Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Das Buch Esther

Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Das Buch Esther

Das letzte Buch geschichtlicher Art verdankt seine Aufnahme in den Kreis der biblischen Bücher dem Purimfest. Zum Feste gehörte auch die Erinnerung an seinen Anlaß und die Verlesung eines Berichts über die unerwartete Hilfe, die man alle Jahre wieder so fröhlich feierte. Nachdem es überall in Israel Sitte geworden war, Purim zu feiern, war auch das Buch Esther eine unentbehrliche Schrift und wurde den heiligen Rollen der Gemeinde beigezählt. .

Das Buch beginnt mit der Beschreibung eines herrlichen Festes, das Xerxes der Bevölkerung von Susa gab. Allein dasselbe endet übel. Die Königin weigert sich, nach dem Willen des Königs sich öffentlich zu zeigen, und wird deshalb entsetzt. 1.

Nun werden dem Könige die schönsten Jungfrauen des Reiches zugeführt, darunter auch Esther, die Pflegetochter Mardochais, und sie gewinnt die Gunst des Xerxes und wird Königin, ohne daß jemand ihre jüdische Herkunft kennt. 2, 1-18.

Darauf gelingt es Mardochai, durch Esther eine Verschwörung gegen das Leben des Königs zur Entdeckung zu bringen. 2,19-23.

Aber nun beginnt der Konflikt. Haman, der „Agagiter“, wird des Königs erster Günstling, und vor ihm will Mardochai sich nicht neigen. Im Zorn darüber erlangt Haman die Ausrottung der Judenschaft im ganzen Reich. Er wirft das Los, die „Purim“, um den Tag zu bestimmen, an welchem dieselbe vor sich gehen soll.1) 3.

Nun fordert Mardochai von Esther, daß sie für ihr Volk eintrete. Sie kann es nicht, ohne ihr Leben zu wagen, da niemand ungerufen zum König gehen darf. Doch sie wagts und der König gewährt ihr seine Gunst und sie lädt ihn mit Haman zu sich zum Mahl. 4,1-5,8.

Haman begegnet bei der Heimkehr nochmals Mardochai und im Zorn über die Verachtung seiner Hoheit errichtet er für Mardochai bereits den Galgen. 5,9-14.

Als er am Morgen vom König die Hinrichtung Mardochais erbitten will, gibt ihm dieser den Auftrag, Mardochai mit königlichen Ehren durch die Stadt zu geleiten, zum Dank für die Entdeckung jener Verschwörung, an die der König in der Nacht erinnert worden ist. Nun ahnen seine Leute bereits seinen Fall. 6.

Beim zweiten Mahle in den Gemächern der Königin bittet diese den König um ihr und ihres Volkes Leben. Der Zorn des Königs entlädt sich über Haman; er wird an den für Mardochai bestimmten Galgen gehängt und dieser erhält dessen Haus und Amt. 7,14-8,2.

Aber noch besteht das königliche Edikt, das die Juden der Ausrottung preisgibt. Esther wagt den zweiten Gang zu des Königs Thron und erhält die Ermächtigung für die Juden, ihre Feinde zu vernichten. 8, 3-17.

Nun fallen an dem von Haman ausgelosten Tag die Juden über ihre Feinde her und Esther erbittet noch einen zweiten Rachetag für die Hauptstadt. In Susa starben an beiden Tagen 800, im ganzen Reiche 75,000 Judenfeinde. Darauf folgt die frohe Festfeier. 9, 1-19.

Hieran schließt sich als Nachtrag die Stiftung des Purimfestes. In wiederholten Schreiben fordern Mardochai und Esther alle Juden zur jährlichen Feier dieses Festtages auf. 9, 20-10, 3.

Das Ganze ist ein lehrreiches Bild von dem, was Israel unter den Heiden war. Es wird bedroht, gehaßt, zeitweilig blutig bedrückt, und dann gelingt es ihm immer wieder, über seine Feinde zu triumphieren und sie zu verderben. Erst ists in Todesangst und dann wieder in lautem Jubel. Es fügt sich geschmeidig in die Verhältnisse, klimmt auf allen Wegen zur Macht empor, dringt heimlich bis an den Hof des Königs und in die nächste Nähe des Thrones. Und zugleich besitzt es jene unerschütterliche Unbeugsamkeit, die das Haupt vor Haman nicht neigt, mag daraus werden, was da will, und ob es auch das Leben kostet. Das war Israel und so erhielt es sich unter den Heiden. Jene Biegsamkeit und diese mutige Entschiedenheit, daß Mardochai seine Tochter in den Palast des Königs bringt und doch dem allmächtigen Günstling des Königs um keinen Preis irgend eine Huldigung erzeigt, weil seine Seele denselben haßt, daß Esther ihr Judentum sorgfältig verheimlicht und doch in der entscheidenden Stunde voll und ganz eine Jüdin ist und alles für ihr Volk einsetzt, das gehört untrennbar zusammen. Das waren die beiden Mittel, mit welchen Israel sein Fortbestehen unter den Heiden errang. Dieser helle Blick in die inneren Kräfte, die Israels Lage gestalteten, macht diese Geschichte der älteren Geschichtsschreibung verwandt.

Seiner Form nach ist das Buch mit Gewandtheit und Geschick verfaßt. Es macht mit feiner Ironie bemerklich, wie alles sich so plötzlich wendet, wie Haman selbst, ohne es zu wissen, sich die Grube gräbt, wie er über das triumphiert, was ihm zum Verderben wird, und selbst Mardochai zu Ehren bringt. Auch das Bild jener über alle Maßen und Schranken emporgehobenen Könige, die jetzt verschwenderisch die höchsten Reichtümer und Ehren auf ihre Günstlinge legen und im nächsten Augenblick mit fürchterlichem Zorn sie verderben, die mit einem Wink über das Leben von Völkern gebieten und doch so ohnmächtig sind, gebunden an das Ceremoniell ihrer Höfe und verknechtet an Weiber und Höflinge, ist mit feiner Zeichnung dargestellt.

Dagegen wird die geschichtliche Genauigkeit des Berichtes geringeres Lob verdienen. Ahasverus ist jedenfalls der Name desjenigen persischen Königs, den die Griechen Xerxes nannten. Was wir aber über seine blutige Gemahlin Amestris wissen, paßt nicht zu Esther. Ob und wie lange Esther die Hauptgemahlin des Königs war, muß fraglich bleiben. Auch die Ausdehnung der Judenverfolgung über das ganze Reich und wohl auch die Größe ihrer Rache wird über das geschichtliche Maß hinausgreifen. Die Erzählung malt mit packenden, grandiosen Farben. Daß aber etwas derartiges wirklich geschehen ist, dafür zeugt das Purimfest. Solche Feste entstehen nicht ohne bestimmte Ereignisse, die Angst und Dank des Volkes tief erregen.

Seltsam ist, daß das Buch niemals von Gott spricht und seinen Namen nicht erwähnt. Nun ist es natürlich nicht die Meinung des Buches, daß wir in diesem unerwarteten Umschwung der Dinge und in der überraschenden Fügung aller Umstände das Spiel des Zufalls sehen sollten. Nein, das ist Gottes Finger und Regierung. Gott schützt Israel, fängt die Klugen in ihrer List und erhöht Israel über seine Bedränger. Das muß nicht erst ausgesprochen werden, weil das eines jeden Israeliten fest gegründete Überzeugung und Gewißheit ist. Freilich werden wir es als das höhere zu achten haben, wenn das dankbare und demüthige Bekenntnis, von Gott errettet zu sein, auch ausgesprochen wird und seinem Namen auch mit dem Munde die Ehre gegeben wird. Daß das Buch dies unterläßt, hängt mit einer inneren Richtung zusammen, die sich im späteren gesetzlichen Israel stark geltend machte: man scheute sich, den Namen Gottes auszusprechen. Man hatte ihn vor Augen und alles wurde zu ihm in Beziehung gesetzt; aber ihn zu nennen, das unterließ man lieber, damit sein Name nicht entheiligt sei. Vielleicht hat hier auch die Bestimmung des Buches, im fröhlichen Festtreiben der Purimtage gelesen zu werden, Einfluß gehabt. Der fromme Spruch wird nicht in dasselbe hineingemengt.

Die Frömmigkeit des Buches besteht darin, daß es am Bestand und Siege Israels nicht zweifelt, mögen auch die Herrn der Welt seinen Untergang beschlossen haben. Ob es zerstreut ist unter den Völkern, dennoch hebt es sein Haupt hoch empor und ist voll Zuversicht. Seine Verderber werden verderben, aber Israel bleibt. Die Liebe zu Gott erscheint hier als Liebe zu seinem Volk, der Anschluß an Gott als unverbrüchliche Treue gegen seine Gemeinde. Nun fährt das Buch freilich nach der Regel: Deinen Nächsten sollst du lieben, also deinen Feind hassen. Die Innigkeit und Kraft, mit der Israel umfaßt wird, hat als Kehrseite die energische Abstoßung neben sich gegen alle, die ihm zuwiderhandeln. Hier gilt nun freilich: wiederum stehet geschrieben, und das Buch Esther ist nicht das ganze alte Testament, noch weniger die ganze Bibel. Seine Tugend ist die starke Glut und Liebe, mit der es Israel umfaßt.

Das Buch spricht das letzte, höchste Wort der Schrift nicht aus. Daß Israel die Ehren, die ein Xerxes gewähren kann, und die Süßigkeiten seines Hofs genieße, ist das das Ziel, zu welchem es Gott so wunderbar erhält? Wozu Israel von Gott erhalten wird, das hören wir hier nicht. Aber die Wahrheit des Buches steht darin, daß in der That Gott Israel erhalten hat, mitten unter den Völkern, gegen aller Menschen Meinung, und daß es Pflicht und Beruf des Juden war, festzuhalten an der Gemeinde seines Volkes und nichts in der Welt höher zu schätzen als das Gedeihen Israels.

1)
Daß gerade das Los, die Purim, zum Namen des Festtags werden, hat den Spott in sich über die Ohnmacht des Heidentums.
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