Silbermann, J.J. - Das Abendmahl und die Passahfeier

Silbermann, J.J. - Das Abendmahl und die Passahfeier

Die Auslegung der Einsetzungsworte des Abendmahles ist der Gegenstand vieler widerstreitenden Meinungen geworden. Geheimnisvoll sind die Worte: „Das ist mein Leib - das ist mein Blut.“ Jeder Nachdenkende muß sich fragen: Warum sagten nicht die Jünger zu Jesu: Meister, wir verstehen nicht, was du sagst - wie meinst du das? Augenscheinlich war für die Jünger die Bedeutung der Worte klar und selbstverständlich. Prof. v. Orelli sagt bezüglich der Einsetzungsworte des Abendmahles: „Was die Jünger sich dabei denken mußten, was also der Herr ihnen sagen wollte, ist für den nicht fraglich, der die heiligsten Einrichtungen des Alten Bundes kennt.“ Aber es war nicht notwendig, daß die Jünger alle Einrichtungen des Alten Bundes sich vergegenwärtigten, um die Einsetzungsworte zu verstehen, sondern es war eine einzige Einrichtung, mit der sie gerade zu jener Stunde sich beschäftigten, welche ihnen das volle Verständnis für die Einsetzungsworte gab - ich meine die Passahfeier. Es ist ja das Bestreben der Wissenschaft, die Offenbarungswahrheiten in ihrem geschichtlichen Zusammenhange zu erfassen. Warum soll denn nicht auch das vom Herrn eingesetzte Abendmahl im geschichtlichen Zusammenhang mit dem Passahmahl betrachtet werden?

Daß das Abendmahl während und in Verbindung mit der Passahfeier vom Herrn eingesetzt wurde, erscheint mir außer allem Zweifel. Aus den Evangelien ist die geschichtliche Verbindung beider augenscheinlich. Allerdings übergehen die Evangelien die nähere Beschreibung der Passahfeier mit auffälliger Absichtlichkeit. Damit wollen die Evangelien, wie Edersheim richtig bemerkt, anzeigen, daß mit der Einsetzung des neutestamentlichen Mahles das Passah des Alten Bundes für immer aufhört.

Im folgenden will ich versuchen, eine kurze Beschreibung der Passahfeier zu geben, wie sie in dem hebräischen Ritual, das von hohem Alter zeugt und auf den alten Dokumenten des Talmud basiert, enthalten ist. In der Vergleichung und Harmonisierung der evangelischen Berichte mit dem Ritual gemäß den Ausführungen von Edersheim in seinem Werk. Und ich hoffe, daß dadurch auch Licht auf die Einsetzungsworte fallen wird.

Es war am 14. Nisan, entsprechend unserem 7. April. Sobald am Abend die ersten drei Sterne sichtbar wurden, erschallte in den Straßen Jerusalems der Ton der silbernen Trompete vom Tempelberg her. Das war das Zeichen für alle Bewohner, daß die Passahfeier nun beginnen solle. Unser Herr Jesus und seine Jünger waren in einem festlich erleuchteten und mit Polstern versehenen Saal versammelt. Vielleicht war es im Hause des Markus, wo die Apostel später, nach Apg. 12,12 und 25 sich zu versammeln pflegten.

Wie die Jünger im Begriff waren, auf den um den niedrigen Tisch gelegenen Polstern sich zu lagern, entstand nach Luk. 32,24 ff. ein Streit unter ihnen, wer vor ihnen für den Größten zu halten sei, d.h. wer zur Seite des Meisters lagern dürfe. Denn dies war der Ehrenplatz, und nur der Größte konnte nach den damaligen Begriffen darauf Anspruch machen. Nachdem der Herr diesen Streit den Jüngern verwiesen, begann die Feier.

Nach altem Brauch eröffnet der Hausvater dieselbe, indem er den vor ihm sehenden Becher Weins erhebt und das folgende Dankgebet darüber spricht: „Gelobt seist du, Herr, unser Gott, König der Welt, der du die Frucht des Weinstocks geschaffen hast. Gelobet seist du, der du uns erwählet hast aus allen Völkern , und uns erhöhet hast aus allen Sprachen, und hast uns geheiligt durch deine Gebote. Du Herr, unser Gott, hast uns in Liebe Feste gegeben zur Freude, Feiertage zur Wonne, und diesen Festtag der süßen Brote, die Zeit unserer Freiheit, ein Denkmal des Ausganges aus Ägypten. Gelobt seist du, König der Welt, der du uns das Leben erhalten und uns aufgerichtet hast, und hast uns kommen lassen zu deinem Fest.“

Nachdem der Segen gesprochen und etwas Wein getrunken worden ist, erhebt sich der Hausvater, um die Hände zu waschen.

Nach Luk. 22,17. 18 hat Jesus nach dem Segen die Worte hinzugefügt: „Nehmet denselbigen und teilet ihn unter euch, denn ich sage euch, ich werde nicht trinken von dem Gewächs des Weinstocks, bis das Reich Gottes komme.“ Anstatt sich nun die Hände zu waschen, nahm dr Herr nach Joh.13,2 ff. die Fußwaschung vor. Er wandelte in freier Selbständigkeit das Ritual des Händewaschens in die Fußwaschung um, um den Jüngern wegen ihres Rangstreites eine nötige Belehrung zu erteilen.

Sehen wir nun, was bei einer Passahfeier auf dem Tisch sich befindet. Außer den Weinbechern steht ein Teller, auf welchem in einem Tüchlein eingewickelt drei ungesäuerte Brotfladen (Mazoth) liegen, deren jeder nach dem Talmud seinen besonderen Namen hat der erste für den Priester, der zweite für den Leviten, der dritte für den Israeliten. Ferner sehen wir auf dem Tisch eine Platte mit drei Schüsseln, eine gefüllt mit bitteren Kräutern (Lattich, Petersilie und Meerrettich), eine mit Salzwasser und eine mit süßem, aus Datteln, Feigen, Trauben, Nüssen und Mandeln bereiteten Brei, „Charoseth“ genannt. Die Bedeutung der ungesäuerten Brote und der bitteren Kräuter ist aus der Heiligen Schrift bekannt - der raune Brei, der mit Essig zubereitet ist, dient zur Erinnerung an den Lehm, den die Israeliten in Ägypten zu Ziegeln stampfen mußten. Endlich befindet sich da ein Teller mit Fleisch vom Passahlamm.

Nun lagert sich der Hauswirt wieder an dem Tisch, taucht mit einem besonderen Segensspruch bittere Kräuter in das Salzwasser, und ißt dieselben. Dasselbe tun alle Teilnehmer. Hierauf nimmt der Hausvater den mittleren der drei Brotfladen,bricht ihn entzwei, läßt die eine Hälfte liegen, die andere aber legt er beiseite, um sie später zum Nachtisch zu gebrauchen. Diese wird „Aphikomen“ genannt, d.h. das Stärkende oder Nährende. Dieses Aphikomen wurde von unserem Heiland, wie wir später sehen werden, am Schluß der Passahfeier gebraucht, um damit das Abendmahl einzusetzen.

Nach dem Ritual, das wohl schon zur Zeit Jesu gebraucht wurde, hebt der Hausvater den Teller mit den Brotfladen in die Höhe und spricht mit feierlicher Stimme: „Dies ist das Brot des Elends, das unsere Väter im Lande Ägypten aßen; wer da hungrig ist, der komme und esse, wer da bedürftig ist, der komme und feiere Passah.“

Die Becher wurden nun zum zweiten Mal gefüllt, und das Lesen der Festliturgie beginnt. Dieselbe wird eingeleitet durch einige Fragen, welche der jüngste Sohn des Hauses an den Hausvater richtet. Sie lauten folgendermaßen:

„Warum ist diese Nacht verschieden von allen anderen Nächten? In anderen Nächten essen wir gesäuertes und ungesäuertes Brot, in dieser Nacht nur ungesäuertes? In anderen Nächten essen wir vielerlei Kräuter, in dieser Nacht nur bittere? In anderen Nächten essen wir sitzend, in dieser Nacht aber angelehnt?“

In dem Jüngerkreise war es wohl Johannes, als der Jüngste, der obige Fragen an den Herrn richtete, und jedenfalls kommen noch dazu, weil damals noch das Passahlamm geschlachtet wurde, einige Fragen, die auf das Passahlamm Bezug haben. Etwa: „Warum muß das Lamm ohne Zerbrechen der Gebeine gebraten und das Blut desselben an die Türpfosten gesprengt werden? Warum muß das Lamm fehlerfrei und ohne Gebrechen sein?“ Was der Meister auf diese Fragen geantwortet haben mag, können wir uns wohl denken. Er hat wohl das Ganze als Symbol und Weissagung auf seine Person gedeutet. Es wird jedoch von Interesse sein, wenigstens einen Teil der vorgeschriebenen Antwort aus der Liturgie zu vernehmen. Sie bezieht sich auf die geschichtliche Vergangenheit Israels und lautet also: „Knechte Pharaos waren wir in Ägypten, und unser Gott führte uns aus von dort mit starker Hand und ausgestrecktem Arm. Hätte der Heilige, gelobt sei er, unsere Väter von dort nicht ausgeführt, so wären wir, unsere Kinder und Kindeskinder, geknechtet dem Pharao in Ägypten. Und wnn wir auch alle weise wären und alle vernünftig und alle Kenner des Gesetzes, wir müßten doch erzählen vom Auszug aus Ägypten.“

Weiter heißt es: „Gelobet sei er, der Heilige, der Israel seine Verheißung gegeben hat, wie geschrieben steht: Er sagte dem Abraham, wisse, daß dein Same ein Fremdling sein wird in einem Lande, das nicht sein ist, man wird es zu dienen zwingen und plagen 400 Jahre lang. Aber ich will richten das Volk, dem sie dienen müssen. Danach sollen sie ausziehen mit großem Gut. Und diese Verheißung stand uns und unseren Kindern bei.“

In solcher Weise wurden die Tten, die Gott an seinem Volke getan, in Anknüpfung an die Worte der Schrift erzählt bis zum Auszuge.

Dann nimmt jeder der Festteilnehmer seinen Weinbecher in die Hand, und alle stimmen ein in den Lobgesang, das große Hallel, dessen erste Hälfte (Ps. 113 und 114) im ersten Teil der Liturgie und dessen zweite Hälfte (115-118) erst am Schluß der ganzen Feier gesungen, d.h. psalmodiert wird.

Nach dem Lobgesang nimmt der Hausvater zwei Stücke vom ungesäuerten Kuchen, legt bittere Kräuter dazwischen (zur Zeit Jesu kam wohl auch ein Stück Fleisch vom Passahlamm dazu), taucht alles in die Schüssel mit süßem Brei (Charoseth) und nach einem gesprochenen Dankgebet ißt er selbst avon und gibt ähnliche Bissen den anderen, die um den Tisch sitzen. Dann erheben sich alle, damit die Speisen aufgetragen werden.

Zu diesem Teil der Feier paßt, was Joh. 13,12 berichtet: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, einer unter euch wird mich verraten.“ Und auf die Frage, wer es sei, antwortet Jesus: „Der ist's, dem ich den Bissen eintauchen und geben werde.“ Aber da nach dem Brauch, wie oben erwähnt, alle Jünger einen ähnlichen Bissen bekamen, so ist es erklärt, warum es bei Johannes heißt, daß keiner von den Tischgenossen wußte, wen er damit meinte. Und wiederum, da der erste Teil der Feier vorüber war und alle sich erhoben, so konnte Judas ungezwungen und ohne Aufsehen zu machen, sich entfernen.

Der zweite, liturgische Teil des Passahmahles ist kurz, aber besonders eindrucksvoll. Nach dem Abendessen wird der Tisch abgeräumt und die Weinbecher wieder darauf gestellt,, wobei zu der bis jetzt vorhandenen Zahl noch ein Becher hinzugefügt wird. Einer der Tischgenossen geht hinaus, um die Türe zu öffnen. Nach wem schaut er aus? Nach dem Propheten Elias. Und wem gilt der Extra-Becher? Dem Vorläufer des Messias. Damit ist ein großer prophetischer Gedanke in einfacher, eindringlicher Weise zum Ausdruck gebracht. Elias soll die Türe seines Volkes offen finden, wenn er kommt, um das Herz der Väter zu bekehren zu ihren Kindern und das Herz der Kinder zu ihren Vätern.

Nun erst nimmt der Hausvater die zurückgelegte Hälfte des gebrochenen Brotfladens, welche, wie oben erwähnt, Aphikomen, d.h. „das Stärkende“ genannt wird; er spricht ein Dankgebet darüber, und gibt allen Hausgenossen davon zu essen mit den Worten: „Nehmet, esset, das ist das Brot, das wir essen zu unserer Stärkung.“ Schließlich wird die zweite Hälfte des Hallel psalmodiert (Vergl. Mat. 26,30: „Und da sie den Lobgesang gesprochen“)

Dieser Nachtisch, bestehend aus dem Aphikomen und dem dritten Kelch der Passahfeier, wurde vom Herrn Jesu benutzt zur Einsetzung des Abendmahles.

Und nun bedenke man folgendes: Erstens, die Zeichen, welche der Meister seinen Jüngern darreichte, weisen nach alter Tradition hin auf den verheißenen Messias, und auf die von ihm ausgehende geistliche Seelenspeise; ja, der dritte Kelch heißt schon im Talmud „der gesegnete Kelch“. Zweitens sind gerade jetzt die Gedanken der Jünger mit der großartigen Erlösung Israels durch das Blut des Passahlammes beschäftigt. Wie konnten demnach die Jünger die Worte Jesu: „Nehmet, esset, das ist mein Leib, gebrochen für euch“ anders verstehen als: die wahre vollkommene Seelenspeise werdet ihr in meinem für euch gebrochenen Leibe finden. Und wenn sie weiter die Worte hörten: „Nehmet, trinket, da ist der Neue Bund kraft meines Blutes, das für euch vergossen wird zur Sündenvergebung“ - war es da für sie nicht selbstverständlich, daß der Sinn derselben der ist: das Blut des Passahlammes im Alten Bunde findet seine Erfüllung und Vollendung in meinem Blut, das einen Neuen Bund begründet zur Vergebung der Sünden?

Wie ganz natürlich war es doch, daß auf der einen Seite die Zeichen in dem Passah-Ritual, welche eine so tiefe messianische Bedeutung hatten, von unserem Heiland gebraucht wurden beider Einsetzung des Abendmahles, und daß auf der anderen Seite die Einsetzungsworte in diesem Zusammenhang von den Jüngern ahnungsvoll und doch klar verstanden wurden.

Wie ungezwungen ist schließlich die Abendmahlsfeier aus dem Passahmahl hervorgegangen, als ob eine Knospe über Nacht aufbricht und die in ihr verborgene Blüte ans Licht bringt. Nur eine Berührung von der Hand des Herrn, nur einige Worte, die dem alten Brauch einen neuen Sinn verleihen, und zum ersten Mal wird den Jüngern die ganze Bedeutung seines bevorstehenden Opfertodes vor Augen gestellt, seines Opfertodes, der den Neuen Bund besiegeln und an Stelle jener ersten, vorbildlichen Erlösung aus der Knechtschaft eine ewige Erlösung aus der Macht der Sünde und des Todes bewirken soll.

Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1907

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