Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Das Alte Testament.

Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Das Alte Testament.

Das Alte Testament ist mehr als eine Sammlung von „Literatur“ aus Israels alter Zeit. Es ist ein löbliches Unternehmen, wenn in einem Volke alte Nachrichten und Schriften gesammelt werden und die frühere Geschichte der Vergessenheit entzogen wird. Für die späteren Geschlechter ist's ein Gewinn, wenn sie den Gang ihres Volkes überschauen können, durch den sie selbst auf's tiefste beeinflußt sind. Das Alte Testament ist jedoch nicht auf diesem Wege entstanden. Es hat seine Wurzeln nicht nur im Patriotismus der Juden und ist nicht aus der Bewunderung und Pietät derselben für die Geschichte ihres Volkes erwachsen, sondern es ist um Gottes willen geschrieben, damit es der Erkenntnis Gottes diene. Die Absicht der alttestamentlichen Schriften und ihrer Sammlung richtet sich darauf, daß die Verehrung und der Dienst Gottes in Israel begründet und erhalten werde.

„Literatur“ gab's unter den alten Juden noch viel mehr als das, was im Alten Testamente steht. Sie hatten noch andere Gesetze neben den mosaischen. Denn auch ihre Könige erstellten Recht und Gesetz, und ihre Verordnungen wurden aufgeschrieben. Das alles ist verschwunden. Nicht ein einziges Gesetz irgend eines Königs hat den Weg in die Bibel gefunden. Man erzählte sich im Volk nicht nur die biblischen Geschichten, sondern noch manches andere von den Kriegen der Stämme und von den Erlebnissen merkwürdiger Männer, und die Könige ließen aufschreiben, was sie in Krieg und Frieden großes gethan hatten. Man sang auch nicht bloß Psalmen; neben ihnen gab's noch viele Lieder von all dem, wovon man überall zu singen pflegt. Das ist alles verklungen. Warum sind die biblischen Bücher noch da? Weil sie Israels heilige Schriften sind, Unterricht über Gott, die Aufbewahrung einer göttlichen Wahrheit und eines göttlichen Gebotes.

Sicherlich schrieben die biblischen Männer aus lebendiger Liebe zu ihrem Volk und mit hoher Verehrung für dessen Väter. Es ist schwerlich je eine Stadt so heiß geliebt worden wie Jerusalem und ein Mann so hoch verehrt worden wie Mose von den Juden. Aber in dieser Liebe und Verehrung lebt und spricht nicht bloß die natürliche Empfindung der Gemeinsamkeit, die zwischen uns und unserm Volk besteht, sondern hier war der gemeinsame Gott die verbindende und einigende Kraft. Die Väter wurden geehrt als die Boten und Zeugen Gottes; und das Volk geliebt als Gottes Reich und Eigentum. Seine Geschichte wurde geschrieben und gelesen als die Nachricht von dem, was Gott gethan hatte und wie er in Wort und That sich offenbarte. Hier ist überall Gott die Hauptperson.

So führt uns das Alte Testament zu der großen Stiftung Gottes hin, die seine lebendige Wurzel ist, aus der es entstand und allein entstehen konnte: daß es nämlich eine Gemeinde Gottes gab. Es gab nirgends auf Erden eine solche als in Israel. Hier entstand ein Volk, das den einigen und wahrhaftigen Gott kannte, das ihn als seinen Herrn und König ehrte und seinen gütigen und heiligen Willen als sein oberstes Gesetz ergriff. Dazu kam es deshalb, weil Gott in die Mitte Israels seine besonderen Boten und Zeugen hingesetzt hat. Abraham, Mose und die Propheten sind die gewaltigen Pfeiler, auf denen die Gemeinde Gottes steht. Ohne sie hätte es weder ein heiliges Volk des Herrn, noch ein Altes Testament gegeben, so wenig als ein Neues Testament ohne Jesus. Der Dienst dieser besonders begabten und hoch über die andern emporgehobenen Männer bestand zunächst nicht darin, daß sie Bücher schrieben. Sie machten mit dem lebendigen Wort und der zeugenden That Israel Gott unterthan, und die Schrift kam hernach hinzu als das Mittel, dies auch für die spätern Geschlechter zu erhalten und fruchtbar zu machen, ganz wie im Neuen, so auch im Alten Testament.

Daher kommt es, daß der größere Teil des Alten Testaments von Männern verfaßt ist, die uns nicht einmal dem Namen nach bekannt sind. Wir kennen von allen geschichtlichen Büchern mit Einschluß der Bücher Mose die Verfasser nicht, ebensowenig von den poetischen Büchern mit Ausnahme einiger Psalmen, und auch unter den prophetischen Reden finden sich solche, bei denen der Name des Propheten verschwunden ist. Was waren diese Männer? Israeliten, Anteilhaber an dem Wahrheitsschatze, den ihr Volk besaß, die in der Erkenntnis und Gemeinschaft des Gottes lebten, dem ihr Volk angehörte. Die Art, wie sie die Erlebnisse ihres Volkes auffassen und erzählen, war nicht ihre eigene Erfindung; so schaute man in der Gemeinde, unter der sie lebten, in die Vergangenheit zurück. Der Glaube, aus dem ihr Psalm entsprang, war nicht ihr besondrer Vorzug; zu solchem Glauben war die Gemeinde von Gott erzogen und erweckt. Und sie schrieben dazu, damit dies alles, wie sie selbst es empfangen hatten, als ein heiliges Erbe bei ihrem Volke bleibe immerdar.

Nun war die alttestamentliche Gemeinde Gottes zugleich ein Volk, erbaut auf den natürlichen Zusammenhang der jüdischen Geschlechter und in sie hinein gesenkt. Das ist das Wunder des Alten Testaments, wie es das Wunder des Neuen ist, daß der Mensch Jesus in seiner vollen, wahrhaften Natürlichkeit der Sohn Gottes ist. Das Leben eines Volkes ist aber etwas überaus mannigfaltiges, zumal wenn es sich durch die Jahrhunderte hindurch erstreckt. Es hat zahlreiche Bedürfnisse und braucht viele Gaben. Es hat ein Land nötig und Nahrung und Sieg und Frieden. Es bedarf eines Gesetzes als seiner festen Stütze, und zugleich beweglicher Freiheit, damit es zu neuen Lebensgestaltungen vorwärts komme. Es besteht aus Weisen und Stumpfen, Gerechten und Abgewichenen, Lehrenden und Lernenden. Es bedarf deshalb vielerlei Lehre, über Irdisches und Himmlisches, Natürliches und Göttliches. Es bedarf gnädige Hilfe und ernste Zucht, schonende Geduld und einschneidende Strafen. Diese ganze Mannigfaltigkeit der Erlebnisse Israels wird vom göttlichen Sprechen und Handeln durchdrungen und breitet sich in den alttestamentlichen Schriften vor uns aus. Sie sind deshalb nach Art und Inhalt von einander sehr verschieden, aber darin alle eins, daß sie uns zeigen, wie Gott in Israel seine Gemeinde gegründet, erhalten und geleitet hat.

Daraus, daß in Israel die natürliche Volksgemeinschaft und die Gemeinschaft mit Gott noch zusammengebunden sind, zieht das Alte Testament seine beiden Eigenschaften, einmal seinen Reichtum und seine Lieblichkeit, die Fülle ewiger Wahrheit, die in ihm enthalten ist, und sodann seine Schranke, die zeitliche Begrenzung, das Vergängliche an ihm, weshalb es ein Altes Testament geworden ist. Das Ewige ist eingefaßt in's Zeitliche und Irdische. Gottes Geist waltet in den Formen und Schranken der natürlichen Art Israels. Gott macht seine unerschöpfliche Weisheit und Gnade an den Erlebnissen dieses einen kleinen Volkes offenbar. Das bringt uns Gott nah und macht ihn uns faßlich; aber dies ist nicht die letzte und vollkommene Gestalt, wie Gott mit uns spricht und bei uns wohnt. Das weist auf ein zukünftiges hin, wo Gottes Wort und Werk sich nach seinem Reichtum frei entfalten wird, nicht gebunden an das natürliche Volkstum Israels.

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