Sengelmann, Heinrich Matthias - Verstehst Du auch, was Du liest - 1. Thess. 5,21.
Prüft Alles und das Gute behaltet.
So gewiss das Evangelium alles durchdringen und kein Lebensgebiet ihm verschlossen bleiben, so gewiss es mit dem Menschen dahin kommen soll, dass er in allen Lebenslagen und Verhältnissen vom Geiste Christi durchdrungen ist: so gewiss müssen wir es doch als ein grobes Unwesen bezeichnen, wenn das Wort des Evangeliums auf Gebiete gezogen wird, die diesen heiligenden Einfluss noch gar nicht erfahren haben. So gebrauchen viele Menschen, die sonst vom Worte Gottes wenig wissen, einzelne Aussprüche desselben, auch wo es sich um ganz triviale Gegenstände handelt. Dieser oder Jener wird ein starker Nimrod vor dem Herrn genannt; mit affektiertem Mitleid wendet man das Wort an: Sie wissen nicht, was sie tun. In gleicher Weise gebraucht man nicht selten Aussprüche der Schrift als Mottos von Büchern und Abhandlungen, die durchaus unchristlich und ungeistlich sind. Zu diesen gehört das Wort: „Prüft Alles und das Gute behaltet!“ Wir wollen hier vornämlich diejenigen warnen, die sonst das Wort Gottes nicht als eine Fundgrube des Witzes oder eine Schatzkammer für Mottos zu betrachten pflegen. Wir geben durch eine solche anscheinend unschuldige Benutzung der Schrift den Ungläubigen einen Anlass zu argem Missbrauch derselben. Blicken wir aber auf das hier besonders gemeinte Wort, so hat dasselbe ursprünglich keineswegs eine so allgemeine Bedeutung; der Apostel wendet es höchst gewichtig auf einen bestimmten Gegenstand an. Er redet von den in der ersten Gemeinde vorkommenden außerordentlichen Geistesgaben. Für diejenige unter ihnen, welche man die Gabe der Weissagung nannte und welche eine höhere Erhebung des Geistes und Herzens voraussetzte, scheinen die Thessalonicher nicht so sehr eingenommen gewesen zu sein, sondern vielmehr sie etwas argwöhnisch betrachtet zu haben. Sie bildeten darin das gerade Gegenstück zu den Korinthern. Dies tadelt der Apostel als nicht gehörig; sie sollten vielmehr alle diese außerordentlichen Tätigkeiten prüfen und sich das Gute d. h. das für ihr höheres Leben Ersprießliche daraus aneignen. So war aber keineswegs der Gegenstand des Glaubens unter ihre Wahl gestellt, sondern bloß die Weise seines Vortrags. Für jenen hatten die Lehrer den festen Maßstab in dem Worte Gottes, für diese bedurften sie jene besondere Fähigkeit, welche der Apostel I Kor. 12,10 nennt, die Gabe, Geister zu unterscheiden. Heut zu Tage wendet man aber jenes Wort Pauli gewöhnlich umgekehrt an und lässt ihn auch vom Glauben und Worte Gottes sagen: „Prüft Alles und das Gute behaltet.“ Danach musste es in ihm auch Nichtgutes geben und dem Menschen selbst die Entscheidung und Unterscheidung zustehen. Eine solche Stellung der Vernunft kennt aber die heilige Schrift nicht und kann sie auch, das bei leichtem Nachdenken sich ergibt, nicht kennen. Mit der Tätigkeit der Vernunft in Glaubenssachen verhält es sich nämlich so. Zum Sehen ist dreierlei erforderlich, das Auge, ein Gegenstand und das Licht. So ist's auch auf dem Gebiete des Glaubens; da ist das Auge die Vernunft. Wer nun meint, dass außer den göttlichen Gegenständen des Glaubens nur sie allein notwendig sei, der behauptet dasselbe, als wer da sagte: Ich kann sehen, wenn ich nur Augen habe und Gegenstände da sind. Den Letzteren würden wir leicht von seinem Irrtum überzeugen, wenn wir ihn Nachts in ein dunkles Zimmer führten. Man bedarf zum Glauben auch des Lichtes und dies ist die göttliche Offenbarung. Ein matter Schein desselben findet sich auch schon im Heidentum und im natürlichen Menschen, weil Gott sich einem unbezeugt gelassen hat. Die vollendete Offenbarung aber findet sich in dem, der sich selbst als das „Licht der Welt“ ankündigt. Hiernach ist klar, dass wer jenes Paulinische Wort auf die Schrift anwendete, dem gleicht, der, um sehen zu können, zuvor in die Sonne zu schauen und ihr Licht seiner Prüfung unterwerfen zu müssen glaubte. Er hüte sich hierbei, dass nicht an ihm in Erfüllung gehe: Röm. 1,22. „Da sie sich für weise halten, sind sie zu Narren worden.“