Sengelmann, Heinrich Matthias - Verstehst Du auch, was Du liest - Pred. Sal. 7,17.
Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise: dass Du nicht verdirbst.
Ein von denen vielfach gebrauchtes Wort, die den goldenen Mittelweg empfehlen. Sie meinen, man könne des Guten auch zu viel tun, und dies sei ebenso unredlich (folglich: Sünde!), wie wenn man desselben zu wenig tue. Gewöhnlich aber spricht man so mit ganz bestimmten Rücksichten. Wenn nämlich Laien, welche ihr äußerer Beruf nicht dazu antreibt, verwahrloster Kinder, verirrter Sünder, Verlassener und Hilfsbedürftiger sich annehmen und sich dazu verpflichtet halten - durch die Liebe Christi, wenn diese nun auch andere auf solche Verpflichtung aufmerksam machen, so müssen sie oftmals hören: Zu solchem Wirken gibt es bestimmt berufene Leute, ich fühle mich nicht dazu verpflichtet, ich tue genug, wenn ich mich mit mir selbst und den Meinigen beschäftige, wenn ich meine Kinder zur Gottesfurcht an: halte, meinem Hauswesen wohl vorstehe und Keinem selber ein schlechtes Beispiel gebe. Man muss sich in Acht nehmen; denn allzu gerecht und weise sein ist auch nicht gut.“ - Die also reden, gehören großenteils nicht zu den im rohen Unglauben und im argen Sündenleben Gefangenen; sie geben gewöhnlich noch Etwas auf das Wort Gottes. Drum rede man mit ihnen in folgender Weise: Ware es möglich, dass Jemand allzu gerecht sein könnte, so müsste es ja eine Grenze der Gerechtigkeit geben, und diese würde uns doch gewiss in der heiligen Schrift bezeichnet sein. Eine solche findet sich aber nicht angegeben. Die Schrift steckt uns vielmehr als das Ziel, nach dem wir ringen sollen, die Vollkommenheit Gottes: „Seid vollkommen, wie Euer himmlischer Vater vollkommen ist.“ Unterhalb dieser Linie befinden wir uns doch alle; ein Solcher also, der zuviel getan hätte, würde wohl nicht zu finden sein. Aus dieser Aufgabe aber, die uns gesteckt ist, folgt zugleich, dass Gottes Wille nicht der sein kann, wir sollten einen Mittelweg wandeln. Solcher Mittelweg würde immer liegen müssen zwischen Gott und Welt, zwischen Licht und Finsternis; Gott jedoch fordert Liebe von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften, von ganzem Gemüt. Wollen wir also ein Maß unserer Tätigkeit haben, so ist es das von einem großen Kirchenlehrer (dem h. Bernhard) so trefflich bezeichnete: „Das Maß Gott zu lieben ist: ihn zu lieben ohne Maß.“ (Modus diligendi est diligere sine modo). Was will aber der Prediger mit dem Worte sagen: „Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise?“ Nichts anderes als dies: „Halte Dich nicht für allzu gerecht!“ und somit liegt hierin eine Warnung vor der Selbstüberschätzung. Hierzu gibt es allerdings manche Versuchung, und wer für das Reich Gottes am Tätigsten ist, wird sie am Besten kennen. Vor ihr uns zu hüten und Gott stets um die rechte Demut zu bitten, muss uns der ernste Zusatz bewegen: „dass Du nicht verdirbst;“ der Hochmut vermag nämlich nicht bloß unser ganzes Wirken erfolglos zu machen, sondern über uns selbst, je größer unsere christliche Erkenntnis ist, um so größeren Zorn Gottes zu bringen. (Heinrich Matthias Sengelmann)