze Welt, als das Geringste von dieser Lehre daran geben wollten. Also erkennen wir auch gern die Kraft des göttlichen gepredigten Worts, daß es eine Kraft Gottes sei, selig zu machen Alle, die daran glauben, Röm. 1,16, so daß wir nicht nur darum dasselbe fleißig zu hören verbunden sind, weil’s uns befohlen ist, sondern auch darum, weil es die göttliche Hand ist, welche die Gnade anbietet, und dem Glauben überreicht, der das Wort selbst durch des heiligen Geistes Gnade erweckt. So weiß ich auch die Taufe und deren Kraft nicht hoch genug zu preisen, und glaube, daß sie das eigentliche Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des heiligen Geistes sei, Tit. 3,5, oder wie unser Luther im Katechismus sagt: „daß sie wirke Vergebung der Sünden, erlöse von Tod und Teufel, und gebe (nicht nur verspreche) die ewige Seligkeit.“ Nicht weniger erkenne ich gern die herrliche Kraft des nicht nur geistlichen, sondern auch sakramentalischen, mündlichen Genusses des Leibes und Blutes des Herrn im heiligen Abendmahl, und widerspreche in diesem Punkte den Reformirten von Herzen, wenn dieselben läugnen, daß wir solches Pfand unserer Erlösung in, mit und unter dem Brodt und Wein empfangen, und die Kraft desselben schwächen, indem sie keine andere darinnen erkennen, als welche auch außer dem heiligen Sakrament bei dem geistlichen Genusse befindlich. Wie ich nun die Lehre unserer Kirche in allen diesen Stücken mit Herz und Mund führe, und mir daher Luthers Schriften, in denen wir davon mehr, als in irgend einem andern Schriftsteller finden, um so angenehmer sind, so kann ich nicht in Abrede sein, daß ich finde, wie bei dem großen Haufen, der doch auch evangelisch heißet, gar andre Gedanken und Einbildungen herrschen, die unserer Lehre und dem Bekenntniß unserer Kirche zuwider sein.
Wie viel sind derer, welche ein so offenbar unchristliches Leben führen, daß sie selbst gestehen müssen, es gehe in allen Stücken von der Regel ab, auch keinen Vorsatz haben, künftig anders zu leben, und sich doch bei alle dem fest einbilden, daß sie demungeachtet selig werden wollen? Fraget man, worauf sich ihre Hoffnung gründe, so wird es sich finden, was sie auch selbst bekennen, daß sie sich darauf verlassen, wir dürften ja nicht aus unserm Leben selig werden, nun glaubten sie ja an Christum, und setzten all’ ihr Vertrauen auf ihn, daher könne es nicht fehlen, sie würden gewiß durch solchen Glauben selig, halten also die fleischliche Einbildung eines Glaubens für den Glauben, der da selig mache, welches ein so schrecklicher Betrug des Teufels ist, als irgend ein Irrthum gewesen oder noch sein mag, einem solchen Hirngespinnst eines sichern Menschen die Seligkeit zuzuschreiben, denn der göttliche Gedanke kann nicht ohne den heiligen Geist, dieser aber nicht bei vorsätzlichen und herrschenden Sünden sein. Ach wie redet unser theurer Luther so gar anders von dem Glauben, wenn er in der Vorrede über die Epistel an die Römer spricht: „Glaube ist nicht der menschliche Wahn und Traum, den Etliche für Glauben halten; und wenn sie dann sehen, daß keine Besserung des Lebens und gute Werke folgen, und doch vom Glauben viel hören und reden können, fallen sie dann in den Irrthum und sprechen, der Glaube sei nicht genug, man müsse Werke thun, soll man fromm und selig werden. Das macht, wenn sie das Evangelium hören, so fallen sie dahin, und machen ihnen aus eigenen Kräften einen Gedanken im Herzen, der spricht: ich glaube; das halten sie dann für einen rechten Glauben; aber wie es ein menschliches Gedicht und Gedanken ist, den des Herzens Grund nimmer erfähret, also thut er auch nichts und folget keine Besserung hernach. Aber der Glaube ist ein göttlich Werk in uns, das uns wandelt und neu gebieret aus Gott, Joh. 1,13, und tödtet den alten Adam; machet aus uns ganz andre Menschen von Herzen, Muth, Sinn und allen Kräften, und bringet den heiligen Geist mit sich. O es ist ein lebendig, geschäftig, thätig Ding um den Glauben, daß unmöglich ist, daß er nicht ohne Unterlaß sollte Gutes wirken. Er fragt auch nicht, ob gute Werke zu thun sind, sondern ehe man fraget, hat er sie gethan, und ist immer im Thun.“ Andre Orte führen wir nicht an, wo er eben so redet, sonderlich lies in der Kirchenpostille Sommer-Theil S. 65 a, wo er den göttlichen und menschlichen Glauben recht nachdrücklich beschreibt, und beide gegen einander hält. Es ist also gewiß, daß bei Allen, die in herrschenden Sünden leben, und daher des heiligen Geistes und des rechten Glaubens nicht fähig sind, kein anderer Glaube sein kann, als ein dergleichen menschlicher Wahn; wie groß ist aber ihre Zahl!
Die leere Einbildung des Glaubens, dieses von unsrer Seite einzigen Mittels zur Seligkeit, thut also großen Schaden, dazu kommt in Beziehung auf die von Gott verordneten Gnadenmittel des Worts und Sakraments eine andere schädliche Einbildung, als genügte schon der bloße äußerliche Gebrauch derselben, wodurch die Kirche nicht weniger verwüstet wird, viele Menschen zur Verdammniß geführt, und in der falschen Einbildung des wahren Glaubens gestärket werden. Denn wir können nicht läugnen, sondern werden durch die tägliche Erfahrung davon überzeugt, daß nicht Wenige meinen, ihr ganzes Christenthum bestehe darinnen, und alsdann hätten sie dem Gottesdienst übrig genug gethan, wenn sie eben getauft wären, das Wort Gottes in der Kirche hörten, beichteten, die Absolution empfingen und zu dem heiligen Abendmahl gingen, mag nun das Herz dabei sein oder nicht, mögen Früchte folgen oder nicht; wenn’s hoch kommt, bemühen sie sich etwa dabei ein solches Leben zu führen, darin eben die Obrigkeit nichts Strafbares findet. Oder wie der theure Johann Arndt solcher Leute Einbildung beschreibt in seinem Wahren Christenthum Buch 2, Kap. 4: „Ich bin ein Christ, getauft, habe Gottes Wort rein, höre dasselbe, brauche das heilige Sakrament des Abendmahls, ich glaube und bekenne auch alle Artikel des christlichen Glaubens; darum kann es mir nicht mangeln, mein Thun muß Gott gefallen, und ich muß selig werden. So schließt jetzt alle Welt, und hält auch dafür, darinnen bestehe die Gerechtigkeit.“ Man seh am angegebenen Orte auch die Antwort. Aber damit kehren solche blinde Leute Gottes heilige Absicht ganz um; denn Gott hat dir freilich die Taufe gegeben, daß du nur einmal getauft werden darfst; aber er hat mit dir darin einen Bund gemacht, welcher auf seiner Seite ein Gnadenbund, von der deinigen aber ein Bund des Glaubens und guten Gewissens ist; dieser Bund muß nun dein Leben lang währen. Du tröstest dich also vergeblich deiner Taufe, und der darin zugesagten Gnade der Seligkeit, wenn du auf deiner Seite nicht auch in dem Bunde des Glaubens und guten Gewissens bleibest, oder, wenn du ihn verletzt, wiederum durch herzliche Buße ihn wieder aufrichtest. Also muß deine Taufe, soll sie dir nützen, in steter Uebung des ganzen Lebens bleiben. Wiederum du hörest das Wort Gottes. Ist recht gethan, aber es ist nicht genug, daß dein Ohr es höret; lässest du es auch innerlich in dein Herz dringen, und solche himmlische Speise daselbst verdauet werden, daß du Saft und Kraft davon empfangest, oder es gehet zu einem Ohr hinein, zum andern hinaus? Im ersten Fall gilt dir freilich das Wort des Herrn Luc. 11,28: „Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren;“ ist aber das Letztere, so kann das Werk, daß du es gehöret hast, dich nicht selig machen, wohl aber deine Verdammniß vergrößern, daß du die empfangene Gnade nicht besser angewendet. Wie viel sind aber nun derer, welche selbst nicht einmal sagen können, daß sie Gottes Wort bei sich lassen Frucht bringen, und dennoch sich einbilden, das solle sie selig machen, daß sie ihrer Meinung nach mit dem Kirchengehen Gott solchen Gehorsam und Dienst geleistet haben!
So geht es auch mit der Beichte und Absolution, die wir freilich für ein kräftiges Mittel des evangelischen Trostes und der Vergebung der Sünden halten, aber keinen Andern, als den Gläubigen. Doch trösten sich damit so Viele, bei denen nicht das Geringste von dem oben beschriebenen, wahren Glauben sich findet, beichten und lassen sich absolviren bei aller fortwährenden Unbußfertigkeit, und bilden sich ein, daß ihnen dies nützen soll, weil sie die Beichte gesprochen haben, und die Absolution über sie gesprochen ist. Dasselbe geschieht beim heiligen Abendmahl, wobei unglaublich viel Leute nur daran gedenken, daß sie das heilige Werk verrichten, und ob sie es oft verrichtet haben. Aber ob sie auch das geistliche Leben bei sich lassen gestärket werden, ob sie mit Herzen, Mund und Nachfolge des Herrn Tod verkündigen, ob der Herr bei ihnen wirke und herrsche, oder ob sie den alten Adam noch auf seinem Thron lassen, daran wird kaum gedacht. Das heißt ja recht unvermerkter Weise den schädlichen Irrthum des operis operati, den wir an den Katholiken tadeln, einigermaßen wieder einführen. Daran ist nun nicht die Lehre unserer Kirche Schuld, welche solchen Einbildungen eifrig widerspricht, sondern das ist der Menschen Bosheit und des Teufels List, welcher die von Gott verordneten Mittel zur Seligkeit den Menschen zur Veranlassung größerer Sicherheit und desto schwererer Verdammniß zu machen suchet. Außerdem ist nicht zu leugnen, daß manche Prediger mit mehr Fleiß solcher Sicherheit und falschen Einbildungen widersprechen und den Leuten die Augen öffnen sollten, wodurch Mehrere noch aus ihrem Schlafe aufgeweckt, und aus dem Verderben gerissen werden könnten. Dies ist leider der betrübte Zustand der äußerlichen Gestalt unserer evangelischen Kirche, obwohl dieselbe die wahre und in der Lehre rein ist. Daran stoßen sich zunächst die Juden, die unter uns wohnen; diese werden in ihrem Unglauben gestärket, ja zur Lästerung des Namens des Herrn gereizt, denn sie können unmöglich glauben, daß wir Christum für einen wahren Gott halten, wenn wir seinen Geboten so wenig folgen, oder sie müssen unsern Herrn Jesum für einen bösen Menschen halten, wenn sie ihn und seine Lehre aus unserm Leben beurtheilen. Wir können also nicht läugnen, daß das Aergerniß, welches die armen Leute an uns nehmen, eine große Ursach der bisherigen Verstockung der Juden und ein bedeutendes Hinderniß ihrer Bekehrung gewesen. Wie Andere, so hat dies mit nachdrücklichen Worten beseufzet der hochberühmte Straßburgische, nachmals aber Rostockische Professor D. Johann Georg Dorscheus, wenn er in einem Programm zu der von Herrn L. Jakob Helwig über die Materie des apostolischen Geheimnisses Röm. 11,25.26. zu haltenden Disputation also redet: „Wie früher die Juden, so viel an ihnen war, verhinderten, daß den Heiden das Evangelium gepredigt würde, so verscherzen die Christen ihr eignes Heil, und hindern die Seligkeit der Juden und anderer Ungläubigen, die sie vielmehr befördern und zu Wege bringen sollten, denn sie leben in den schädlichsten Aergernissen, Gottlosigkeit, Heuchelei, Ungerechtigkeit, Betrügerei, Unreinigkeit, andern erschrecklichen Lastern, Spaltungen, Haß, Streit, grausamen und erschrecklichen Kriegen, sonderlich und hauptsächlich aber haben sie das Band der heiligsten brüderlichen Liebe zerrissen. Wenn denn aber solche Dinge, die bei dem seligmachenden Glauben durchaus nicht bestehen können, unter uns auf eine so auffallende Weise herrschen, wer sollte denn nicht den so höchst verderbten, gefährlichen und fast verzweifelten Zustand unserer Kirche bitterlich beweinen? Wer sollte zweifeln, daß nicht unsre Tage die Letzten und recht schwere Zeiten seien? Wer sollte nicht die Meisten von denen, die Christi Namen bekennen, unter die Zahl derjenigen rechnen müssen, welche um ihres Unglaubens willen durch Gottes strenges Gericht sollen abgehauen werden? Denn das heutige gottlose und verruchte Leben der Christen, die zwar den Schein der Gottseligkeit haben, aber ihre Kraft verläugnen, und durch Mißbrauch der göttlichen Langmuth und Güte sich den Zorn als einen Schatz häufen, ist ja nichts anders, als ein lauter Zeuge des herrschenden boshaften Unglaubens.“
Nächstdem ärgern sich auch an uns allerhand Irrgläubige, besonders aber finden die uns feindseligen Katholiken des Prahlens kein Ende, als wäre dieses die Frucht der Lehre des Evangelii und der Reformation Luthers; wie denn ihre Vorwürfe in öffentlichen Schriften am Tage liegen; und obwohl dieselben von gottseligen Lehrern längst beantwortet worden, so unterlassen sie doch nicht, sie immer zu wiederholen, und mit solchen Vorgeben die Schwachen unter uns irre zu machen, die Ihrigen aber in dem Widerwillen gegen unsere Religion zu bestärken. Andere, auch wohlmeinende Gemüther, sind hierdurch auf die Gedanken gekommen, wir steckten noch eben so in Babel, als die römische Kirche, und könnten uns also des Ausganges nicht rühmen.
Sonderlich aber ist es Gott allein bekannt, mit was für Wehmuth gottselige Herzen solches betrübte Wesen ansehen, und mit wie viel tausend Seufzern und Thränen sie den Schaden Josephs bejammern, daß sie dergleichen mit Augen schauen, und doch keine Hülfe mehr absehen, sondern bemerken müssen, daß es fast immer ärger werden wolle. Wie oft rufen sie mit David Ps. 119,53: „Ich bin entbrannt über die Gottlosen, die dein Gesetz verlassen.“ V. 136: „Meine Augen fließen mit Wasser, daß man dein Gesetz nicht hält.“ V. 139: „Ich habe mich schier zu Tode geeifert, daß meine Widersacher dein Wort vergessen.“ V. 158: „Ich sehe die Verächter und thut mir wehe, daß sie dein Wort nicht halten!“ Es schmerzet sie um so viel mehr, dergleichen Gräuel zu sehen, je herzlicher sie ihren Gott lieben, und je sehnlicher sie seines Namens Heiligung, seines Reiches Erweiterung und seines Willens Vollbringung befördert sehen möchten, welches daher auch die Gegenstände ihres täglichen Gebetes sind. Es jammert sie so vieler Seelen, die sie in solcher Gefahr wissen. Es wird ihnen selbst schwer, unter solchen Aergernissen sich von der Welt unbefleckt zu erhalten, und sie sind besorgt, daß nicht etwa sie selbst, oder doch die Ihrigen, von diesem Strom des Verderbens endlich mit hingerissen und verführet werden möchten. Unter solchen Umständen kann die Freude über den äußerlichen ruhigen Wohlstand, wenn sie Gott damit gesegnet, den tiefen Schmerz über den allgemeinen Jammer nicht heben; und erhielte sie nicht die starke Hand Gottes und versicherte sie, wenn sie auch die allgemeine Besserung nicht erlebten, sollten sie doch mit Baruch Jer. 45,5 ihre Seele zur Beute davon bringen, so würden sie gar in ihrer Betrübniß versinken.
Dieses Verderben unserer evangelischen Kirche ist auch die vornehmste Ursache, wodurch viele gute Gemüther, die in andern irrgläubigen Gemeinden, sonderlich aber der römischen Kirche befindlich sind, abgehalten werden, zu uns sich zu verfügen, obwohl sie den in ihrer Kirche herrschenden Gräuel so deutlich erkennen, daß sogar Katholiken den Papst und seinen Stuhl für den von Gott verkündigten Antichrist erkennen, und zuweilen ihres Herzens Grund in wehmüthigen Klagen blicken lassen. Wenn sie also auch bei dieser Erkenntniß der bei ihnen herrschenden Irrthümer und Gräuel bereit wären, sich einer offenbaren Gemeine Jesu Christi mit Freuden einzuverleiben, wenn sie eine solche wüßten, so kommen sie doch endlich auf die Gedanken, es müsse keine reine Kirche mehr auf der Welt sein, sondern die Kinder Gottes lägen noch gefangen in Babel, daher sie mit Geduld der göttlichen Erlösung erwarten und in solcher babylonischen Knechtschaft mit Furcht und Zittern Gott dienen müßten, wobei sie sich der gröbsten Gräuel, so viel sie noch könnten, enthielten, die Uebrigen aber beseufzeten. Außer diesem sehen sie kein anderes Mittel, und leben also in steter Unruhe und Angst ihres Herzens. Denn die Meisten von ihnen sehen unsere Kirche nicht anders an, als wie sie in die Augen fällt, indem ihnen unsere Lehre nicht bekannt ist; Andere, welche diese kennen, halten die Lehre für einen bloßen Vorwand, wenn ihr das Leben nicht entspricht, und wissen, daß das Reich Gottes nicht in Worten, sondern in der Kraft bestehet; daher halten sie unsere Kirche so wenig für die wahre, als die ihrige, sondern Alles für ein babylonisches Mischmasch, da kein Theil vor dem Andern viel voraus habe, und es daher nicht werth sei, von Einer zur Andern zu gehen. Wir können demungeachtet solche Leute nicht entschuldigen, denn sie haben genug Gelegenheit, die Lehre unserer Kirche zu fassen, und wären, wenn sie diese mit Gottes Wort übereinstimmend, die ihrige aber dagegen streitend fänden, in ihrem Gewissen verbunden, daß sie dann der auf’s Wenigste in der Lehre reinen Kirche sich zugesellten, in welcher sie der göttlichen Verheißung Jes 55 gemäß mit Recht hoffen dürften, wahre fromme Kinder Gottes anzutreffen, in deren Bekenntniß sie keinem Irrthum beizupflichten, und bei deren Gottesdienst sie keiner Abgötterei oder ähnlicher Sünden sich theilhaftig zu machen gedrungen würden, und sich also dennoch rein erhalten könnten, wenn sie auch vieles Aergerniß sehen. Denn damit geschieht uns offenbar zu viel, wenn man um der oben berührten Aergernisse willen unsere Kirche zu Babel zählen will. Was die geistliche Babel sei, haben wir von Niemanden anders, als dem heiligen Geiste zu lernen, derselbe aber hat sie Offenb. 18,5.9.18. durch Johannis Feder also beschrieben, daß man mit halbgeschlossenen Augen doch noch finden kann, wie nichts anderes damit gemeint sein kann, als Rom, die große Stadt, die das Reich hatte über die Könige auf Erden, und nachdem sie das weltliche Regiment über den Erdkreis verloren, solches im Geistlichen wieder zu erringen suchet. Wir haben nun nicht die Macht, das geistliche Babel nach eigenem Gutdünken außer der Anleitung der Schrift zu bestimmen; es kann also keine Gemeinde zu Babel gehören, welche Babel und deren Regiment öffentlich verwirft, und ihr weder in irgend etwas zu Willen ist, noch sich von derselben regieren läßt, wenn sie auch sonst Mängel, und etwas von den in Babel angenommenen bösen Sitten an sich hätte.
Wir können einmal Gott nicht genug für solche Wohlthat danken, daß er uns durch das selige Reformationswerk, wie dort die Juden durch das Cyrus-Edikt unter dem Hohenpriester Josua und Fürsten Serubabel, aus der römischen babylonischen Gefangenschaft ausgeführet, und in die selige Freiheit gesetzet hat. Es ist uns aber beinah so gegangen, wie den alten Juden. Es waren die Juden zwar wiedergekommen, sie hatten Stadt und Land innen, man fing an zu bauen, auch wurde im zweiten Jahre der Grund zu dem Hause des Herrn gelegt, aber es fehlte nicht an Widerwärtigen, die ihnen im Wege standen, und sogar von dem Könige Arthasastha ein Verbot, im Tempelbau fortzufahren, auswirkten, daß derselbe bis in das zweite Jahr des Darius ganz liegen bleiben mußte. Dazu kam auch die große Nachläßigkeit der Juden, die damit zufrieden, daß sie aus Babel erlöset wieder etlichermaaßen ihren Gottesdienst haben konnten, nun sich nicht sonderlich beeiferten, denselben in den rechten Stand zu bringen, sondern ihres zeitlichen Friedens und Ruhe genossen, und nach Hagg. 1,2 sich entschuldigten: „Die Zeit ist noch nicht da, daß man des Herrn Haus baue,“ was der Herr durch Haggai 1,4 strafen läßt: „Aber eure Zeit ist da, daß ihr in getäfelten Häusern wohnet, und dies Haus muß wüste stehen.“ Da waren die Juden zwar aus der Gefangenschaft, aber ihr Zustand im Geistlichen und Weltlichen war noch gar nicht wie er sein sollte, und die Geringschätzung des Hauses des Herrn klebte ihnen von Babel her so an, daß es vielleicht im Geistlichen nicht gar viel besser mit ihnen gestanden, als in der Gefangenschaft, bis endlich durch ernstliches Zureden der Propheten Sacharja und Haggai unter der Aufsicht Serubabels und Josua’s der Tempel vollendet wurde. Damit war aber immer noch nicht Alles gethan, was geschehen sollte, und noch nicht Alles aufgerichtet, was der König von Babel vordem zerstört hatte, sondern Esra, der Schriftgelehrte, und nach ihm Nehemia thaten noch Vieles zur Bestellung des Kirchenwesens, Wiederherstellung der Stadtmauern und Einrichtung der bürgerlichen Ordnung, wie hievon die beiden Bücher Esra und Nehemia nachzulesen sind, wo man Vieles findet, welches sich auf die heutige Zeit schickt. So wenig man nun daraus, daß eine lange Zeit das jüdische Kirchenwesen in Jerusalem nicht in der Lage war, in der es hätte sein sollen, hätte schließen können, daß sie noch in der babylonischen Gefangenschaft wären, eben so wenig können jetzt die, welche gegen die göttliche Wohlthat undankbar sind, wegen unsers mangelhaften Zustandes behaupten, daß wir noch zu Babel gehören. Aber gleichwie sich die Juden nicht mit ihrem Ausgang aus Babel begnügen, sondern darnach trachten sollten, auch das Haus des Herrn und seine schönen Gottesdienste wieder aufzurichten, also sollten auch wir nicht dabei stehen bleiben, daß wir uns des Ausgangs aus Babel bewußt sind, sondern endlich Sorge tragen, den noch vorhandenen Mängeln abzuhelfen.
Diesen Zweck nun haben die Klagen gottseliger Herzen, die unsern elenden Zustand beseufzen, nämlich, daß wir uns unter einander ermuntern, das Werk des Herrn immer ernstlicher zu treiben, als etwa bis dahin geschehen ist. Damit sind nun auch einiger Leute Einwürfe zu beantworten, welche, uns abhalten wollen, solche Fehler und Schande unserer Kirche aufzudecken, damit unsre Widersacher dieselben nicht merkten, sondern sie verborgen blieben. Es wäre nämlich allerdings unverantwortlich, wenn Jemand solche Gebrechen der Welt vor Augen legte, um sich damit zu kützeln, wie einen Ham oder Kanaan, der seines Vaters Noah Blöße mit Wohlgefallen und Spott ansiehet, der Fluch treffen wird; aber die Klagen gottseliger Gemüther kommen, wie der Herzenskündiger selbst sieht, aus einer gar andern Absicht, nämlich aus inniger Liebe und Eifer für Gottes Ehre, deren Schmälerung wir beseufzen und Verlangen tragen, ob dadurch der Eine oder Andere bewogen werden möchte, sich der Sache ernstlicher anzunehmen. Es ist ja eitel Liebe, wenn ich gefährliche Schäden aufdecke, um sie denen zu zeigen, die sie heilen sollen.
Wir decken auch nichts auf, was nicht leider ohnedies vor Augen liegt, und wollen der heimlichen Gebrechen im Einzelnen nicht gedenken, es ist also vergeblich, das Offenbare vor den Widersachern bedecken zu wollen; bilden wir uns das ein, so müssen wir uns sehr schmeicheln, wenn wir denken, als sähen sie unsre Gebrechen nicht viel schärfer, als wir selbst. Der Feind hat Luchsaugen, und siehet Manches, was der Andre an sich selbst nicht wahrnimmt; wenn wir daher auch das, was Jene längst gesehen, verhehlen wollten, so gewinnen wir damit nichts, als daß später uns Allen Solches aufgerückt wird, gleich als ob wir es noch einigermaaßen vertheidigen wollten; wogegen wenn man die Fehler erkennet und sein herzliches Mißfallen daran bezeiget, um so deutlicher hervortritt, daß nicht die ganze Kirche daran Schuld habe. Da unsre Gegner zudem solche Gebrechen ganz anders ansehen, als flössen sie nämlich aus unserer Religion selbst, und sei das ganze Herz vergiftet, so können wir nicht anders zeigen, daß der Schaden doch nur in den Gliedern und im Aeußerlichen stecke, als wenn wir denselben ohne Bemäntelung zeigen. Auch haben unsre Gegner, besonders die römische Kirche, gar keine Ursach, das Bekenntniß unserer äußerlichen Gebrechen zu ihrem Vortheil zu mißbrauchen, denn der Gräuel und Hauptgebrechen zu geschweigen, welche ihr von den Unsrigen vor der ganzen Welt aufgedeckt werden, so haben in alter und neuer Zeit redliche und besonnene Leute aus geistlichem und weltlichem Stande unter ihren eigenen Gliedern, ihr dergleichen, was sie nicht läugnen kann, vorgehalten, und thun das noch täglich, daher sie vielmehr darüber zu erröthen und vor ihrer Thür den Unrath wegzukehren, als sich damit zu rühmen hat, daß bei Andern nicht Alles rein sei. Ja, wir können der römischen Kirche mit gutem Recht nachweisen, daß wir einen großen Theil der Fehler, die sich bei uns noch finden, von ihr geerbt haben, und dieselbe bei ihr auf ähnliche oder andere noch viel gröbere Art im Schwange gehen. Um indessen die Kirche zu bessern, das Verlangen frommer Herzen zu erfüllen, und den Irrenden die Pforte zur Erkenntniß der Wahrheit weiter zu eröffnen, sollte uns sowohl Gottes Ehre, als die Liebe zur Kirche dazu antreiben, sorgfältiger und fleißiger alle diese Gebrechen zu erwägen, und nicht selbst zu unserm eignen Schaden die Augen zuzuschließen, da doch unsre Gegner ohne unser Zeugniß von selbst Alles genug gewahr werden. Wer hierinnen des Herren ist, der muß auch, so gut er kann, die Hand mit anlegen, als in einer gemeinen Sache.
Sehen wir die heilige Schrift an, so dürfen wir nicht zweifeln, daß Gott noch seiner Kirche hier auf Erden einen bessern Zustand versprochen habe. Wir haben zuerst die herrliche Weissagung St. Pauli und das von ihm offenbarte Geheimniß Röm. 11,25.26, daß, nachdem die Fülle der Heiden eingegangen, ganz Israel selig werden solle, daß also, wenn nicht das ganze, doch ein bedeutender Theil des bis daher noch so verstockt gewesenen Jüdischen Volks zu dem Herrn bekehrt werden solle. Darauf werden auch, wenn man sie recht untersuchet, viele Stellen der Propheten im Alten Testament, z.B. Hos. 3,4.5, hindeuten; wie denn nächst den alten Kirchenvätern auch fast die bedeutendsten unserer Kirchenlehrer dieses Geheimniß in der angeführten Stelle des Apostels erkannt haben, obwohl wir auch nicht verschweigen wollen, daß unser sonst werther Lehrer D. Luther selbst, und mit ihm verschiedene unserer auch angesehenen Männer in Zweifel haben ziehen wollen, daß es Paulus so gemeint habe, wie doch der Buchstabe lautet, und dafür halten, es sei diese Verheißung schon ganz in den von der Apostel Zeiten bis jetzt Bekehrten zur Genüge erfüllt. Wir wollen uns dieser Meinung zwar nicht mit weitläuftigen Widersprüchen entgegenstellen, oder dieselbe ausführlich widerlegend tadeln, denn wir wissen wohl, daß auch Erleuchtete leicht den rechten Verstand einer Weissagung verfehlen können, ehe sie erfüllt ist, aber wir können uns doch auch eben so wenig von dem Buchstaben, mit dem der ganze Zusammenhang dieser paulinischen Stelle lieblich übereinstimmt, abtreiben lassen, hoffen auch, daß uns Solches Niemand verargen werde.
Nächstdem haben wir auch noch einen größern Fall des päpstlichen Roms zu erwarten, denn ob ihm zwar ein merklicher Stoß von unserm seligen Luther gegeben worden, so ist doch desselben geistliche Gewalt noch viel zu groß, als daß wir behaupten könnten, die Weissagung Offenb. Joh. 18 und 19 sei erfüllt, wenn man betrachtet, mit was für nachdrücklichen Worten dieselbe von dem heiligen Geist in diesen Stellen beschrieben wird. Erfolgen nun diese beide Stücke, so sehe ich nicht, wie man zweifeln könne, daß nicht die wahre Kirche überhaupt in einen viel seligern und herrlichern Stand kommen werde, als sie ist. Denn wenn die Juden bekehrt werden sollen, so muß entweder die wahre Kirche bereits in einem heiligern Stande, als jetzt, sich befinden, damit ihr heiliger Wandel zugleich ein Mittel jener Bekehrung werden, oder wenigstens das durch die bisherigen Aergernisse gegebene Hinderniß hinweggeräumt sein möge; oder wenn sie durch göttliche Kraft auf sonst eine Weise, die wir nicht vorher sehen können, bekehrt würden, so ist wiederum sehr wahrscheinlich, daß das Beispiel eines solchen neubekehrten Volks eine merkliche Aenderung und Besserung unserer Kirche nach sich ziehen werde; indem sich bei den neubekehrten Juden ohne Zweifel eben der Eifer zeigen wird, wie bei den ersten aus den Heiden bekehrten Christen zu sehen gewesen. Wir dürfen also mit Recht hoffen, daß die gesammte, aus Juden und Heiden gesammelte Kirche mit heiligem Eifer gleichsam in die Wette in reinem Glauben und dessen reichen Früchten Gott dienen, und sich an einander erbauen werde. Dazu wird viel beitragen, wenn zugleich nicht nur das Aergerniß des antichristischen Roms abgethan sein wird, sondern auch die, welche jetzt in demselben unter der schweren Tyrannei leben, und, weil sie sich, wie viele vor Luthers Zeiten, nirgends anders hinzuwenden wissen, nach der Erlösung sehnlich seufzen, von ihren Banden befreit mit Freuden zu der Freiheit des Evangelii gelangen werden, sobald ihnen solches helle in die Augen leuchtet.
Wenn uns nun das Alles von Gott verheißen ist, so muß nothwendig auch dessen Erfüllung zu seiner Zeit folgen, indem nicht ein Wort des Herrn auf die Erde fallen, noch ohne Erfüllung bleiben kann. Indem wir aber solche Erfüllung hoffen, so dürfen wir uns nicht damit begnügen, unthätig darauf zu warten, und mit denen, die Salomo Narren heißt, über dem Wünschen zu sterben, sondern wir sind Alle verpflichtet, daß wir nicht säumig sind, zu thun, so viel wir eines Theils zur Bekehrung der Juden und geistlichen Schwächung des Papstthums, oder andern Theils zur Besserung unserer Kirche beitragen können; und wenigstens so viel thun, als möglich ist, wenn wir auch deutlich sehen sollten, daß nicht eben der ganze Zweck völlig erreicht werden könnte.
Es ist gar kein Zweifel, daß auch ohne uns, wir mögen uns dazu schicken, wie wir wollen, der Rathschluß Gottes ausgeführet, und die Verheißung der Schrift erfüllt werden wird, aber wir sollen bedenken, daß auch uns gelte, was dort Mardochai seiner Nichte Esther (4,14) sagen läßt: „Wo Du wirst zu dieser Zeit schweigen, so wird eine Hülfe und Errettung aus einem andern Orte den Juden entstehen, und Du und Deines Vaters Haus werdet umkommen.“ Wenn wir, welchen Gott durch den Dienst Luthers das helle Licht des Evangelii wiederum geschenket, säumig sind, hierinnen das zu thun, was unsers Amtes ist, so wird Gott anderwärts Hülfe schaffen, und seine Ehre retten; aber das könnte leicht mit schwerer Strafe über unsere Saumseligkeit geschehen, indem wir ohnedies mit großer Undankbarkeit tausendmal verschuldet haben, daß Gott solches Licht von uns nehme und damit zu Andern gehe. Ich kann nicht wohl unterlassen, eine sehnliche Klage des vortrefflichen Theologen Erasmus Sarcerius hierher zu setzen, welcher besser als viele Andre das Wohl der Kirche verstand, und in seinem Buche von den Mitteln und Wegen die rechte und wahre Religion zu befördern und zu erhalten, S. 344 also spricht: „Wo Gottes Wort fällt, da fällt zugleich die ganze rechte und wahre Religion. Wo die fällt, da kann und mag Niemand selig werden. Nun will man unsere Sünden, unser ruchloses, gottloses, sicheres Schand- und Bubenleben, ja Frevel und Muthwillen mit der Juden und unserer Vorfahren Missethat vergleichen, so achte ich, wir würden nicht weit von einander sein. Und ist das meine redliche Meinung, daß es nicht möglich sei nach unserm Urtheil und Gericht, daß die rechte und wahre Religion bei unserm teuflischen Epikurischen und Sardanapalischen Leben bestehen könne. Ist aber das nicht ein Jammer, daß wir blinden und verstockten Deutschen, die rechte, wahre Religion mit unserm Unverstande und unordentlichen Leben verjagen sollen? So ist auch kein Aufhören, Niemand gedenket sich zu bessern. Noch wäre sündigen menschlich, aber das ist der Teufel gar, daß man nicht will leiden, daß man Sünde strafen soll. Und ist noch eine große Hoffnung, wenn man sündigt, und dann noch die Strafe darüber leiden kann. Daraus ich nun schließen muß, es sei mit der rechten und wahren Religion am besten gewesen. Ich fürchte leider, daß das Evangelium noch gepredigt werde, geschieht mehr zum Zeugniß, denn zur Besserung. Wie denn auch Christus gesagt Matth. 25, das Evangelium wird in den letzten Tagen, (denn von dieser Zeit redet er) gepredigt werden zum Zeugniß, und soll es auch noch dahin gelangen, wie Christus weiter geweissagt (wenn der Sohn des Menschen kommen wird, ob er auch Glauben auf Erden wird finden), so muß es also zugehen, und muß Niemand keiner Zucht und Disciplin achten, wie denn, Gott erbarm, geschieht, daß ein Jeder uns arme Prediger lehren und schreien läßt: Thut Buß und bekehret Euch! und thut doch gleichwohl ein Jeder, was er will. Die Obrigkeit thut nichts zur Disciplin, die Unterthanen wollen sie nicht. Etliche treue Prediger wollen sie gerne aufrichten, und ist ihnen in einem solchen zerrütteten und ruchlosen Leben nicht möglich. Noch müssen sie das Beste thun und darum die Sache nicht verloren geben, es helfe denn, an wem es wolle. Nur, wie uns die rechte und wahre Religion angelegen ist, also denken wir auch auf Mittel und Wege, dieselbe zu behalten. Ich weiß keinen Rath, und ob ich ihn gleich wüßte, so folget Niemand; ich muß für meine Augen sehen, und vielleicht auch noch erleben (was ich doch nicht begehre), daß die liebe Religion muß aus Ungnaden Gottes von wegen unserer Sünde und Missethat wieder dahin und zu Boden gehen, wie sie aus Gottes Gnaden zu uns kommen ist.“ Hat der liebe Mann schon vor mehr als hundert Jahren diese Sorgen gehabt, so haben wir es nicht weniger zu besorgen, da nichts darin gebessert, sondern der Zorn immer mehr und mehr gehäuft worden ist, so daß wohl Gott Andre bekehren, und uns verlassen könnte. Daher haben wir alle Ursache, nicht sicher zu sein, sondern auf uns selbst Achtung zu geben, und nichts zu versäumen, daß doch unsere Kirche in einen andern und bessern Zustand gebracht werde.
Es darf hier Niemand denken, wir beabsichtigten und suchten zu viel, es sei nicht möglich, Alles in solcher Vollkommenheit und nach der Regel zu haben, daher die üble Beschaffenheit der Zeit mehr mit Erbarmung zu tragen, als mit Unwillen zu beklagen sei; wenn man die Vollkommenheit suche, so müsse man aus diesem Leben in jenes gehen, da würde man allein etwas Vollkommenes antreffen, das man eher nicht hoffen dürfe. Auf solche Einwendungen antworte ich: Einmal ist nach der Vollkommenheit zu trachten gar nicht verboten, sondern wir werden vielmehr dazu angetrieben, und wie wäre zu wünschen, daß wir sie erlangen möchten! Aber andern Theils gestehe ich gern, daß wir es hier in diesem Leben dazu nicht bringen werden; sondern je weiter ein frommer Christ kommt, je mehr wird er sehen, wie viel ihm noch mangele, so daß er nie weniger sich einbilden wird, vollkommen zu sein, als wenn er am meisten darnach trachtet; so wie wir sehen, daß gewöhnlich die Fleißigsten sich viel weniger für gelehrt achten werden, als Andre, die erst kurze Zeit in die Bücher zu sehen angefangen haben, denn sie erkennen je länger, je mehr, was zu der wahren Gelehrsamkeit gehöre, was sie vorher noch nicht so verstanden. So wäre auch hier viel eher zu besorgen, daß sich die, bei denen kaum ein Anfang geschehen, für vollkommen halten möchten, als die, welche mit Ernst der Vollkommenheit nachjagen. Indessen ob wir's wohl freilich nimmermehr in diesem Leben zu dem Grade der Vollkommenheit bringen werden, daß nichts mehr dazu gethan werden könnte oder sollte, so sind wir gleichwohl verbunden, einen Anfang mit dem Trachten nach der Vollkommenheit zu machen. Paulus sagt: 2 Kor. 13,11: „Zuletzt, lieben Brüder, freuet euch, seid vollkommen“ und V. 9: „dasselbige wünschen wir auch, nämlich eure Vollkommenheit.“ Kol. 1,28: „Wir vermahnen alle Menschen und lehren alle Menschen mit aller Weisheit, auf daß wir darstellen einen jeglichen Menschen vollkommen in Christo Jesu.“ 2 Tim. 3,17: „Daß ein Mensch Gottes sei vollkommen, zu allem guten Werk geschickt.“ Phil. 3,15: „Wie Viele nun unser vollkommen sind, die lasset uns also gesinnet sein;“ von einem höhern und hier unmöglich zu erreichenden Grade sagt er vorher V. 12: „nicht, daß ich es schon ergriffen habe, oder schon vollkommen sei.“ Wie diese Aussprüche nun von jedem einzelnen Christen gelten, so auch von der ganzen Kirche, daß sie mehr und mehr vollkommen werde, und von Allen sowohl als jedem Einzelnen wahr werde, was wiederum Paulus spricht Eph. 4,13: „Daß wir alle hinankommen zu einerlei Glauben und Erkenntniß des Sohnes Gottes, und ein vollkommener Mann werden, der da sei in dem Maaße des vollkommenen Alters Christi.“
Wir meinen nun mit der Vollkommenheit, die wir von der Kirche verlangen, nicht, daß kein einziger Heuchler mehr in derselben sei, denn wir wissen wohl, daß der Weizenacker niemals so rein angetroffen werde, daß nicht einiges Unkraut auf demselben sich finde; aber das wünschen wir allerdings, daß die Kirche von offenbaren Aergernissen frei, also kein offenbarer Sünder ohne gebührende Ahndung und endliche Ausschließung darinnen gelassen werde, und die wahren Glieder derselben reichliche Früchte hervorbringen mögen; also, daß nicht mehr, wie leider jetzt geschieht, das Unkraut den Weizen bedecke und unscheinbar mache, sondern umgekehrt von dem Weizen bedecket werde, daß man dasselbe nicht sonderlich wahrnehme.
Wollte man auch dieses für unmöglich halten, so führe ich als Exempel die erste christliche Kirche an, als deutlichen Beweis, daß nicht ohne Weiteres unmöglich sein könne, was derselben möglich gewesen ist. Es bezeuget aber die Kirchengeschichte, daß die erste christliche Kirche in solchem seligen Stande gewesen, daß man die Christen insgemein an ihrem gottseligen Leben gekannt und von andern Leuten unterschieden habe, denn so spricht Tertullianus: „Durch was Anderes zeichnen wir uns von Andern aus, als durch die höchste Weisheit, indem wir eitle Werke des menschlichen Geistes nicht anbeten; durch Genügsamkeit, daß wir Andern nicht nach dem Ihrigen trachten; durch Züchtigkeit, die wir auch nicht gern mit den Augen verletzen; durch Barmherzigkeit, mit welcher wir uns zu den Dürftigen wenden durch die Wahrheit selbst, womit wir anstoßen; durch Freiheit endlich, für welche wir zu sterben wissen. Wer wissen will, was Christen sein, der muß sie nach diesen Kennzeichen beurtheilen.“ Wie wohl stand es damals; wie herrlich war es, wenn der liebe alte Ignatius in dem Briefe an die Epheser sagen konnte, „daß die, welche sich zu Christo bekannten, nicht nur aus dem, was sie sagten, sondern auch, was sie thäten, erkannt würden.“ Wie stattlich lautet es, wenn Eusebius in seiner Kirchengeschichte Buch 4, Kap. 7, sagen kann, es sei zwar, besonders durch das böse Leben der Ketzer, die christliche Kirche bei den Heiden in bösen Ruf gekommen, aber „es sei der Ruhm der wahren und allgemeinen Kirche, welche stets gleichmäßig in der Ausübung der Tugend sich zeigte, auf außerordentliche Weise gewachsen und bekannter geworden, daß sie mit Ehrbarkeit, Redlichkeit, Freimüthigkeit, Zucht und Reinigkeit des göttlichen Lebens und Weisheit Allen, sowohl Griechen als Ausländern in die Augen geleuchtet hätten.“ Welcher Ruhm war es, daß Tertullianus in dem an den Landpfleger Scapula, also an einen Feind, gerichteten Buche, Kap. 4, sich nicht scheuet, im Namen der ganzen Kirche zu erklären: „Das Anvertraute halten wir Niemanden zurück, Ehebruch ist ferne von uns, die Waisen behandeln wir rechtschaffen, die Nothdürftigen erquicken wir, Niemandem vergelten wir Böses mit Bösen!“ Also erwähnt auch Justinus in seiner Apologie, daß Einige bekehrt worden sind, durch die Redlichkeit und Gerechtigkeit, welche aus dem Leben der Christen hervorleuchteten. Welch schönes Lob war es von den christlichen Frauen, wenn Tatianus in seinem Buche gegen die Heiden, nachdem er denselben ihre Hurerei vorgeworfen, im Gegentheil sagen darf: „Alle Weibspersonen bei uns sind züchtig.“ So rühmt Origenes, „daß die Lehre Jesu eine bewundernswürdige Sanftmuth, Ehrbarkeit, Freundlichkeit, Gütigkeit, Versöhnlichkeit bei Allen gewirket habe, die nicht wegen der Sorge dieses Lebens und anderer menschlichen Nothdurft, sondern von Herzen die Predigt von Gott, Christo und dem zukünftigen Gericht aufgenommen haben.“ Daher untersuchten sie auch vorher sorgfältig das Leben derer, welche sich zu ihnen begaben, und nahmen sie nicht eher in die Kirche auf, bis sie sahen, daß sie ihr Leben würdiglich ihrem Berufe, dazu sie berufen waren, führen würden, wie eben dies Origenes im 8ten Buche gegen Celsus bezeugt. Gab dann Jemand ein Aergerniß, so wurde mit solchem Ernst gegen denselben verfahren, daß man sich wundern muß, wie es zu der Zeit, da die Christen die Obrigkeit nicht auf ihrer Seite hatten, möglich gewesen, eine solche strenge Zucht und Disciplin unter sich zu erhalten. Da wurden die begangenen Fehler von den Kirchen-Aeltesten, deren Versammlung der Bischof regierte, vorgenommen, erwogen und gerichtet, auch die Verbrecher nach Befinden der Sache von der Gemeine ausgeschlossen, und nicht eher, als nach genügender Versicherung der Besserung wieder aufgenommen. Damit bezeugte die Kirche, daß sie die Sünden ihrer Glieder keinesweges billigte; dadurch wurden Andere von dergleichen Sünden abgeschreckt, und die Gefallenen gebessert. Daher erkannten sie auch keine andere für ihre Mitbrüder, als die also lebten, denn so saget Justinus, wenn man Menschen antreffe, die also leben, wie er im Vorherigen nachgewiesen, so sei das ein klares Zeugniß, daß sie keine Christen sein, wenn sie auch Christi Lehre mit der Zunge bekennen; von solchen spricht er auch ausdrücklich zu den Kaisern und bittet sie, sie möchten doch selbst diejenigen, die sich nur Christen nennen ließen, während doch ihr Leben ihres Meisters Geboten zuwider laufe, zur Strafe ziehen. Auch der Heide Plinius bekennt selbst in seiner bekannten Epistel an den Kaiser Trajan, daß er, obgleich er Einige zur Erforschung der Wahrheit habe foltern lassen, doch nicht erfahren habe, daß sie einiger Laster sich schuldig machten, außer ihrer von den Römern verworfenen Religion. Dies Bekenntniß eines offenbaren Feindes, der noch dazu ihr Richter war, ist von nicht geringer Wichtigkeit. Lieset man die besondern Beispiele der herrlichen Tugenden, die an Einzelnen hervorgeleuchtet, so kann man nur darüber zur Freude und Scham bewogen werden. Was war es für eine herzliche Liebe zu Gott, da sie zum Zeugniß derselben, wenn es zum Bekenntniß ihres liebsten Heilandes ging, zu den grausamsten Martern mehr eileten, als daß sie sich davon hätten sollen abschrecken lassen! Wie brünstig war ihre Liebe unter einander, da sie sich nicht nur Brüder und Schwestern nannten, sondern auch brüderlich lebten, daß auch Einer für den Andern zu sterben stets bereit war, wenn's die Noth erforderte. Hat Jemand Verlangen, von dieser Materie und den ausgezeichneten Tugenden der ersten Christen einige Zeugnisse der Alten zu lesen, so wüßte ich denselben fast auf nichts Besseres aufmerksam zu machen, als auf meines hochgeehrten Lehrers, des seligen D. Johann Konrad Dannhauers Christeide, Act. 1, Theatr. 1, Phän. 4, so wie auf meines sehr werthen Freundes und gewesenen Mitschülers und Collegen in Straßburg, des Herrn D. Balthasar Bebels Alterthümer der Kirche der ersten drei Jahrhunderte, wo er in jedem Jahrhundert an seinem Orte diese Tugenden mit Fleiß erzählt.
Wie nun der Zustand der christlichen Kirche damaliger Zeit unser kaltes und laues Wesen ganz zu Schanden machet, so zeiget er auch zugleich, daß das, was wir wünschen, nicht unmöglich sei, wie Viele sich einbilden; es muß daher unsre Schuld sein, daß man von uns nicht dergleichen rühmen kann. Denn derselbe heilige Geist, der damals in den ersten Christen solches Alles gewirkt, ist auch uns von Gott geschenkt, und noch eben so kräftig und willig, das Werk der Heiligung in uns zu verrichten. Die einzige Ursache kann also nur sein, daß wir ihn nicht in uns wirken lassen, sondern seine Gnadenwirkungen selbst hindern; daher denn auch nicht vergebens davon gehandelt wird, wie doch die Sache in bessern Stand gebracht werden könnte. Nun erkenne ich gern, daß ich der Geringsten Einer bin, und mich nicht vermessen könne, mir es auch nicht einbilde, daß ich besser, als andere Diener Gottes wüßte, wie dem allgemeinen Uebel abzuhelfen wäre; sondern ich finde täglich in mir, woran es mir selbst mangelt. Daher wünsche ich von Grund der Seele, daß, wie auch von Einigen geschehen, begabtere, und mit mehr Licht, Verstand und Erfahrung ausgerüstete Männer diese Materie mit fortgesetztem Eifer vor sich nehmen, der Sache in der Furcht des Herrn nachdenken, ihre Rathschläge der gesammten christlichen, evangelischen Kirche vorlegen, und endlich auf Mittel und Wege bedacht sein möchten, wie durch göttliche Gnade heilsame Rathschläge, die etwa gefunden werden, zweckmäßig auszuführen wären, indem sonst alle Berathschlagung vergeblich ist.
In der Sache aber, die uns Alle angeht, ist es die Pflicht aller Christen, vornämlich aber aller, die der Herr an irgend einem Orte zu Wächtern seiner Kirche gesetzt hat, auf den jedesmaligen Zustand der Kirche zu sehen und darauf bedacht zu sein, wie ihm zu helfen; zudem ist die Kirche ein solcher Leib, der aller Orten einerlei Natur hat, und deswegen, wenn auch nicht jederzeit überall mit derselben Krankheit behaftet, doch stets dieser Gefahr unterworfen ist; wer also fleißig untersucht und erkannt hat, was ihm bei seiner Gemeine zur Besserung derselben dienlich ist, der wird auch ziemlich richtig erkennen, wie, mit Beachtung der verschiedenen Umstände, andern Gemeinden ebenfalls zu helfen sei. Dieser unstreitig jedem Prediger obliegenden Pflicht zu Folge habe auch ich bisher nach dem Vermögen, das Gott verliehen, Acht gegeben, wie die Mängel der mir und meinen geliebten Amtsbrüdern anvertrauten hiesigen Kirche gebessert, und sie mehr erbaut werden möchte, und erkühne mich auch nun, dasjenige, was ich in gottseligem Nachdenken nach Anleitung der Schrift für nützlich und nöthig erachtet, hier zu Papier zu bringen, ob wenigstens dadurch andern erleuchteteren und einflußreicheren Männern möchte Veranlassung gegeben werden, auch an ihrem Theil diesem wichtigen Werk nachzudenken und zu ersetzen, woran es diesen Vorschlägen mangeln sollte, oder wenn dieselben nicht ausführbar befunden würden, bessere an die Hand zu geben; wie ich denn bereit bin, Jedem, auch dem Einfältigsten, der mir in meinen Amtsverrichtungen und allem Andern, was zur Erbauung gehört, etwas Besseres und Vorzüglicheres zeigen wird, zu weichen und für seine Zurechtweisung zu danken. Denn es ist ja solches Alles nicht unsere, sondern Gottes Sache, und es steht ihm frei, auch durch Mittelpersonen, die vor der Welt unscheinbar und verachtet sind, dergleichen Dinge vorzutragen, die er zu segnen beschlossen hat. In diesem Vertrauen und williger Unterwerfung unter Solche, welche das Beste der Kirche mehr erforscht haben, gingen meine unvorgreiflichen Gedanken in dieser Sache dahin, daß unserer ganzen Kirche, so wie jedem einzelnen Theil derselben, auf nachstehende Weise durch göttliche Gnade geholfen, und sie wieder in einen blühenderen Zustand gebracht werden möchte. Dabei bemerke ich noch, daß ich nicht alle Mittel hier anführe, z.B. die Aufrichtung der Kirchenzucht, welche gleichwohl von der höchsten Wichtigkeit, aber von dem theuern und eifrigen Theologen Johann Saubert in seinem nie genug gepriesenen „Zuchtbüchlein“ zur Genüge behandelt ist; eben so die Auferziehung der Jugend u.s.w.

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