Sengelmann, Heinrich Matthias - Verstehst Du auch, was Du liest - Matth. 7,1
Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.
Die allgemeine Bußpredigt lässt man sich heut zu Tage, wie immer, wohl gefallen; von dem: „Wir sind allzumal Sünder“ schließt so leicht Keiner sich aus. Anders aber stellt sich die Sache, wenn die Schäden, die Einem besonders anhaften, hervorgehoben werden; wenn z. B. ein Prediger diesen wegen seiner ungläubigen Rede, jenen wegen seines unsittlichen Wandels geradezu und freimütig angreift. Da schreit man über Lieblosigkeit und Tadelsucht und meint im Rechte zu sein, wenn man das Wort anführt: „Richtet nicht, auf dass Ihr nicht gerichtet werdet.“ Der Herr meint jedoch keineswegs hiermit, dass Einer dem andern niemals seine Sünde vorhalten solle, er will keineswegs die Bemäntelung der sittlichen Gebrechen empfohlen haben. Was er sagen will, lehrt der Zusammenhang, in welchem diese Worte stehen. „Was siehst Du“, spricht er, „den Splitter in Deines Bruders Auge und wirst nicht gewahr den Balken in Deinem Auge“ usw. Er missbilligt also die Tadelsucht, die mit Übersehung der eignen großen Gebrechen über die kleineren Fehler des Nächsten aburteilt. Wir dürfen demnach dies Wort nicht auf jedes scharfe Urteil an sich anwenden und dasselbe als verdammlich bezeichnen. Wie stünde es dann um Christi vierfaches Wehe über die Heuchler (Matth. 23,14) und um sein tadelndes Wort: „Ihr Schlangen und Otterngezüchte (V. 33).“ Sondern die Übersehung der eigenen Gebrechen ist es, was dasselbe erst strafbar macht. Muss ich aber überzeugt sein, dass der Nächste, der mir meine Sünde vorhält, seiner eignen sich wohl bewusst ist, so habe ich in jenem Wort des Herrn durchaus keinen Grund, seine Bußpredigt zurückzuweisen. Sehr treffend heißt es in der ersterwähnten Schrift: „Darf mein Nachbar, darum weil er krank ist, mir nicht ins Gesicht sagen, dass auch ich es sei? - Menn wir an einerlei Krankheit leiden und die seinige ist tödlich, ist's die meinige nicht auch? - Sollten wir nicht aus gegenseitiger Pflicht einander alles Ernstes ermahnen, die kräftigsten Mittel noch in Zeiten zu brauchen, zumal wenn einer von Beiden die dringende Gefahr nicht einsehen wollte? - Gesetzt, wir hätten uns unsre Krankheit Beide selbst zugezogen und Keiner konnte dem Andern viel vorwerfen, wäre dies wohl ein gegründeter Trost für Einen von uns?“
Wird nun das „Richtet nicht!“ dem Prediger zugerufen, so ist hierbei noch ein besonderer Irrtum. Er steht, wo er strafend auftritt, nicht als diese ober jene bestimmte Person vor uns, auf deren eigne Gebrechen wir uns berufen könnten, sondern als Diener Gottes. Bei seiner Strafpredigt würde also nur darauf zurückzugehen sein, ob was er straft und rügt, auch im göttlichen Worte gerügt werde. Sein Richten ist, falls dies sich erweisen lässt, Gottes Gericht, und somit leidet das Richtet nicht! auf ihn keine Anwendung, weil man in dieser Stellung von ihm nicht sagen kann: „Auf das Ihr nicht gerichtet werdet.“ Demnach haben wir denen gegenüber, die Böses gut und Gutes böse nennen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen wollen, die sauer süß und süß sauer heißen, die: Friede! Friede! rufen, da doch kein Friede ist (Jes. 5,20. Ez. 13,10), diesen gegenüber haben wir die göttlichen Gebote hervorzuheben: 3 Mos. 19,17. Du sollst Deinen Bruder nicht hassen in Deinem Herzen; sondern Du sollst Deinen Nächsten strafen, auf dass Du nicht seinethalben Schuld tragen musst. Eph. 5,11. Habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis, straft sie aber vielmehr. 2. Tim. 4,2: Strafe, drohe, ermahne mit aller Geduld und Lehre; denn es wird eine Zeit sein, da sie die heilsame Lehre nicht leiden werden, sondern nach ihren eigenen Lüsten werden sie ihnen selbst Lehrer aufladen, nachdem ihnen die Ohren jucken.