Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Die drei ersten Evangelien.

Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Die drei ersten Evangelien.

Aus welcher Quelle die Evangelien stammen, hat uns Lukas in der Vorrede zu seinem Evangelium gesagt. Wer ein solches schrieb, sagt er, nahm seinen Stoff aus der Überlieferung derjenigen, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Worts geworden sind, Luk. 1,2. Die Männer, welche Jesus begleitet und hernach den apostolischen Beruf verwaltet haben, haben nicht nur die Hauptzüge aus Jesu Lebensgang, sondern auch die Erinnerung an eine große Zahl von einzelnen Worten und Handlungen Jesu der Kirche übergeben, und dieselben wurden hernach in den Gemeinden immer neu wiederholt und citiert. Daher bestehen die ersten drei Evangelien aus kleinen Abschnitten, teils Sprüchen, teils Geschichten, von denen jeder für sich ein kleines Ganzes bildet. Das sind die Bausteine, die ihnen die apostolische Erinnerung und Überlieferung zugebracht hat.

Offenbar geht unsern Evangelien viel fleißige Arbeit und treue Anstrengung des Gedächtnisses voran, womit die Lehrenden und Lernenden sich Jesu Worte und Thaten einprägten; sonst hätten sie uns kein so ausführliches und anschauliches Bild Jesu geben können. Diese Arbeit war der ersten Gemeinde durch die Art ihrer jüdischen Bildung erleichtert. Man war nicht an die Bücher und das Schreiben gewohnt, sondern von Jugend an dazu erzogen, einen großen geistigen Besitz im Gedächtnis zu tragen. Mit der Bibel wurde man dadurch vertraut, daß sie in den Schulen vorgelesen ward, und die Satzungen der Alten lebten weiter von Mund zu Mund. Dazu kamen in der Gemeinde noch besondere Antriebe, welche ihr die Worte Jesu wörtlich festzuhalten halfen, einerseits die Macht, mit der Jesus geredet und sein Wort in die Hörer eingegraben hat, andrerseits der innige Eifer ihres Glaubens und ihrer Liebe, welcher Jesu Wort hoch und theuer achtete als den Spruch ihres Meisters und Herrn und die Offenbarung Gottes an sie, vor allem jedoch die Gegenwart und Wirkung des Geistes Christi, der das, was Christus ihnen gegeben hatte, in ihnen auch erhielt und zu hellem Verständnis heranwachsen ließ.

Die Arbeit eines Evangelisten bestund somit zunächst darin, die Worte und Thaten Jesu zu sammeln, wie uns dies Lukas ausdrücklich sagt. Er wolle, erklärt er 1,3, nachdem er allem von den Anfängen an genau nachgegangen sei, dasselbe nun der Reihe nach aufschreiben. Über diese bescheidene, demütige und doch so große Aufgabe gingen sie nicht hinaus. Sie haben Jesus nicht mit ihrem eignen Licht beleuchtet und sein Wort nicht mit ihren Auslegungen umgeben und seine Thaten nicht zu erläutern versucht nach ihrer eignen, ob auch noch so reinen und richtigen Auffassung. Vielmehr stellen sie schlicht und einfach neben einander, was ihnen an Worten und Werken Jesu bekannt und überliefert war. Sie setzen ihre Person auf die Seite und lassen Jesus zu uns reden und vor uns handeln. Sie haben dadurch Erzählungen geschaffen, die auch nach ihrer Form bewunderungswürdig sind. In welch ruhiger Majestät schreitet z. B. die Passionsgeschichte einher! Und doch haben jene Ereignisse das Herz des Erzählers aufs tiefste bewegt und eine Welt von Schmerz und Liebe, von Dank und Glaube in ihm erregt. Aber kein Wort läßt uns an den Evangelisten denken. Alles dient dem einen Zweck, daß unser Auge fasse, was an Jesus selbst zu sehen ist. Es sind nicht künstlerische Erwägungen gewesen, welche diesen Erzählungen ihre vollendete Form gegeben haben. Dieselbe stammt aus einer viel tieferen und heiligeren Wurzel: aus dem Glauben der Evangelisten an ihren Herrn. Jene Ruhe, die ihrem Gegenstand allein hingegeben bleibt und den Erzähler zum reinen Spiegel macht, darin Jesu Bild erscheint, kommt daher, weil sie nicht ihrer selbst wegen schrieben, sich zur Lust und Ehre, sondern in tiefer Beugung vor Christo, ihm zum Dienst, damit er in der Kirche unvergessen sei und in ihr fortlebe und regiere als ihr alleiniger Herr.

Neben den einzelnen Bausteinen war auch der Plan und Grundriß der Evangelien den Evangelisten durch die apostolische Predigt gegeben, weshalb er auch bei allen Evangelien derselbe ist. Für alle bildet Jesu Auferstehung das Ziel, bei dem sie stille stehn. Vorher verweilen sie mit besondrer Ausführlichkeit bei der Passionsgeschichte. Denn die apostolische Predigt hatte in Jesu Kreuz und Auferstehung ihren Mittelpunkt. Die vorangehende Thätigkeit Jesu wird in zwei Teile zerlegt: in Galiläa hat er seine Jünger gesammelt und unterwiesen; sodann zog er nach Jerusalem zum Kampf mit den Obersten der Juden und in den Tod. Dabei wird die Achtsamkeit teils auf Jesu Worte, teils auf seine Zeichen gerichtet. Jene enthalten sein Gebot und seine Verheißung für alle, die sich an ihn anschließen; diese offenbaren die Macht Gottes, welche ihm gegeben war, und bezeugen ihn als den gesalbten König von oben. Voran geht die Erinnerung an Johannes als an den Propheten, den Gott vor ihm hergesandt hat, während die Geschichten, die mit seiner Geburt zusammenhängen, am wenigsten gleichmäßig erzählt werden und Jesu Leben in Nazareth vor seiner Taufe gänzlich übergangen wird. In all dem sind die Evangelien abhängig von der Form und Art der ersten apostolischen Verkündigung.

Neben der sammelnden Thätigkeit lag den Evangelisten ob, eine Auswahl zu treffen aus Jesu Worten und Werken. Keiner von ihnen hat alle Geschichten erzählt, die ihm von Jesus zugänglich waren. Man hat dies oft befremdlich gefunden und gesagt: wie sollte ein Evangelist Worte oder Thaten Christi verschweigen und übergehen? Sie setzten jedoch mit dieser Auswahl einfach fort, was sie in der mündlichen Lehrarbeit beständig thaten. Wollten sie jemand mit Jesus bekannt machen, so konnten sie ihm nicht alles erzählen, was von ihm zu sagen war; sie griffen einiges aus Jesu Wort und Werk heraus, damit ihm Jesu Art und Gang daran erkennbar werde. So hoben sie auch, als sie ihre Büchlein schrieben, aus dem Erinnerungsschatz der Gemeinde das hervor, was geeignet war, das Bild Jesu, welches ihnen vorschwebte, ihren Lesern hell und deutlich zu machen. Nun war es natürlich von großer Wichtigkeit, welche Worte und Handlungen ein Evangelist auswählte, in welchen Ausdruck er sie faßte und wie er sie gruppierte, wie er die großen Wendepunkte im Lebensgang Jesu hervortreten ließ, was er als das oberste Ziel ins Auge faßte, nach welchem Jesu Werk gestaltet und geordnet war. Die Auffassung und Gruppierung der einzelnen Worte und Thaten Jesu ist das Gebiet, auf dem die eigne geistige Kraft der Evangelisten und die besondre Gabe eines jeden thätig wird. Das gibt jedem Evangelium seine persönliche Färbung und Eigenart, so daß jedes Christi Bild in besondrer Fassung und Begrenzung wiedergibt.

Es lag in der Natur der Sache, daß man in der Gemeinde in der Predigt und im Gespräch nicht lange zusammenhängende Schilderungen, sondern einzelne gewichtige Worte und Thaten Jesu wiederholte, wobei man sich nicht beim äußern Hergang der Dinge aufhielt und gegen die genaue Folge und Verkettung der Ereignisse vielfach gleichgültig war. Die einzelnen Worte und Handlungen Jesu lösten sich von ihrer Veranlassung und ihren Nebenumständen ab und die zeitliche Ordnung, in der sie auf einander folgten, wurde vergessen. Sodann wurden die Worte Jesu auf ähnliche Situationen übertragen, mit verwandten Aussprüchen zusammengestellt und dadurch in neue Zusammenhänge eingefügt. Diese freie Behandlung der einzelnen kleinen Abschnitte setzt sich auch in unsern Evangelien fort. Sie bleiben in dieser Hinsicht bei der Art der ersten Überlieferung. Jedes gruppiert die Erzählungen nach eignem Ermessen; keines gibt uns eine sichere Zeitfolge, keines überall den ursprünglichen Zusammenhang.

Trotz dieser mannigfachen Unsicherheit in Bezug auf Zeit und Ort und äußere Verknüpfung der Ereignisse sagt uns Lukas, daß sein Evangelium die Sicherheit des Wortes darzuthun vermag, in welchem die Gemeinde unterwiesen ist, Luk. 1,4. Diese Erklärung macht sichtbar, welches die innere Stellung der Evangelisten bei ihrer Arbeit war. Lukas hält uns sein Evangelium als den Prüfstein vor, an welchem wir der apostolischen Lehre gewiß werden sollen. Wir sollen im Blick auf das, was Jesus selber sagte und that, erwägen, ob wir nach der Apostel Mahnung auf ihn unser Glauben und Hoffen stellen wollen und eine völlige Zuversicht zu Gott mit seinem Namen verbinden können. Das ist nicht die Stellung eines Poeten oder erbaulichen Redners, der uns mit seinen Erzählungen mancherlei heilsame Anregungen geben will, einerlei ob sich die Sache so verhalten habe oder nicht. Auf poetische Gebilde gründet niemand sein Leben und Handeln; zu ihnen hat niemand Zuversicht. Will jemand den Inhalt der Evangelien teilweise oder ganz für Dichtung halten, so darf er jedenfalls nicht die Evangelisten zu Poeten machen. Daran kann niemand zweifeln, daß sie das, was sie uns erzählen, einfach für Wirklichkeit gehalten haben und im nüchternsten Sinn als Geschichtsschreiber vor uns treten. Sie wollten der Kirche dazu helfen, daß sie wisse, wem sie glaubt. Allerdings wollten sie nicht nur der Neugier und Geschichtskunde, sondern der höchsten Bewegung unsers inwendigen Lebens dienen. Sie machen uns Jesus dazu bekannt, damit wir in ihm Gott finden und in Jesus unsern Herrn erkennen, der unseres Lebens Weg und Ziel ausmacht. Was nicht zu diesem Zwecke nötig ist, bleibt ihnen als nebensächlich auf der Seite. Dagegen sind sie überzeugt, daß sie mit Sicherheit zu diesem Ziel uns hinleiten.

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