Schlachter, Franz Eugen - Jarousseau, der Pfarrer der Wüste

Schlachter, Franz Eugen - Jarousseau, der Pfarrer der Wüste

von

Eugen Pelletan

Deutsch bearbeitet von F. Schlachter

Kapitel 1

Ein Besuch

Vor mehr als hundert Jahren, zur Zeit des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, wanderte ein Mann halb zu Fuß und halb zu Pferd von dem Flecken Méchez-sur-Gironde nach dem Dorfe St. Georges-de-Didonne. Sein Rösslein, das ihm eben jetzt mit dem Zügel auf dem Nacken folgte, war eine ältere Limousiner Stute, der Farbe nach ein Apfelschimmel, einäugig und recht mager anzusehen. Es ahmte pünktlich jede Bewegung seines Herrn nach, blieb stehen, wenn er stehen blieb und beschleunigte den Schritt, so oft er es tat, was freilich nicht oft geschah, denn der Herr pflegte im Gehen nachzudenken und las andächtig in einem in Samt gebundenen Buch. Der Wanderer war ein noch jüngerer Mann, aber seine Haare waren vor der Zeit ergraut, sei es durch schwere körperliche oder geistige Arbeit, oder durch beides zugleich. Er trug einen breitkrempigen, runden Hut, Kleider von grauem Kamlot und eisenbeschlagene Schuhe. Sein friedlicher Gesichtsausdruck, das Gepräge ländlicher Gutmütigkeit, sein tiefsinniger Blick, der von Gedankenreichtum zeugte, zusammen mit der durchfurchten Stirn, verrieten einen Charakter, in welchem Energie und Aufrichtigkeit, Entschlossenheit und Träumerei sich in inniger Harmonie verbanden.

Die glühende Julisonne neigte sich zum Untergang, und unser Wanderer hatte eben die Nähe des Meeresstrandes erreicht, da wo die Straße in der sandigen Düne verschwindet, als er bei der Biegung um einen Sandhügel einen jungen Reiter vor sich sah, der von seinem Sattel herab die Gegend musterte und offenbar sich nicht zurecht finden konnte in dem frisch verwehten Sand. Der junge Mann war jedenfalls fremd in diesem Land. Seinem Anzug nach musste er entweder ein Offizier oder ein Höfling sein. Er trug eine silberbrodierte Uniform, Manschetten und einen Degen, mit seidener Schleife geziert.

„Sie kommen wie gewünscht!“ rief er dem in Gedanken versunkenen Wanderer zu; „schon eine ganze Stunde drehe ich mich in dieser verwünschten Düne herum und kann nicht die geringste Spur von einem Wege entdecken!“

Bei dieser barschen Anrede blickte der wandernde Leser von seinem Buche auf und schaute unter seinem Quäckerhut hervor mit durchdringendem Blick auf den jungen Reiter. „Wollen Sie nach St. Georges?“ fragte er ihn. – „Ja, wenn überhaupt ein Nest dieses Namens auf diesem Maulwurfshaufen existiert!“ – „Wollen Sie vielleicht zum Pfarrer Jarousseau?“ fragte der ernste Mann weiter, nicht im mindesten aus der Fassung gebracht durch die jugendliche Ungeduld. – „Ja, gerade für den habe ich einen Quartierzettel in der Tasche.“ – „Sie sind gewiss ein Offizier?“ – „Zu dienen, mein Freund, und zwar ein Dragoner; es scheint ja,“ fügte er ungeduldig hinzu, „dass man in diesem Lande ein regelrechtes Verhör durchmachen muss, wenn man eine Auskunft bekommen will. Verlangen Sie etwa auch noch meinen Pass?“

„Ein Dragoneroffizier,“ murmelte der Wanderer, ohne auf den Vorwurf des jungen Mannes zu achten, und sein Gesicht nahm einen wehmütigen Ausdruck an. Er fasste sich aber und sagte in gleichgültigem Tone: „Folgen Sie mir!“ Damit beugte er sich wieder über sein Buch und las weiter, wie wenn nichts vorgefallen wäre.

Der junge Offizier folgt ihm, doch bald übermannte ihn wieder seine Ungeduld. „Guter Freund,“ platzte er heraus, „geben Sie mir doch einfach die einzuschlagende Richtung an, dann finde ich mich schon zurecht.“

„Wenn ich das auch tue, so kommen Sie deshalb um nichts schneller ans Ziel.“

„Warum denn nicht? Glauben Sie, ich könne keine Erklärung verstehen?“

„Bewahre! Aber wenn Sie es denn wissen wollen; der Pfarrer, den Sie suchen, der bin ich! Und, lassen Sie sich´s nur sagen, junger Mann, Sie haben frühe angefangen, ein böses Handwerk zu treiben. Ich sage es Ihnen offen, Sie dauern mich!“

Der junge Mann war wie vom Himmel gefallen. „Bitte, wie meinen Sie das, Herr Pfarrer?“ fragte er bestürzt.

„Sie haben es ja selbst gesagt, Sie seien Dragoneroffizier.“

„Sogar Oberst, wenn es Ihnen beliebt. Ich habe mir schon vor einem Vierteljahr diesen Titel gekauft.“

„Oberst oder Offizier, das ist mir einerlei; ein Mann Ihres Berufs kann den Pfarrer Jarousseau nur suchen, um ihn zu verhaften!“ antwortete unser Wanderer etwas aufgeregt.

„Ich Sie verhaften!“ rief der junge Mann und lachte laut auf; „halten Sie mich denn für einen Schergen? Ich komme im Gegenteil, Sie um Ihre Gastfreundschaft zu bitten. Ich verlasse morgen früh die französische Küste und schiffe mich nach Boston ein, um in Amerika am Unabhängigkeitskriege teilzunehmen. Ich wollte im benachbarten Schlosse von Semussac einkehren. Der Graf von Senneterre, mein weitläufiger Vetter, hatte mir schon ein Schlafzimmer bereitet. Aber seine Frau ist eine Nichte des Herzogs von Uzès, und der Onkel kam unerwartet zu Gast. Der Herzog darf als Statthalter der Provinz nichts von meiner Reise wissen, deshalb hat der Graf mich zu Ihnen geschickt. Alles weitere sagt Ihnen sein Empfehlungsbrief.“

Der Pfarrer nahm den Empfehlungsbrief des Grafen und steckte ihn ungelesen in die Tasche. „Ihr Wort genügt mir,“ sagte er wohlwollend zu dem jungen Mann; „im Übrigen bitte ich Ihnen mein unbesonnenes Vorurteil ab“.

Unter Gesprächen, denen Jarousseau eine ernste Wendung gab, ritten die beiden ungleichartigen Begleiter dem Strand von St. Georges zu. Im letzten Schein der Dämmerung konnte der junge Herr jetzt ein romantisches Dörflein sehen, das in malerischer Unordnung auf der Düne zerstreut lag, inmitten von Weiden und Tamariskengebüsch. Eine hohe Rauchsäule stieg da und dort über der grünen Flur in die unbewegte Luft. „Dieser Rauch bedeutet für mich etwas Gutes,“ meinte der junge Edelmann. „Ich bekenne Ihnen, dass ich ohne Aufenthalt von Blaye hierher geritten bin, und nach einer so langen Reise schätzt man ein gutes Nachtessen ungemein.“

Kapitel 2

Das Pfarrhaus von St. Georges

Die Sonne war eben untergegangen, da klopfte der Pfarrer dreimal an das Hoftor eines einzelstehenden Häuschens, das hinter der Düne versteckt am Rande eines Geheges lag. Auf diese geheimnisvolle Mahnung von außen ließ sich auf dem gepflasterten Hof der regelmäßige Tritt zweier Holzschuhe vernehmen. Die Tür drehte sich leise in den Angeln und auf der Schwelle erschien, die Laterne in der Hand, eine kleine, hinkende, bucklige, alte Frauensperson. Als sie die Uniform erblickte, fiel ihr vor Schreck das Licht aus der Hand und sie stieß einen Angstschrei aus.

„Madeleine,“ sagte der Pfarrer in beruhigendem Tone zu ihr, „der Herr, den ich da bringe, kommt nicht um mich zu verhaften, sondern ist ein unbekannter Freund aus Paris, der uns mit seinem Besuch beehren will. Führe sein Pferd in den Stall und bereite das Abendessen für uns. Unterdessen bin ich so frei und stelle Ihnen, Herr Marquis, meine Familie vor; bitte, treten Sie ein.“

Der Pfarrer nahm seinem Pferde den Zügel ab, es durfte sich im Hofe sein Lager suchen, musste aber den Sattel auf dem Rücken behalten wie ein Eilbote, der für jeden Fall gegürtet ist. Dann führte er seinen Gast in das Wohnzimmer des Hauses im Erdgeschoss. Eine bescheidene Hausfrau, das Gesicht halb versteckt unter den Bändern einer Haube, wie sie die Frauen jener Gegend tragen, spann schweigend an ihrem Rocken. Ein Häuflein kleiner Mädchen und ein Knabe saßen um sie her. Die Kinder waren frühzeitig an Arbeit gewöhnt; sie saßen kerzengerade auf ihrem Stuhl, das Strickzeug in der Hand und den Wollknäuel auf dem Schoß.

„Frau,“ sagte der Pfarrer, als er eintrat, „preise den Herrn; ein Gast ist bei uns eingekehrt. Steh´ auf und heiß ihn willkommen! Es ist der Marquis von Mauroy.“

Die Pfarrerin erhob sich langsam von ihrem Sitz, verneigte sich mit Würde und – gestehen wir es – auch mit etwas Unbeholfenheit, die bei einer Frau, welche nur für Gebet und Arbeit erzogen ist, sehr verzeihlich erscheint. Nachdem sie den Gast begrüßt, zog sie sich zurück, ohne ein Wort zu sagen, um in der Küche die nötige Hilfe zu leisten.

„Hier sehen Sie nun meine Bastarde,“ sagte der Pfarrer zu dem Edelmann, indem er auf seine Kinder wies.

„Was, Bastarde sagen Sie? Ich glaubte im Gegenteil, dass in Ihrer Religion ….“

„Ja, meine Bastarde, und zwar Bastarde nach dem Gesetz, denn die Kinder protestantischer Eheleute sind nicht als ehelich anerkannt. Nun, Kinder steht einmal auf und begrüßt den Herrn Marquis! Jarousseau, du bist der Älteste, geh´ mit gutem Beispiel voran!“

Im Westen Frankreichs ist es Sitte, dass man den ältesten Knaben häufiger beim Familiennamen als beim Taufnamen ruft. Jarousseau war ein Junge von 14 bis 15 Jahren. Der blonde, blauäugige Knabe sah mutig in die Welt. Er trat mit festem Blick vor den Herrn Marquis, verneigte sich und schlüpfte so schnell wie möglich zur Tür hinaus.

„Jetzt du Elisabeth!“ rief der Vater.

Ein kleines Mädchen, rosig wie eine Pfirsichblüte, das aber in seinem groben Leinwandhäubchen so ernsthaft dreinschaute wie eine Konfirmandin, steckte still das Strickzeug in die Schürzentasche, näherte sich mit gesenktem Blick, machte eine Verbeugung und verschwand. Der Marquis nickte ein wenig, als er sie vorüber gehen sah.

„Nun ist´s an dir, Adelheid; komm sage dem Herrn Marquis guten Tag; der Gruß eines Kindes bringt Glück.“

Adelheid steckte die Stricknadeln in den Knäuel und defilierte an dem fremden Herrn vorbei, den Kopf zur Seite gewandt.

Der Marquis verbeugte sich tief.

„Sophie, warum kommst du nicht gleich hinter Adelheid her?“ fuhr der Pfarrer fort. Das Mädchen beugte das Knie vor dem Marquis und verschwand ebenfalls hinter der Tür.

Ein dreijähriges Mädchen, mit auffallend bleichem Gesicht, saß nun noch im Zimmer auf einem Schemel und betrachtete mit großen Augen die Uniform des Fremden. Beim Anblick des gestickten Rockes befiel sie ein nervöses Zittern; erschreckt sprang sie auf und lief davon.

„Das ist Benigna,“ sagte der Pfarrer bewegt, „das letzte Geschenk unseres himmlischen Vaters, das uns zu teil geworden ist. Das arme Kind kam in einer angstvollen Stunde zur Welt. Am Tage ihrer Geburt erschienen die Dragoner, um mich auf Befehl des Intendanten von La Rochelle in meiner Wohnung zu verhaften. Ich hatte kaum noch Zeit zur Flucht. Sie trafen meine Frau in Geburtswehen an. Die Unglückliche gebar eine Tochter, bleich wie der Tod, welche, wie Sie sehen, die Farbe des Lebens bis jetzt noch nicht bekommen und auch noch kein Wort sprechen gelernt hat. Sie müssen dem Kinde also seine Unhöflichkeit verzeihen, die nur von der Angst herkommt.“

Kapitel 3

Die Stute Misere

In dem Pfarrhaus herrschte die strenge calvinistische Einfachheit, die durch die Verfolgung noch strenger geworden war. Die stete Erwartung des Märtyrertums hatte in den protestantischen Familien Frankreichs schon lange einen ernsten, von der Erde abgelösten Sinn gepflanzt und einen traurigen Schatten selbst über die Wiege des Kindes und über die Wände des Hauses gebreitet. Nur was zum Leben unumgänglich notwendig war, befand sich in der Wohnung; alles was bloß für den Augenschein berechnet ist, war strenge verbannt. Der Marquis betrachtete darum ziemlich erstaunt die patriarchalische Stube, in die er eingetreten war. Sie enthielt kaum ein Dutzend strohgeflochtener Stühle, zwei Lehnsessel, einen Eckschrank und dazu eine Wanduhr, die unter einer Glasglocke auf einem Kästchen von Nussbaumholz stand. Der Pfarrer, der die Gedanken des Edelmannes zu erraten schien, deutete auf die kahle Wand, deren einziger Schmuck in der weißen Tünche bestand, und sagte zu ihm: „Dies ist ein Zelt, und wir wohnen darin wie die Wanderer, die heute nicht wissen, ob sie es morgen wiederfinden; wir haben hier keine bleibende Stätte, sondern die zukünftige suchen wir.“

Unterdessen stellte Madeleine auf den tannenen Tisch das einfache Abendbrot, das aus einer Schüssel Maisbrei, einer Schnitte gebratenen Schinkens, einen Topf Traubenmus und einem Stück Honigwaben bestand. Eine Flasche alten Weins, von der Hand einer früheren Generation versiegelt und jetzt der besondern Veranlassung zu lieb aus dem Versteck geholt, zeigte jedoch, dass die Hausfrau die Pflichten der Gastfreundschaft soweit erfüllen wollte, als es ihr bescheidener Keller gestattete.

„Gott ist dennoch gut,“ sagte der Pfarrer, aus den Gedanken über die Unsicherheit seiner irdischen Lage erwachend, „wir leben von einem Tag zum andern. Lassen Sie uns jetzt alle trüben Gedanken fernehalten und im Frieden der Seele das leibliche Brot genießen!“

„Das Brot?“ antwortete Madeleine, plötzlich an ihre Vergesslichkeit erinnert durch dieses Wort. „Wir müssen welches von Royan holen lassen, da augenblicklich kein Stückchen Weißbrot im ganzen Dorfe aufzutreiben ist.“

„Schwarz oder weiß, das ist ganz gleich,“ sagte der Marquis, „das, welches am schnellsten kommt, ist das Beste; dafür habe ich meinen Appetit den ganzen Tag lang aufgespart, um dem Brote Ehre anzutun.“

„Gott verlässt seine Kinder nicht,“ sagte der Pfarrer lächelnd, „und ich bin noch nicht so weit heruntergekommen, dass ich meine Gäste mit grobem Brote bewirten müsste.“

Bei diesen Worten pfiff er zum Fenster hinaus. Ein Wiehern im Hofe draußen war die Antwort auf dieses Signal, und gleich darauf streckte das kleine Pferd, das frei im Hofe umherlief, seinen Kopf zum Fenster hinein, als wollte es fragen: „Was beliebt?“

Madeleine schob als Antwort einen Zettel in die Satteltasche, worauf das Pferd sich verständnisvoll umdrehte und in der Dunkelheit verschwand. Man vernahm noch einen Augenblick seinen regelmäßigen Trab, dann war sein Hufschlag in der Ferne verhallt.

„Wissen Sie, Herr Pfarrer,“ rief endlich der erstaunte Marquis aus, „dass ich in diesem Augenblick glauben könnte, ich sei im Märchenland? Ihr Rösslein wird sicher von einem Kobold geritten!“

„Bringen Sie mich nicht in den Verdacht der Zauberei,“ antwortete der Pfarrer lächelnd, „es ist genug, dass ich als Ketzer verschrieen bin. Aber,“ fügte er ernster werdend hinzu, „haben Sie nicht den weißen Stern auf Miseres Stirn bemerkt – so hat nämlich meine Frau das Pferd benannt -; dieser Stern ist das Zeichen von Gottes Finger, der mit geheimnisvoller Schrift auf des Pferdes Stirne geschrieben hat: „Hier wohnt ein Geist.“

„Der Geist eines Pferdes!“ platzte der Marquis heraus; „wer hat das schon gehört?“

„Nun, ich meine auch nicht,“ fuhr der Pfarrer ruhig fort, „dass ein Menschengeist in dem Pferde wohne, aber doch ein feiner Instinkt ist ihm vom Schöpfer mitgeteilt. Die Heilige Schrift sagt ja auch, dass der Odem des Herrn die Tiere treibe (Jesaja 63,14). Diesen geheimnisvollen Trieb, den der gute Gott in sie gelegt hat, habe ich bei Misere geweckt, und nun denkt sie auf ihre Art. Sie besorgt mir Kommissionen im nächsten Städtchen. Sie klopft an des Bäckers Tür; der Bäcker füllt ihren Quersack und schickt sie heim. So geht sie beständig hin und her, ohne dass sie sich verspätet oder verirrt. Sie können sich deshalb wohl denken, wie wertvoll das Tier für mich ist; denn in meinem gefahrvollen Beruf tut es mir noch zudem oft treuen Schildwachendienst. Wenn ich bedenke, welch´ väterliche Fürsorge Gott für mich armen Geächteten darin bewiesen, dass Er dieses Tier mir zugeführt hat, so werde ich zu innigem Dank gerührt!“

Der Pfarrer hatte noch nicht geendet, als Misere ihre dampfenden Nüstern an die Fensterscheibe drückte; das gute Tier hatte mittlerweile den Weg zum Bäcker zurückgelegt.

„Das Brot ist da, Herr Marquis, setzen wir uns!“ Mit diesen Worten nahm der Pfarrer seine Kopfbedeckung ab und sprach das Tischgebet. Seinem Gast war das freilich etwas Ungewohntes; aber er dachte: ich gehe ja nach Amerika, in das Land des Evangeliums; es ist gut, wenn ich mich jetzt schon an die dortige Sitte gewöhne, und so faltete er seine Hände auch.

Nach dem Essen nahm der Pfarrer ein Licht und führte den Marquis in seine Schlafzimmer, denn es war schon spät. Dieses Zimmer war ein bescheidenes Stübchen im ersten Stock, der zugleich den Estrich bildete. Hier stand ein hohes Himmelbett mit grünen Vorhängen, die Matratzen waren fast bis zur Zimmerdecke aufgetürmt. Dennoch vollbrachte der Marquis das mühsame Kletterkunststück glücklich, in welchem vor Alters das Zubettgehen bestand, und müde, wie er von der langen Reise war, brauchte er nicht zu sorgen für den Schlaf.

Aber kaum hatte er die Augen geschlossen, als er hinter sich in der Wand ein unerklärliches Geräusch vernahm. Es kam von unten herauf bis zur Höhe seines Bettes und stieg an seinem Kopf vorbei noch weiter hinauf. Jetzt tönte es wie ein Hammerschlag, dann wieder wie ein Fußtritt in der Mauer drin. Plötzlich hörte das Geräusch auf. Der Marquis vernahm noch etwas wie einen dumpfen Fall auf den Fußboden, dem ein Flüstern folgte. Endlich gelangte noch ein lautes „Amen“ an sein Ohr, dann war alles mäuschenstill und man vernahm nur noch das eintönige Rauschen des Meeres in der Stille der Nacht.

„Das ist entschieden verdächtig, um nicht zu sagen beunruhigend,“ dachte der Marquis, der solchergestalt aus seinem ersten Schlummer aufgeschreckt worden war. Er erinnerte sich jetzt wieder an die rätselhaften Reden des Pfarrers, an dessen sonderbares Pferd, und das alles, zusammen mit der Phantasie, welche die Schatten der Nacht so gerne erregen, legte ihm den Verdacht nahe, dass er am Ende in das Haus eines Zauberers geraten sei. Zu aller Vorsicht zog er wenigstens die Decke über die Ohren, bekreuzigte sich und war froh, dass der barmherzige Schlaf seiner erregten Phantasie bald eine andere Wendung gab.

Kapitel 4

Ein Versteck

Der Marquis von Mauroy erwachte am andern Morgen mit dem ersten Sonnenstrahl. Als ihm seine Gespensterfurcht vom gestrigen Abend wieder in Erinnerung kam, schämte er sich ein wenig seiner Leichtgläubigkeit. Er war ja sonst ungläubig, wie das so Mode war in der damaligen noblen Welt, aber das hinderte ihn nicht, gelegentlich abergläubisch zu sein. Doch jetzt war es Morgen und da fürchtet man die Nachtgespenster nicht. Er kleidete sich also so schnell wie möglich an und verfügte sich ins Esszimmer, wo es ihm doch ungleich heimeliger war.

Der Pfarrer erwartete ihn schon. „Wie haben Sie geschlafen?“ fragte er seinen Gast.

„Vortrefflich! Nur,“ fügte er lächelnd hinzu, „ haben Sie ein Gespenst im Haus. Ich hörte es durch die Mauer schreiten und zuletzt sagte es Amen. Es scheint, dass gegenwärtig auch die Gespenster beten.“

„Das Gespenst bin ich selbst,“ antwortete ruhig der Pfarrer, „und darf es Ihnen hier unter vier Augen wohl gestehen, dass ich mich jeden Abend in mein Versteck begebe mittelst einer Treppe, die in der dicken Mauer angebracht ist.“

„In Ihr Versteck?“ fragte der Marquis erstaunt. „Wozu brauchen Sie sich zu verstecken? Mein Onkel, der Graf von Senneterre hat mir Ihr Haus als das des achtenswertesten Mannes in der ganzen Gegend bezeichnet.“

„Ja, wenn ich sonst niemand zu fürchten hätte, als den Grafen, dann könnte ich ruhig aus- und eingehen und den Schlaf des Gerechten schlafen. Aber unglücklicherweise ist noch ein Mann in der Nähe, der stets den Machthabern in den Ohren liegt, um die strenge Ausübung der Gesetze zu verlangen. Das ist der katholische Priester des Ortes, der das Gesetz auf seiner Seite hat. Der Gouverneur hält sich für verpflichtet, mir von Zeit zu Zeit einen Hausbesuch zu machen, vermutlich nur der Form wegen; denn wenn es ihm daran läge, mich zu bekommen, so hätte er mich schon längst gefunden.

Wenn man mich aber fände, so müsste man mich verhaften, und wäre ich verhaftet, so müsste man mich hängen, um ein Exempel zu statuieren; der Text des Gesetzes ist in dieser Beziehung klar. Ich entgehe also dem Galgen, indem ich mich verstecke, aber doch schäme ich mich manchmal meiner Vorsicht. Ich muss mir sagen, wenn so viele Märtyrer ihr Blut für das Evangelium vergossen haben, so sollte ich mir ein Beispiel an ihrem Mute nehmen und, anstatt mich jeden Abend in Sicherheit zu bringen, ruhig mein Schicksal erwarten. Wenn ich dann aber all´ die Meinigen betrachte, meine Gemeinde und meine Familie, wenn ich an all´ die teuern und zarten Wesen denke, die mir anvertraut sind, und für die ich verantwortlich bin, so scheint es mir doch, es wäre Gott versucht, wenn ich dem Tode freiwillig entgegen ginge. Sollte ich mich aber hierin täuschen, so kennt doch Gott mein Herz und wird nach seiner unergründlichen Güte barmherzig gegen meine Schwachheit sein.“

Das Wort des Pfarrers war für den jungen, in der üppigen Luft von Versailles erzogenen Höfling, wie eine Offenbarung aus einer ihm unbekannten Welt des Leidens. Er wusste nur zu gut, dass man am königlichen Hof selbst nicht mehr an das glauben wollte, was die katholische Kirche lehrt. Dass man nun die armen Protestanten immer noch verfolgte, und zwar auf höhern Befehl, nur weil sie den katholischen Glauben nicht annahmen, der doch am Hofe selbst ungestraft bespöttelt ward, das schien ihm ein schrecklicher Widerspruch, eine unverantwortliche Heuchelei und Grausamkeit.

„Herr Pfarrer,“ sagte er darum tief bewegt, „es ist einfach absurd, wenn die Gewaltigen heutzutage noch Andersgläubige verfolgen. In einer Zeit, wo der sogenannte „allerchristlichste König“ von Frankreich die Duldsamkeit soweit treibt, dass er einen Gottesleugner zum Erzbischof von Paris ernennt – in einer solchen Zeit sollte man doch nicht mehr einen Mann als Verbrecher verfolgen, weil er auf französisch, anstatt auf lateinisch betet, und weil er das Abendmahl unter beiderlei Gestalt austeilt. So bescheiden auch gegenwärtig mein Einfluss im Staate ist, weiß ich doch, wem man die Augen über derartiges Unrecht auftun muss. Der königliche Minister Malesherbes ist mein Vetter im sechszehnten Grad – man ist ja unter dem Adel ins Unendliche verwandt. Ich werde ihm schreiben, und ich bin gewiss, wenn er einmal gehörig darüber unterrichtet ist, so wird er nicht ruhen, bis das letzte Blatt von dem Gesetz der Unduldsamkeit vernichtet ist, denn ich weiß, wie hoch er von der Gewissensfreiheit denkt.“

„Sie haben Recht,“ entgegnete der Pfarrer, „auch ich habe schon oft gewünscht: wenn es nur der König wüsste! Ich glaube, er würde es anders machen, und in dieser Überzeugung bete ich für ihn von ganzem Herzen. Aber wie soll ers erfahren? Wer wills ihm sagen? Wer von uns gilt so viel, dass er es wagen dürfte, ihm die Sache vorzutragen? Doch ich will mich gedulden. Es kommt mir vor, der Berg müsse bald erklommen sein. Sollte Gott seine Auserwählten nicht retten, die zu ihm Tag und Nacht schreien, ob er auch lange verzieht? Ich glaube, dass Er sie in Kürze erretten wird. Es ist mir, als dämmere das Morgenrot der Freiheit am Horizont. Vielleicht überschreiten wir die Grenze des Jahrhunderts nichts, ohne dass noch zuvor die Sonne der Freiheit aufgegangen ist.“

Bei diesem letzten prophetischen Wort des Pfarrers donnerte auf der Rhede von St. Georges ein Kanonenschuss und weckte ein vielfaches Echo am Strand, als ob eine ganze Batterie in der Nähe losgelassen würde.

„Das ist das Zeichen zur Abreise,“ sagte der Marquis. „Dieser Kanonenschuss ist der Ruf des amerikanischen Schiffes, das mich in das Land bringen soll, wo ich mehr von der Freiheit zu sehen bekommen werde, von der ich bei Ihnen gehört. Ich gehe um so leichteren Herzens hinüber, nachdem ich bei Ihnen den Wert der Freiheit schätzen gelernt.“

Mit diesen Worten drückte der Marquis seinem Gastfreund die Hand und eilte dem Schiffe zu. „Wahrhaftig,“ dachte er im Weggehen, „das Wort dieses guten Mannes hat es mir ordentlich angetan.“

Am Abend desselben Tages brachte der Lotse von St. Georges, der das Schiff ins Meer geführt hatte, dem Pfarrer von dem Marquis einen Empfehlungsbrief an den Minister Malesherbes. Aber was sollte ein armer, unbekannter Geistlicher, noch dazu so weit von Paris entfernt, mit einem solchem Schreiben anfangen? Sollte er den Brief abschicken? Aber würde wohl ein königlicher Minister einem armen Landpfarrer eine Antwort gewähren? Der Pfarrer dankte im Herzen dem Marquis für seinen guten Willen und warf den Brief einstweilen in eine Schublade.

Kapitel 5

Die Kirche der Wüste

St. Georges-Didonne ist ein kleiner Seehafen an der Mündung der Gironde. Das Vorgebirge Balière und die Klippe von Süzac, die im Norden und Süden wie die Spitzen eines Halbmondes ins Meer hinaustreten, bilden eine Bucht, an deren Ende das Dorf liegt. Die niedrigen, ziegelbedeckten Häuschen sind fast alle nach demselben Muster gebaut. Sie sind weiß getüncht, und Rebenspalier bildet ihren einzigen Schmuck. Planlos in den Krümmungen der vom Meeressande gebildeten Düne zerstreut, gleichen sie den Zelten eines Lagers. Scharen von verfolgten Protestanten waren einst ohne Zweifel zu gleicher Zeit hiehergekommen, um in diesem Erdenwinkel Zuflucht vor der Verfolgung zu finden. Der Protestantismus hatte sich ja in Frankreich nur kurze Zeit der Duldung erfreut. Das Edikt von Nantes, im Jahre 1598 von dem protestantenfreundlichen König Heinrich IV. erlassen, gestattete unsern Glaubensgenossen nach den furchtbaren Zeiten der Pariser Bluthochzeit, wobei 60 000 Protestanten umgekommen waren, die stille Ausübung ihres Gottesdienstes im ganzen Reich und stellte sie den Katholiken bürgerlich gleich. Nachdem aber dieser König von einem fanatischen Mönch ermordet worden war, ruhten die Jesuiten nicht, bis der ausschweifende König Ludwig XIV. das Edikt von Nantes widerrief, um durch das Blut der Ketzer, wie er meinte, sein sündenbeflecktes Gewissen wieder rein zu waschen. Dies geschah im Jahre 1685. Sofort brach auch die furchtbarste Verfolgung aus. 1600 Kirchen wurden niedergerissen, Tausende von Protestanten hingerichtet, ihre Kinder wurden in Klöster gesteckt, Hunderttausende wanderten aus nach reformierten Ländern, trotzdem Todesstrafe auf die Auswanderung gesetzt war, andere aber flüchteten sich in entlegene Winkel des Landes, ins Gebirge oder an den öden Meeresstrand, wo ihnen zur Flucht die hohe See offen stand.

Zu den letztern Flüchtlingen gehörten die Bewohner von St. Georges-Didonne zum größten Teil. Zwar lebten die Väter, die sich einst hierher geflüchtet, zu der Zeit nicht mehr, von welcher unsere Geschichte redet, aber obschon nun die Verfolgung und Unterdrückung des evangelischen Glaubens bald ein Jahrhundert angedauert hatte, so lebte doch der Glaube der Väter in den Herzen der Kinder fort; die Dragoner, welche der König hin und wieder in die protestantischen Dörfer zur Bekehrung der Ketzer schickte, hatten sie noch nicht vermocht, ihre Kniee zu beugen vor Baal. Die Erhaltung ihres Glaubens verdankten sie aber größtenteils der treuen Arbeit ihrer Hirten, die der Herr seiner zerstreuten Herde immer wieder gegeben und die mit eigener Lebensgefahr die Schafe in der Wüste weideten.

Seit dem 21. September 1761 versah bei der kleinen Gemeinde von St. Georges-Didonne Jean Jarousseau dieses Amt. Sein Vater Isaak und sein Großvater Samuel waren auch Diener des Evangeliums gewesen und starben im Dienst des Herrn. Als der Vater seine Stunde nahen fühlte, rief er den Sohn an sein Bett, legte ihn die Hände auf und erflehte für ihn die Gabe des heil. Geistes. Damals trat Jean Jarousseau das Amt eines Predigers in der Wüste an. Wir sagen in der Wüste, nicht weil St. Georges-Didonne, der Schauplatz seiner Tätigkeit, gerade eine Wüste genannt werden könnte, sondern weil die Protestanten damals unter freiem Himmel, in der Wildnis, wo die Wölfe hausten, ihre Gottesdienste halten mussten.

Die Predigt des Evangeliums ist jetzt in Frankreich vom Gesetze gestattet, manchmal sogar vom Staat bezahlt, aber im vorigen Jahrhundert, vor der französischen Revolution, hieß predigen dort soviel als den Galgen oder die Galeere verdienen und zwar noch häufiger das erstere, als das letztere.

Jean Jarousseau hatte sich auf Beides gefasst gemacht. An dem Tage, da er zum ersten Mal unter freiem Himmel das Evangelium predigte, machte er vorher sein Testament. Er hatte zwar nicht viel mehr zu vermachen als sein Beispiel und seine Kleider. Ehe er in die Schweiz ging, um in Lausanne Theologie zu studieren, besaß er ein bescheidenes Erbteil, einen Weinberg und ein Häuschen. Nach seiner Abreise ließ aber der Intendant von La Rochelle die Weinstöcke ausreißen und das Haus dem Erdboden gleich machen, weil, wie er behauptete, die Reise des Ketzers an die Grenze ein Staatsverbrechen sei.

„Hiob hätte mein Schicksal noch beneidet,“ sagte Jarousseau, als er die Kunde davon erhielt. Ihm gab die Bibel auf alles eine Antwort, und was ihm auch geschehen mochte, in der Bibel war schon ein Trostwort für ihn bereit.

Jarousseau hatte nun als väterliches Erbteil nur noch zwei Dinge. Das eine war eine silberne Uhr, ein wertvolles Stück, aus der Kindheit der Uhrmacherkunst. Diese Uhr war für ihn seine Familie; sie hatte seinem Vater und Großvater die Stunde gewiesen, und so oft er sie ansah, sagte er sich: Sei deiner Väter würdig!

Er besaß ferner ein kleines Büchlein in Pergament gebunden und mittelst einer Schnur geschlossen. Die Hälfte der Blätter war beschrieben, die andere Hälfte schien auf die Eintragungen eines späteren Geschlechts zu warten. Der Pfarrer nannte dieses Manuskript „das Buch des Lebens“, weil sein Vater und Großvater in demselben die Begebenheiten in ihrer Familie und die Ereignisse der reformierten Kirche aufgeschrieben hatten. Als der matten Hand des Einen die Feder entfiel, nahm sie der Nächste auf, und die Blätter dieser frommen Chronik erzählten von Jahr zu Jahr die schmerzvolle Geschichte der Kirche unter dem Kreuz. Eigentlich war also das „Buch des Lebens“ ein Märtyrerbuch. Das erste Blatt enthielt folgende Aufzeichnung von der Hand des Großvaters:

„Den 28. Juli. Es hatte dem Herrn gefallen, durch Seine wunderbare Güte und Barmherzigkeit, das Panier der evangelischen Wahrheit in Frankreich wieder aufzurichten, um die verirrten Schafe in Seinen Stall zu sammeln. Jetzt aber entzieht der Herr Seine Hand wieder Seiner Kirche. Folgender Befehl des Königs ist an der Kirche von Jarnac angeschlagen worden: „Wir wollen und befehlen, dass unsere Untertanen, die der sogenannten reformierten Religion angehören, sobald sie das siebente Lebensjahr erreicht haben, die katholische, apostolisch-römische Religion annehmen, und dass ihre Eltern sie in keiner Weise daran hindern.“ „Kraft dieses Befehls“, hieß es weiter in der Familienchronik, „kamen die Soldaten gestern in unsere Wohnung. Sie stellten ihre Pferde in unser Esszimmer. Sie hatten ein Kreuz auf ihren Musketen, und als wir es nicht küssen wollten, schlugen sie uns mit der flachen Klinge. Heute früh kamen sie in unser Schlafzimmer, unsere liebe Esther, die jetzt in ihrem sechzehnten Lebensjahr steht, betete gerade. Die Schergen schleppten sie an den Haaren fort und warfen sie auf das Pferd eines Dragoners. Der Dragoner ritt im Galopp davon, er bringt unser Kind ins Kloster. Unsere Herzen sind zum Tod verwundet, o Herr!“

Ähnliche Eintragungen fanden sich noch viele in dem Buch, das Jean Jarousseau von seinen Vätern ererbt hatte; er konnte darin zum voraus studieren, was auch ihm im Dienste des Herrn bevorstehen mochte.

Kapitel 6

Arm und dennoch reich

Jarousseau lebte als Student der Theologie in Lausanne, wie es wohl niemand an seiner Stelle fertig gebracht hätte, aufs Geratewohl, von der Hand in den Mund. Sein Frühstück bestand aus einem Teller voll Schnecken, die er frühmorgens, wenn der Tau fiel, am Ufer des Sees sammelte und auf einer Kohlenpfanne briet. Das Mittagessen war meistens schon im Frühstück enthalten. Nach Beendigung seiner Studien, die nicht allzu lang dauerten in einer Zeit, wo man mehr fürs Martyrium als fürs theologische Streiten erzogen wurde, wanderte er zu Fuß auf einsamen Wegen übers Gebirge nach Saintonge, genoss als Nachtessen meistens nur eine Brotkruste, die er der Freigebigkeit eines Ziegenhirten verdankte, wickelte sich dann in seinen Mantel und schlief unter freiem Himmel. Gabs kein Brot, so sang er einen Psalm, um den Mangel zu decken, und schrieb in sein Tagebuch, das er pünktlich führte: „Heute bestand mein Nachtessen aus einem Psalm.“

So durchwanderte er die Cevennen, ein Gebirge, in dem sich viele Protestanten vor der Verfolgung bargen, und empfing auf dieser Reise von Paul Rabaut, dem berühmten, viel verfolgten Apostel der Wüste, die Handauflegung und den Titel eines Kandidaten. Ein Kandidat war der Gehilfe eines Geistlichen, das Gehilfentum war seine Prüfungszeit, in der es sich zeigen sollte, ob er den Beruf zum Prediger habe. Jarousseau folgte in dieser Eigenschaft dem Pfarrer Gibert auf seinen gefährlichen Reisen. Er machte sein Probestück als Gehilfe bei jenem tragischen Gottesdienst von la Combe à la bataille, im Walde von Balleret, wo mehrere Frauen niedergehauen wurden. Hier starb Gibert in Folge eines Schusses durch die Brust, den er von den Dragonern erhielt, welche diese Versammlung im Walde überfielen.

Jean Jarousseau erhielt das Amt eines Pfarrers über dem noch rauchenden Blut jenes heldenmütigen Märtyrers, und von diesem Augenblick an ritt er Tag und Nacht auf einem geborgten Pferd umher, das neue Testament in der einen Tasche, den Psalter in der andern, und predigte und taufte überall in der Runde. Die Sorge für den andern Morgen blieb ihm fremd. Das Gebot der Schrift befolgte er buchstäblich. Hatte er Hunger, so klopfte er an die Tür eines Getreuen; „der Segen des Herrn sei über deinem Hause!“ sprach er und bat um Gastfreundschaft. Blieb ihm die Tür verschlossen, so schüttelte er den Staub von den Füßen und klopfte anderswo an. Man tadelte ihn einst wegen seiner Verachtung des Irdischen und bot ihm einen kleinen Gehalt an. „Ich will Gott keine einzige Gelegenheit nehmen, mir seine Allmacht zu zeigen,“ antwortete er, „das Manna fällt nur in der Wüste.“

Für den Pfarrer kam das Manna wirklich in die Wüste, in Gestalt einer Waise und deren Mitgift. Letztere bestand in einem kleinen Pachtgut in Chenaumoine, einer Milchkuh und dem Häuschen nebst Grundstück in St. Georges-Didonne, das seine Frau besaß. Das genügte für´s tägliche Brot, wenn man nämlich einzuteilen verstand.

Der Pfarrer besaß das alles nur kraft eines Privatvertrages, denn als Ketzer hatte er ja kein Recht, einen regelrechten Ehevertrag zu schließen. An dem Tag, da das Stückchen Kleeacker mit den drei Apfelbäumen wirklich sein eigen wurde, entschlüpfte ihm ein Freudenruf: „Nun kann ich doch Almosen geben,“ sagte er. Der Besitz schien ihm nur dazu da, um andern davon mitzuteilen, und der Pfarrer machte gleich anfangs von der Möglichkeit, freigebig zu sein, solch ausgedehnten Gebrauch, dass er in kurzer Zeit Gütchen und Kuh verschenkt hätte. Zum Glück war seine Frau praktisch und verstand zu sparen, auch ohne dass die Not es gebieterisch verlangte. Sie führte den Haushalt mit so strenger Hand und so sorgfältiger Berechnung, dass sie niemals eine unbezahlte Schuld vom alten Jahr ins neue hinübernehmen musste.

Wie war aber Jarousseau zu seiner frommen Hausfrau, der sichtbaren Vorsehung seines häuslichen Herdes gekommen? Wie bei ihm alles auf der Welt geschah, durch eine plötzliche Eingebung. Er hatte wohl oft gedacht, ein Pfarrer sollte heiraten, schon des Beispiels wegen. Ich habe keine Familie, sagte er sich selbst, es fehlt mir eine Tugend. Daher bat er den Herrn, ihm eine Gefährtin zu wählen, und wartete, ob ihm etwa eine Rahel über den Weg laufe.

Während des Gebets kam ihm freilich ein Bedenken. Hatte er das Recht, eine Frau an seinen gefahrvollen Beruf zu fesseln und sie der Möglichkeit auszusetzen, vielleicht schon am Tag nach der Hochzeit den Witwenschleier anlegen zu müssen? Und würde er nicht an dem Tag, da sein Blick auf eine Wiege fiele, die Schwachheit des Fleisches empfinden? Würde er als Gatte und Vater noch den Mut haben, für seinen Glauben zu sterben? Ja, und wenn´s nur der Tod wäre; aber würde er angesichts der weinenden Gattin, des lächelnden Kindes noch den Mut haben, um seiner Überzeugung willen in lebenslängliche Gefangenschaft auf die Galeere zu gehen? Dieser Gedanke beunruhigte ihn und verhinderte ihn, nach der Ehe zu streben. Und doch glaubte er, sie sei von Gott geboten und nur in ihr vollende sich das Leben des Christen. Vorderhand war es aber nicht in seiner Macht, die schwere Aufgabe zu lösen, und deshalb überließ er die Lösung seinem Gott.

So verschob er das Ehelichwerden von Jahr zu Jahr; aber wenn er einem Brautpaar die Hände auflegte, um es vor Gott zu vereinigen, so war es ihm doch, als fehle ihm selbst noch etwas. Doch er unterdrückte schnell diesen Gedanken. Meine Stunde ist noch nicht gekommen, sprach er.

Sie sollte doch noch kommen, aber erst fünf Jahre nach seinem Einzug in St. Georges.

Er bewohnte unterdessen ein Häuschen, das nur aus einem einzigen Raum zu ebener Erde bestand. Ein notdürftig mit dem Beil zurechtgehauener Balken stützte das Dach. In Ermangelung eines Parquetbodens hatte man einst den Erdboden festgestampft, der Mergel war aber nach und nach an den Schuhsohlen hinausgetragen worden, so dass der Fußboden des Zimmers eigentlich nur aus einer Reihe von Löchern bestand. Eine Luke, 8 Fuß hoch über der Erde, warf ihr Licht auf ein Tischchen an der gegenüberliegenden Wand. Unter diesem Oberlicht genoss der Pfarrer seine Mahlzeiten und schrieb er seine Predigten. Den Hintergrund füllte ein hohes Kamin aus mit einem nie gebrauchten Kesselhaken, und in den Kaminsims war eine eiserne Röhre eingelassen, welche den Kienspan trug, der abends die Lampe ersetzen musste. Daneben stand das unentbehrliche Salzfass. In der Mauer fand sich noch ein Loch mit einem Stück Eichenholz davor, das wohl früher dem Ochsenbauer als Sparbüchse gedient hatte, der einst die Hütte bewohnte. Der Pfarrer hatte keine Ersparnisse zu verbergen, darum schloss er in dieses Loch sein „Buch des Lebens“ ein. Ein wurmstichiger Küchenschrank vervollständigte das Ameublement des Pfarrhauses; auf dem untern Teil desselben stand ein halbes Dutzend zersprungener Teller, der obere Teil diente als Bücherschaft. Für die bescheidene Bibliothek des Pfarrers reichte derselbe vollständig aus, denn man könne ja, so meinte er ganz richtig, dasselbe Buch unzählige Male lesen und es immer wieder neu finden. Im untern Teil des Schrankes bewahrte Jarousseau außerdem seine wenigen Kleider auf, vor allem das gefährlichste Stück seiner Garderobe, den Predigerrock. Endlich fehlte auch das große Himmelbett mit den einst gelb gewesenen Vorhängen nicht. Dieses, mit noch drei aus Stroh geflochtenen Stühlen machte die gewiss nicht allzu luxuriöse Einrichtung des Apostels von St. Georges-de-Didonne aus.

Kapitel 7

Ein rätselhafter Einbruch

Eine ältere Nachbarin, Namens Madeleine, kam jeden Morgen um die Haushaltung des Pfarrers zu besorgen. Sie brachte ihm zum Frühstück einen Topf voll Milch, zum Mittagessen einen Ziegenkäse oder eine gepfefferte Artischocke, zuweilen auch zur Abwechslung eine Sardine, welche der Pfarrherr dann aus Sparsamkeit roh verzehrte.

Die zerfallene Hütte, die er bewohnte, gehörte einer Waise, Anne Lavokat. Er hatte sie von ihr um 50 Franken per Jahr gemietet, die auf Michaelis zu bezahlen waren. Als der Pfarrer nach Verfluß des ersten Jahres die Miete berichtigen wollte, sagte Anne Lavokat: „Es ist schon bezahlt.“

Der Pfarrer hatte Grund, seinem Gedächtnis zu misstrauen und nahm deshalb, so sonderbar ihm auch die Sache vorkam, sein Geld wieder mit; aber das folgende Jahr war er seiner Sache gewiss, und als daher Anne Lavokat wieder versicherte, er habe schon bezahlt, fragte er sie in strengem Ton: „Warum lügen Sie?“ und legte den Mietzins von zwei Jahren auf den Tisch.

Anne Lavokat bewohnte eines der schönsten Häuser des Dorfes, gerade gegenüber der alten Baracke des Pfarrers. Die Waise mochte damals 23 oder 24 Jahre alt sein. Sie galt für ziemlich schön, wohl mehr wegen ihrem frischen Aussehen als wegen ihrer Gesichtszüge. Ein reicher Bürger von Coze hatte sie heiraten wollen, aber sie schlug gleich seinen ersten Antrag so entschieden ab, dass er keinen zweiten zu machen wagte.

Jeden Mittag um 12 Uhr ging der Pfarrer regelmäßig aus, um seine Kranken zu besuchen, aber nicht ohne den Schlüssel zweimal umgedreht zu haben, aus Furcht, es möchte etwa ein ungebetener Gast sein Taufregister durchstöbern. Nach den Krankenbesuchen pflegte er noch um die Sümpfe von Chenaumoine herumzuspazieren und kam dann, oft erst nach Sonnenuntergang, zuweilen auch etwas vorher, in seine Wohnung zurück, um das Mittagessen einzunehmen, was freilich nicht mehr als eine Viertelstunde in Anspruch nahm.

Eines Abends fand er beim Nachhausekommen ein weißes Tuch über seinen Tisch gebreitet und einen Teller voll Erdbeeren darauf, mit einem Feigenblatt zugedeckt. Ein weißes Tischtuch war ein unbekannter Luxus in seiner Haushaltung, und die Erdbeeren betrachtete er vollends für überflüssig, um so mehr, als ihr Genuss seinen Gesundheitsregeln widersprach. Wie Madeleine dazu kam, ihm so etwas aufzustellen, begriff er nicht; das arme Mädchen muss von Sinnen sein, dachte er. Er nahm die Erdbeeren und brachte sie einem lahmen Mann in der Nachbarschaft.

Als Madeleine am andern Morgen mit der Milch erschien, deutete er auf den Tisch und fragte: „Was soll dieses Tischtuch da?“ Die Magd schaute ihn erstaunt an und dachte nun ihrerseits auch, ihr Herr müsse nicht recht bei Sinnen sein. „Ich weiß nicht, woher es kommt,“ antwortete sie. „Hast du es denn nicht hingelegt?“ – „Nein.“ – „Auch die Erdbeeren nicht?“ – „Ich weiß nichts davon.“ – „So muss ich gestern vergessen haben, die Türe zu schließen, als ich ausging,“ antwortete der Pfarrer, und von diesem Tage an überzeugte er sich jedesmal sorgfältig, dass die Türe geschlossen sei.

Als er aber nach einiger Zeit wieder vom Spaziergang heimkehrte, stand auf seinem Küchenschrank eine holländische Vase, die er noch nie gesehen hatte, und in der Vase ein Strauß von Monatsrosen. Er wurde ärgerlich, riss die Rosen heraus und warf sie ins Kamin. Der Strauß erschien ihm in dieser Zeit der Trübsal wie ein Hohn auf die trostlose Lage der Kirche.

Offenbar hatte ein allzu mildtätige Seele einen Weg gefunden, um unbemerkt in seine Wohnung hineinzuschleichen. Da er den Täter nicht erraten konnte, beschloss er, ihn zu überraschen. Er ging wie gewöhnlich zur bestimmten Stunde aus, kehrte aber gleich durch eine Hintertür zurück und erwartete die Ankunft des geheimnisvollen Gastes, der schon zweimal in sein Haus eingedrungen war.

Es ging auch nicht lange, da wurde von außen ein Schlüssel in´s Loch gesteckt, einmal umgedreht und zum zweiten Mal, und herein trat – niemand anders als Anne Lavokat, die junge Hauseigentümerin, mit einem Rahmkäschen in der Hand. Als sie den Pfarrer vor sich sah, stieß sie einen Schrei aus und ließ ihren Teller fallen. Er hatte kaum Zeit, sie zu erkennen, da war sie schon verschwunden. Sie hatte einen zweiten Schlüssel zu dem vermieteten Häuschen behalten, um gelegentlich einen derartigen Einbruch verüben zu können.

Kapitel 8

Am Traualtar

Kurze Zeit nach dieser seltsamen Überraschung ging der Pfarrer an einem Sonntagabend über die Hofstatt. Da sah er ein junges Mädchen am Fuß einer Eiche sitzen, die offene Bibel auf dem Schoß und das Gesicht über die heilige Schrift gebeugt. Sie saß unbeweglich da und schien ganz vertieft in das Wort des lebendigen Gottes, nur von Zeit zu Zeit erhielt ihr Kopf ein leichten Stoß, als entwinde sich ein Seufzer ihrer Brust.

Als der Pfarrer näher kam, bemerkte er, dass es Anne Lavokat sei. Er fragte sie, was ihr denn fehle. „Ich bin betrübt,“ antwortete sie mit tränenfeuchtem Blick.

„Weshalb denn, mein Kind?“

„Weil ich den Mann, der uns den Heiland verkündigt hat, so verlassen und einsam sehen muss!“

Der Pfarrer lächelte. „Was Sie so traurig stimmt, macht mir im Gegenteil Freude,“ sagte er.

„Schade, dass Sie nicht krank sind,“ antwortete sie mit gedämpfter Stimme, „dann hätte ich doch wenigstens das Recht, Sie zu pflegen.“

Nun wurde sie rot bis über die Ohren, denn sie fürchtete, sie habe etwas Unpassendes gesagt; sie verbarg den Kopf in ihren Händen und fing wieder an zu schluchzen.

Beim Anblick dieses ungekünstelten Schmerzes durchzuckte den Pfarrer zum erstenmal jener elektrische Schlag, oder wie man es heißen mag, jenes Gefühl, das alle Fasern durchdringt und mit einemmal eine ganze Person verwandelt.

„Die Stunde ist gekommen,“ sagte er zu sich selbst und richtete dankbar seinen Blick zum Himmel empor; „der Herr hat durch den Mund dieses Mädchens zu mir geredet.“

„Sage mir, meine Tochter,“ hob er an, „wenn Dich Gott erwählt hätte, die Gehilfin eines Mannes zu sein, der um seines Glaubens willen in der Wildnis umherirren müsste, im Regen und Wind, und keinen Stein besäße, da er sein Haupt hinlegen kann, - was würdest Du tun?“

„Ich würde ihm folgen!“

„Und wenn man Dir ihn eines Tages, nach langer Abwesenheit, auf einer Bahre daherbringen würde, von einer Kugel der Verfolger getroffen, - was würdest Du tun?“

Das Mädchen erbleichte.

„Würdest Du weinen um ihn und um Dich, wie Jakob, als er das blutige Kleid Josephs sah? Überlege Deine Antwort wohl.“

„Ich würde meine Hand auf sein Herz legen, und wenn es noch schlüge, so würde ich sagen: Gott sei Dank! und würde seine Wunde waschen.“

„Und wenn Du eines Tages die Nachricht erhieltest, man habe ihn aufs Schaffot geführt und dort sei ihm inmitten der lärmenden Menge und unter dem Trommelwirbel, der sein letztes Gebet übertönte, die Schlinge um den Hals gelegt worden, in der eben ein Mörder seinen Todeskampf ausgekämpft hat - ?“

Anne Lavokat traten bei diesen Worten die Tränen wieder in die Augen, aber sie fasste sich und sprach: „Dann würde ich auf meine Kniee niederfallen und Gott um dieselbe Gnade bitten, die Er Seinem Diener verliehen hat, der für Ihn gestorben ist.“

„Anne Lavokat, Du hast mir aus dem Herzen gesprochen,“ antwortete der Pfarrer; „ich sehe daran, dass Du mir von Dem zugeschickt bist, der für jedes Seiner Schafe sorgt. Willst Du mir sein, was Rahel dem Jakob war?“

Das Mädchen sah den Pfarrer mit großen Augen an, diesen Mann, der für sie der gebenedeiteste unter allen war. Mit einem Ausdruck von unbeschreiblichem Erstaunen und mit größter Treuherzigkeit antwortete sie: „Was sagen Sie, Herr Pfarrer? Ich bin nicht wert, Ihnen den Mantel umzulegen. Sollten Sie mich aber für würdig erachten, Ihre Dienerin zu sein, so werde ich Ihnen folgen bis zum Grab.“

„Gehe hin, meine Tochter, es bleibt bei dem, was wir geredet haben. Wache und bete darüber vierzehn Tage hindurch; erforsche Dich wohl und prüfe Dein Herz; ich will es auch tun. Am fünfzehnten Tag komme ich zu Dir. Legst Du alsdann Deine Hand in die meinige, so ist die Sache ausgemacht; Du teilst künftig mein Schicksal mit mir.“

Der fünfzehnte Tag kam, und der Pfarrer ging hin, seine Braut zu sehen; sie legte ihre Hand in die seinige.

„Gut so,“ sagte er, „morgen bringst Du Deine beiden Zeugen auf die Düne, die an Dein Grundstück grenzt; ich werde die meinigen auch bringen, und vor ihnen und vor Gott, dem höchsten Zeugen, wollen wir das Wort aussprechen, das den Mann mit dem Weib und das Weib mit dem Mann verbindet für Zeit und Ewigkeit.“

Jarousseau wählte zu Zeugen Elie Gauthier und Jean Fradin; Anne Lavokat brachte Pierre Aurieau und Jacques Ardouin. Der Pfarrer, der in Ermangelung eines andern Geistlichen den Trauakt selbst vollziehen musste, stellte auf einen Stein, der den Altar vorstellte, einen Kelch mit Wein und einen zinnernen Teller mit gebrochenem Brot. Dann schlug er die Bibel auf und, mit der Hand auf dem heiligen Buch, fragte er sie ernst und feierlich:

„Anne Lavokat, willst Du das Weib von Jean Jarousseau werden?“

„Ja!“ antwortete das Mädchen mit Entschlossenheit.

„So gebe auch ich mich Dir hin jetzt und für immer,“ sprach der Bräutigam. Dann reichte er, um den neugeschlossenen Bund zu weihen, seiner Braut das Brot und sprach: „Nimm hin, das ist der Leib unseres Herrn Jesu Christi, der für uns gebrochen ist.“

Sie nahm das Brot, brach es und aß den einen Teil, den andern gab sie ihrem Bräutigam.

Dann reichte er ihr den Kelch und sprach: „Nimm hin, das ist das Blut unsers Herrn Jesu Christi, das für uns vergossen ist.“

Sie trank zuerst und gab den Kelch ihrem Manne zurück. Eine Träne, die der feierliche Moment ihm ausgepresst, fiel in den Kelch, als er ihn zum Munde führte.

Nach dem Genuss des heiligen Abendmahls, das hier die Stelle des Hochzeitmahles vertrat, legte der Pfarrer seine Linke in die Hand seiner Braut, seine Rechte aber hob er zum Himmel empor und sprach:

„Vater im Himmel, ich zeige Dir hier meine Frau, segne sie und segne auch mich, Deinen Knecht. Lege den Segen meines Vaters und seines Märtyrertums auf ihr Haupt und auf unsere Nachkommen! Amen!“

„Amen,“ sprachen die Zeugen und beglückwünschten das neuvermählte Paar.

Fern vom Gewühl der Menschen hatte diese Trauung in der Abenddämmerung eines schönen Sommertages stattgefunden, denn den geächteten Protestanten war ja eine öffentliche Hochzeitsfeier untersagt. Was tat´s aber, dass diese Hochzeit, anstatt in einem festlich geschmückten Tempel, am Meeresstrand gefeiert werden musste? Wenn nur der lebendige Gott gegenwärtig war! Das Brausen des Meeres ersetzte das Orgelspiel, die Düne bildete den Traualtar, die Natur selbst hatte sie zu diesem Zweck mit frischem Grün geschmückt. Wermut und Immortellen hauchten ihren süßen Duft. Die sinkende Sonne warf ihren letzten Strahl auf das im Herrn verbundene Paar, und das Wohlgefallen Gottes ruhte spürbar auf ihrem heiligen Bund.

Kapitel 9

Die Geschichte eines Hutes

Die Ehe von Jean Jarousseau mit Anne Lavokat war eine gesegnete, obgleich die Trauung am Meeresstrande stattgefunden hatte. Sechs Jahre nacheinander schenkte Anne Lavokat jedes Jahr ihrem Mann ein Kind. Der kleine Ertrag ihres Gütchens musste zum Unterhalt der Familie reichen. Frau Jarousseau erzog die Kinder ernst und streng, in der Furcht des Herrn und gewöhnte sie an Einfachheit und Genügsamkeit. Die Mahlzeit der ältern Kinder bestand aus einem weichen Ei, in das sie abwechselnd ihr Stück Brot tunken durften. Im Sommer wurde das Ei durch Kirschen ersetzt. Die Mutter rieb damit jedes Stück Brot, bis es hübsch rot aussah. Diese kluge Einrichtung hatte den Vorteil, dass man einem Kinde zur Strafe trockenes Brot geben konnte, wenn es eine solche verdient hatte.

Der Pfarrer ging selbst mit dem Beispiel einer erbarmungslosen Mäßigkeit voran. Er ging darin so weit, dass er selbst den Naturgesetzen Trotz bot. Seine Nachkommen haben das Schälchen aufbewahrt, aus dem er jeden Morgen seine Milch trank. Dasselbe fasste 1/8 Liter, und doch war die Milch, die es enthielt, sein ganzes Frühstück. Er meinte, wenn man lange leben wolle, so müsse man immer noch ein wenig hungrig vom Tisch gehen. Diese Gesundheitsregel, so zweifelhaft sie auch lautet, hat sich wenigstens bei ihm bewährt.

Im Alter von 20 Jahren glaubte man, er würde an einem Lungenleiden sterben. Damals studierte er in Lausanne Theologie. Der Dekan der dortigen Fakultät hielt es für seine Pflicht, ich weiß nicht welchen berühmten Arzt seinetwegen zu konsultieren. „Warum nicht gar?“ sagte damals der junge Mann. „Kann der Herr mich brauchen, so bleibe ich am Leben, wenn aber nicht, so sind meine Stunden gezählt!“

Der Arzt erklärte den Kranken für entschieden schwindsüchtig und verurteilte ihn zu einem Aufenthalt im Süden, was so viel sagen will, als zu einem frühzeitigen Tod. Jarousseau starb allerdings an einem Lungenleiden, aber erst 90 Jahre alt.

Dieses unbegrenzte Vertrauen auf eine übernatürliche Kraft und die Gewohnheit, von Wundern zu leben, hatten in ihm die großartige, biblische Lehre Calvins von der Gnade Gottes und der göttlichen Vorherbestimmung aller Dinge auf das schönste ausgeprägt. So oft er eine Prüfung durchzumachen hatte, sagte Jarousseau: „Gott ist gut“ und ging entschlossen und ohne Furcht im Vertrauen auf die Güte Gottes hindurch, denn er glaubte mit Recht, dass nach göttlicher Vorherbestimmung denen, die Gott lieben, alles zum Besten dienen müsse, und dass auch die schwerste Prüfung sie nicht aus der Hand ihres himmlischen Vaters reißen könne. In dieser Überzeugung, dass Gottes Vorsehung und Gnade den Weg Seiner Kinder zum Voraus bestimmt habe, dass sie darinnen wandeln sollen, ging Jarousseau gerade aus, ohne je einer bloß menschlich klugen Überlegung zu weichen oder gar der Zaghaftigkeit. Hatte er einmal gesagt: das muss sein, so war diese Überzeugung ein unabänderliches Schicksal für ihn. Was er einmal wollte, das wollte er allezeit, selbst wenn es das Unmögliche zu versuchen galt. Aus den Gefahren machte er sich nichts; wenn es Verfolgung zu erdulden gab, so war er in seinem Element.

Dabei hatte er die wunderbare Gabe, sich aus den Wogen des Alltagslebens in seine Gedankenwelt zu flüchten. Das innere Leben pulsierte so kräftig in ihm, dass er sich der sichtbaren Welt verschließen konnte, so bald er nur wollte. Er stieg in sein Inneres hinab und blieb da verschlossen für die Außenwelt. Er nannte das „in Gott leben und den Vorgeschmack des ewigen Lebens genießen.“ Man erzählt, dass der heil. Bernhard einst einen ganzen Tag am Ufer des Genfersees wandelte und am Abend fragte, wo der See liege, so vertieft war er in seine Betrachtung gewesen. Der Pfarrer Jarousseau hatte im selben Grad wie der heilige Bernhard die Gabe, etwas nicht zu sehen. Er konnte des Morgens ausgehen, um vor dem Frühstück einen Spaziergang zu machen; und während er längs des Strandes ging, wanderte er von einer Idee zur andern, von einer Betrachtung zur andern, bis dass es Abend ward, ohne dass er merkte, wie sein Schatten nun auf die andere Seite fiel, und die Sonne nicht mehr im Osten, sondern im Westen stand.

Er dachte, der Mensch sei ein Sklave und das leibliche Bedürfnis sein Tyrann. Von diesem Grundsatz ausgehend, suchte er stets seine Sklavenkette zu zerbrechen und das Bedürfnis auf seine einfachste Form zurückzuführen. Er trug seinen Rock bis auf den letzten Fetzen und schaffte sich nur im dringendsten Notfall neue Kleider an. Diese grundsätzliche Verachtung des Anzugs war der einzige Fehler des Pfarrers und, gestehen wir es, bei einem gewissen Anlass auch die einzige Wolke in seinem häuslichen Leben.

Er besaß zur Zeit seiner Heirat einen schon ziemlich ausgedienten Hut, der weil er bei Regen und Sonnenschein immer mit zur Predigt ging, nachgerade aussah wie das Laub im Herbst. Nun war aber die Frau Pfarrer stolz auf ihren Mann. Sie trachtete also ernstlich nach einem neuen Hut für ihn, und, da sie einen guten Zweck im Auge hatte, fanden sich auch die Mittel dazu. Sie sparte am Essen, am Brennmaterial und wo es nur irgend ging. Die Ersparnisse nahmen freilich nur langsam zu, aber endlich brachte sie es doch zu einem Louisdor und händigte das Goldstück voller Freuden ihrem Manne ein.

Da gerade Jahrmarkt in dem benachbarten Saujon war, so machte sich der Pfarrer mit der redlichen Absicht auf den Weg, das Geld gewissenhaft zu dem bestimmten Zweck zu verwenden. Aber unterwegs begegnete ihm die Frau des Schmieds Bonnin, eines abtrünnigen Protestanten, der zu den Katholiken, oder wie man im reformierten Lager sagte, zu Belial übergegangen war. Ihr Mann war krank, ihr Kind am Sterben, sie ging seit einer Woche von einem Bett zum andern, ohne auch nur imstande zu sein, den Kranken etwas Suppe zu verschaffen. Die Unglückliche ging weinend ihres Weges, denn ihre Verwandten hatten ihr nichts geben wollen, sondern anstatt ihr zu helfen, hielten sie ihr den Abfall ihres Mannes vom Glauben vor.

„Du kommst gerade recht,“ sagte der Pfarrer zu ihr; „heute bin ich bei Geld!“ Mit diesen Worten ließ er ihr das Goldstück in die Schürzentasche gleiten.

Er kehrte mit fröhlichem Herzen nach Hause zurück, denn soviel hatte er noch nie auf einmal verschenkt. Sein Hut war aber auch mehr als je zusammengedrückt, denn es regnete in Strömen. Seine Frau stieß einen Schrei der Verzweiflung aus, als sie ihn mit dem alten Hut zurückkehren sah.

„Sei nur still,“ sagte Jarousseau, „ich habe getan, was ich nicht lassen konnte. Möchtest du lieber, ich wäre mit einem Gewissensbiss auf dem Kopf zurückgekehrt?“ Und er erzählte ihr von dem Glück – so nannte er es – das ihm unterwegs zugestoßen war.

Die Pfarrfrau gewann nach dieser ersten Enttäuschung bald ihre Fassung wieder. Sie legte abermals Hand ans Werk, und nach einem Jahr hatte sie wiederum, allerdings nur mit Mühe, das Geld zu einem Hut zusammengespart. Der Pfarrer machte sich wieder auf den Weg nach Saujon. Seine Frau brauchte diesmal kein Hindernis zu fürchten. Bonnin war wieder gesund, sie sah im Geiste den Hut schon gekauft.

Aber, o weh, das Schicksal ist unberechenbar! Eben als der Pfarrer den Platz betrat, wo der Jahrmarkt abgehalten wurde, sah er ein Pferd an einem Wagen, das halb tot vor Müdigkeit am Straßenbord niedergesunken war. Sein Herr, ein wandernder Händler aus Limousin, prügelte das arme Tier halb zu Tode, um es zum Aufstehen zu bewegen; aber umsonst – es schien eher, als hätte das Pferd schon den letzten Seufzer ausgehaucht. Ein Tränenstrom, der aus seinem halbgeöffneten Auge floss, war das einzige Lebenszeichen, das es noch von sich gab.

„Warum prügelst du dein Pferd so unbarmherzig,“ fragte der Pfarrer, „siehst du nicht, dass es am Sterben ist?“

„Ich will ihm vollends dazu verhelfen,“ antwortete der Händler und hieb mit doppelter Wut auf das Tier los.

„Willst du mir das Pferd verkaufen?“ fragte der Pfarrer gelassen.

Der Händler sah in von der Seite an: „Sie wollen mich zum Besten haben?“ sagte er. „Nein, es ist mir ernst,“ antwortete Jarousseau. „Wie viel wollen Sie mir geben?“ fragte der Händler. Der Pfarrer bot ihm einen Louisd´or.

Der Händler ging ohne Weiteres auf den Vorschlag ein. Er hatte berechnet, dass er für die Haut des Pferdes kaum halb so viel bekommen würde nach dem laufenden Preis. Er spannte das Pferd aus: „Hier haben Sie es,“ sagte er zum Pfarrer, „führen Sie es heim, wenn Sie können, garantieren kann ich Ihnen nicht dafür.“

Als Frau Jarousseau am folgenden Tag ihren Mann vom Markt von Saujon heimkommen sah, mit dem alten Hut auf dem Kopf, aber dafür ein wahres Gerippe von einem Pferd hinter sich herziehend; als sie daran dachte, was alles sie sich ein Jahr lang an Essen und Schlaf abgedarbt hatte, und dass das alles nun für einen Klepper ausgegeben war, so elend wie eine von Pharaos mageren Kühen, für nichts gut als für den Schindanger, da fing sie an, die Zurechnungsfähigkeit ihres Mannes zu bezweifeln. Das Pferd war freilich auch, als sie es zum ersten Mal sah, so elend und abgetrieben, dass es kaum aufrecht zu stehen vermochte.

Doch mit Hilfe der Zeit und des Kleefeldes wurde die arme einäugige Stute, die halbtot am Wege gelegen war, ein ganz erträgliches Reittier, ja mit der Zeit sogar ein Familienglied, Namens Misere, wie man sie in Erinnerung an ihr einstiges elendes Aussehen nannte. Wir haben bereits gesehen, wie das Pferd zu einer Intelligenz erster Klasse geworden ist. Es hing mit großer Hingebung an seinem Herrn, der ihm das Leben gerettet hatte, als wollte es ihm seine Wohltat vergelten. Es suchte ihn immer zu verstehen, verstand ihn auch wirklich, folgte ihm und bewachte ihn überall. So oft er seiner Schülerin eine neue Idee beibrachte, vergalt sie ihm diese Mühe mit einem neuen Dienst.

Seitdem warf der Pfarrer von Zeit zu Zeit einen Blick auf seinen Hut und sagte lächelnd: „Der Hut ist mir doch hundertfach bezahlt worden.“ Und er trug fortan diese dreifach ausgediente Kopfbedeckung mit einem gewissen Stolz.

Kapitel 10

Der Marschall von Senneterre

Als der Pfarrer Jarousseau sein Amt in St. Georges antrat, begann der Protestantismus etwas aufzuatmen. Die Verfolgung trat nicht mehr so unerbittlich auf, wie früher, und nicht mehr so allgemein. Man hatte zwar noch keinen einzigen Paragraphen der Gesetze gestrichen, welche gegen die Evangelischen erlassen worden waren, aber die mehr oder weniger strenge Handhabung derselben hing von der Gesinnung der Statthalter der einzelnen Provinzen ab.

In der Provinz Saintonge, wo St. Georges lag, waltete damals der Marschall von Senneterre. Er war ein blinder Greis von nahezu 80 Jahren, der jeden Abend seine Partie Piquet spielte und die Karten durchs bloße Gefühl unterscheiden konnte. Er lebte in seinem Schlosse Semüssac als Philosoph, dem die große Welt entleidet ist, hatte er doch in seinen jüngern Jahren nicht weniger als vier Kriege mitgemacht.

Sobald er seiner Zeit von der Ankunft des protestantischen Pfarrers hörte, ließ er ihn aufs Schloss kommen und fragte ihn aus, wobei er mit der Vertraulichkeit eines vornehmen Herrn seinen Untergebenen duzte:

„Wie heißest Du?“ – „Jarousseau.“ – „Wo kommst Du her?“ – „Von Lausanne.“

„Ach,“ sagte der Marschall, „ich höre auf diesem Ohr nicht gut; geh auf die andere Seite, dass ich Dich besser verstehen kann!“

Der Pfarrer ging auf die andere Seite, und wiederholte seine Antwort.

„Ich habe mich geirrt,“ sagte der Marschall, „dieses Ohr ist doch nicht das gute, es muss das andere sein. Doch das ist am Ende einerlei; Du kommst eben irgendwo her. Ich möchte aber auch wissen, warum Du nach St. Georges gekommen bist; hast du Verwandte dort?“

„Nein, gnädiger Herr, Verwandte habe ich nicht.“

„Auch keinen Freund?“

„Das könnte vielleicht eher möglich sein.“

„Warum sagst Du vielleicht?“

„Weil man einen Freund haben kann, ohne es zu wissen.“

„Bist Du hergekommen, um ein Erbe einzutun?“

„Nein, wenigstens nicht, wenn man unter Erbe ein irdisches Gut versteht.“

„Auch nicht um den Acker zu bebauen?“ – „Nein, gnädiger Herr!“ – „Oder um den Weinberg zu bestellen?“

„Ebensowenig.“ – „Was willst Du denn tun?“ –

„Alles beides, Herr Marschall!“ – „Wie meinst Du das?“ – „Nun ich will den Acker des Herrn bebauen und den Weinberg des Herrn bearbeiten,“ antwortete Jarousseau.

„Das soll wohl heißen, dass Du predigen willst? Weißt Du nicht, dass dieses Gewerbe durch die königlichen Edikte verboten ist?“

„Ja; aber es ist geboten von dem Allmächtigen, dem man mehr als den Menschen gehorchen muss.“

„So zeige mir, wo Du Deine Vollmacht hast!“

„Hier ist sie,“ sagte Jarousseau und legte seine Hand aufs Herz. „Unser Herr und Meister spricht: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden; darum gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium aller Kreatur!“

„Wir wollen ernsthaft reden,“ sagte der Marschall. „Man hat mich höhern Orts auf Deine Anwesenheit in St. Georges aufmerksam gemacht. Von Amtswegen muss ich darüber unterrichtet sein; aber ich tue nun einfach, als wärest Du nicht da. Wenn Du so an Deiner Herde hängst, so geh´ und weide sie meinetwegen, wo Du willst und womit es Dir beliebt, nur nicht öffentlich. Skandal dulde ich keinen, hast Du gehört? Bekommt jemand von euch ein Kind, so soll er es vom Priester taufen lassen, und wer heiratet will, lasse sich in der Kirche trauen. Und sollte ich Dich je einmal verhaften müssen, so will ich schon dafür sorgen, dass ich Dich nicht finde, aber Du musst mir auch behilflich sein dabei.“

„Ja, was soll ich denn tun in einem solchen Fall, gnädiger Herr?“

„Du wirst doch nicht von mir verlangen, dass ich Dir auch noch das Mittel angeben soll, wie Du meiner Gerechtigkeit entrinnen kannst! Mach´ Dir einen Schlupfwinkel in Deinem Haus, oder wo Du willst, das ist mir einerlei und geht mich nichts an, wenn Du nur versteckt bist. Doch merke Dir das: jedesmal, wenn ich Leute ausschicke, um Dich zu verhaften, so lasse ich sie trommeln bei ihrem Eintritt in´s Dorf.“

Kapitel 11

Der Gottesdienst in der Wildnis und auf dem Meere

Der Marschall hatte also dem Pfarrer, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch ziemlich verständlich, die Erlaubnis erteilt, das Evangelium zu predigen. Es fragte sich nur noch, wie man sich mit der Taufe und der kirchlichen Trauung zu verhalten habe. Die Schwierigkeit ward folgendermaßen gelöst. Wurde in einer protestantischen Familie ein Kind geboren, so brachte es der Vater zuerst in die Pfarrkirche, wo es vom katholischen Priester getauft und in das Geburtsregister eingeschrieben ward. Von der Kirche aber trug man das Kind in das Haus des evangelischen Pfarrers, der es sogleich noch einmal taufte, und somit trat das kleine Wesen, das kaum sein erstes Geschrei hatte hören lassen, innerhalb einer Stunde vom Katholizismus zum Protestantismus über. So konnte man es aber mit den Trauungen nicht machen; denn wer in der katholischen Kirche getraut sein wollte, musste zur Beichte gehen, deswegen ließen sich die Protestanten lieber in der Wildnis trauen, trotzdem die vom protestantischen Pfarrer geschlossene Ehe vor dem Gesetz ungültig war und die Kinder deshalb für unehelich galten. Starb aber ein Protestant, so begrub ihn die Familie in seinem Garten oder in dem Garten eines Verwandten, denn die geweihte Erde des Kirchhofes war dem Ketzer selbst nach seinem Tod versagt.

Jarousseau konnte ziemlich frei predigen. Er wusste, dass der Marschall von Senneterre dazu schweigen würde, wenn er nur die gehörige Vorsicht beobachtete. Alle Sonntage hielt er Gottesdienst im Freien, wenn es das Wetter erlaubte, und am Schlusse desselben nannte er seiner Gemeinde irgend einen Ort, etwa ein Felsenloch oder eine Waldecke, wo am nächsten Sonntag die Predigt stattfinden sollte.

Die Gläubigen kamen aus einer Entfernung von 6 Stunden in der Runde auf einsamen Fußpfaden zur Versammlung herbei, die Männer mit eisenbeschlagenen Stäben bewaffnet, die Frauen in ihre Kapuzen gehüllt. Bei der Ankunft übergaben sie dem Kirchenältesten ihre Marke, die als Eintrittskarte galt. Dann setzten sie sich still nebeneinander, mit entblößtem Haupt, die Hände auf ihre Stäbe gestützt.

Jetzt begann der Pfarrer, statt auf der Kanzel auf einem Erdhaufen stehend oder an einen Baum gelehnt, den Gottesdienst, indem er ein Kapitel des neuen Testaments las und erklärte.

Während er sprach, war Misere auf einer Anhöhe als Schildwache aufgestellt. Das Pferdchen stand unbeweglich, mit gespitzten Ohren und spähte aufmerksam umher. Sobald es etwas witterte, wenn es nur ein verdächtiges Geräusch hörte oder gar von ferne eine Uniform erblickte, so verließ es seinen Posten und gab das Signal zum Rückzug. Diese Vorsicht war nötig, weil ein Überfall der protestantischen Versammlungen immer zu befürchten war.

Manchmal, wenn gerade Truppen die Gegend unsicher machten, fand Pfarrer Jarousseau es unmöglich, auf dem Land zu predigen. An einem solchen Sonntag verließen früh vor Tagesanbruch drei oder vier mit grobem Tuch bedeckte Boote geheimnisvoll den Hafen von St. Georges.

Sie fuhren mit vollen Segeln auf die offene See hinaus, bis die Küste außer Sicht gekommen war. Dann legten sich die Boote aneinander, die Lucken öffneten sich, und die im Schiffsraum verborgenen Gläubigen kamen aufs Verdeck. Die drei oder vier Schiffsdecke zusammen bildeten nun die Kirche.

Der Pfarrer trat entblößten Hauptes auf das Kompasshäuschen des mittleren Schiffes, stimmte einen Psalm an und hielt dann seine Predigt. Darauf tauchte er seine Hand in einen Eimer voll Seewasser und taufte damit die neugeborenen Kinder, welche durch diese Taufe mit bitterem Wasser schon frühe für ihr prüfungsreiches Leben geweiht wurden.

Das war der Gottesdienst auf hoher See. Das Himmelsgewölbe war das Tempeldach. Den Vorhof bildete die schwankende Barke über dem Wasserschlund; wahrlich ein ergreifendes Bild der Kirche unter dem Kreuz, wie sie ohne bleibende Stätte und ohne Sicherheit lebte in der Verfolgungszeit. Die Gemeinde des Herrn war hier der geräuschvollen Welt entrückt, einzig und allein in die Gegenwart Gottes gestellt.

Mit Einbruch der Nacht kehrten die Boote wieder in den Hafen von St. Georges zurück, jedes für sich, um keinen Argwohn zu erregen.

Allein so gut auch das Geheimnis dieser Gottesdienste auf dem Meere und auf der Düne bewahrt wurde, man erfuhr doch hie und da etwas von den Wanderpredigten des Pfarrers Jarousseau. Es amtierte damals als katholischer Priester von St. Georges ein Franziskanermönch von der strengsten Sorte, Namens Labole. Er war ein kleiner, magerer Mann, mit rundem Kopf, spitziger Nase, grauen Augen und ein paar Beulen auf dem glattrasierten Kopf, als hätte ihm jemand mit dem Hammer darauf geschlagen. Er eiferte für seinen Glauben in guter Treuen und meinte, sein eigenes Heil und das Heil der Welt hänge von der Ausrottung des Protestantismus ab.

So oft er von einer Versammlung in der Wildnis hörte, machte er sich’s zur Gewissenspflicht, seinen Bischof davon zu benachrichtigen. Der Bischof machte Anzeige von dem Staatsverbrechen, worauf allemal vom Ministerium aus ein Befehl zu strengster Untersuchung der Sache in das Schloss nach Semüssac zum Marschall von Senneterre gelangte.

Unter dem Befehl schrieb dann der blinde Marschall scherzhaft: „Ich habe nichts gesehen!“ und mit dieser Bemerkung versehen schickte er das amtliche Schreiben wieder ans Ministerium zurück. Drängte man ihn einmal allzu sehr, so sandte er eine Kompanie Soldaten unter Trommelwirbel nach der Wohnung des Pfarrers ab. Dieser, durch den Trommelschlag gewarnt, begab sich in seinen Schlupfwinkel und blieb darin, bis der Sturm vorüber war. Einmal sogar, als er vor dem Dorfe trommeln hörte, nahm er ruhig seinen Stock und ging den Soldaten entgegen. Gott ist gut, dachte er, Er kann mich beschützen, wenn er es aber nicht tut, so ist das ein Beweis, dass Er seinen Diener nicht mehr braucht. Seine Kühnheit rettete ihn vor der Verhaftung, denn der kommandierende Offizier, welcher ihn kommen sah, konnte nicht glauben, dass er der Gesuchte sei, und ließ ihn vorübergehen.

Von Zeit zu Zeit stellte man den Marschall zur Rede wegen seines Übermaßes von Toleranz. Dann pflegte er zu antworten: „Ich bin 86 Jahre alt; ich glaube an Gott und will nicht mit blutbefleckten Händen vor Ihm erscheinen.“

Eines Tages besuchte der Pfarrer den Marschall, um für einen armen Ochsentreiber, der sein Brot mit Seewasser gesalzen hatte, um Gnade zu bitten. Auf dem Salz lag nämlich eine hohe Steuer, dem Monopol zulieb war es in Frankreich verboten, mit Seewasser zu salzen.

„Jarousseau,“ sagte der gnädige Herr, „ich bin mit Dir zufrieden, Du bist ein zuverlässiger Mann. Seit Du in der Gegend bist, bemerke ich zu meiner Freude, dass des Raubens und Schmuggelns weniger wird. Ich möchte Dir gerne zum Dank dafür einen Gefallen tun.“

„So erlauben Sie mir, eine Scheune zu bauen, gnädiger Herr!“

„Für eine Herde, nicht wahr?“ antwortete lächelnd der Marschall.

„Da Sie es doch erraten haben, so will ich gerade die Wahrheit sagen: ich möchte eine Kirche bauen.“

„Du hättest sie bauen sollen, ohne mich zu fragen; ich darf´s nicht erlauben.“

„Ja, ich möchte eben das Gebäude auf Ihrem Grundstück errichten, Herr Marschall, weil, wenn die Scheune dort steht, sie niemand zerstören darf.“

„Du bist nicht dumm; aber ich kann´s nicht erlauben. Welches Grundstück meinst Du denn?“

„Den Saum des Waldes La Frenière.“

„Der Ort ist gut gewählt, da wird Deine Scheune versteckt sein. Meinetwegen mach, was Du willst!“

Der Pfarrer wollte sich bedanken, aber der Marschall sagte: „Du hast nichts zu danken; ich habe nichts erlaubt, gar nichts, und wenn Du es doch behauptest, so lass ich Dich als falschen Zeugen hängen!“

Kapitel 12

Andere Zeiten

Am Rande des Sumpfes von Chenaumoine in der Nähe von Didonne befand sich ein Wäldchen von Eschen und Weißpappeln. Brombeeren und Klematis kletterten in wildem Durcheinander an den Stämmen hinauf und durch diese Schlingpflanzen beinahe unzugänglich gemacht, diente der Eschenhain allen Zugvögeln zur sichern Zuflucht für ihre Brut. Der Saum dieses Wäldchens war der gutgewählte Ort, wohin der Pfarrer Jarousseau seine Scheune bauen ließ. In einem Gebüsch von hundertjährigem Holunder war sie gut versteckt. Von außen sah das Gebäude einer wirklichen Scheune gleich. An der Stelle der Krippe befand sich aber eine Kanzel, unter der Kanzel der Kommuniontisch, und zu beiden Seiten desselben je eine Bank für die Ältesten. Am 18. Mai 1770 weihte der Pfarrer die Kirche ein. Holunder und Schlehe standen in ihrem schönsten Blütenschmuck. Die zahlreich versammelte Gemeinde pries das Werk der Gnade in einem Gesang, der freilich nur mit gedämpfter Stimme vorgetragen ward, um nicht die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden zu erregen, aber die gefiederten Sänger des Waldes mischten ihre Stimmen mit der geistlichen Melodie.

Alle, die an dieser schönen Feier teilnahmen, konnten nicht anders, als darin eine Bürgschaft erblicken, dass eine Zeit des Friedens für den Protestantismus angebrochen sei. Allein im folgenden Jahre starb der Marschall von Senneterre, dessen Gunst die Erbauung dieser Kirche zu verdanken war, und der Herzog von Uzès folgte ihm in der Verwaltung der Provinz. Dieser Nachfolger hatte die Duldsamkeit nicht von dem Marschall geerbt. Er sah den Protestantismus nicht bloß als eine Irrlehre, sondern als eine Empörung an; seiner Ansicht nach war man einem Protestanten nicht mehr schuldig als einem Rebellen: dass man ihm sein Verbrechen beweise und ihn an den Galgen hänge.

Der Herzog von Uzès befahl die Kirche zu schließen. An die Türe ließ er die strenge Verordnung heften, welche die Abhaltung protestantischer Gottesdienste verbot, widrigenfalls die Versammlung vom Militär überrascht und auf die Flüchtigen geschossen werden sollte.

Als der Pfarrer diese Verordnung an der Scheune angeschlagen fand, ging er traurig davon und seufzte: „O meine arme Herde!“ Er ging ein paar Schritte weiter und sagte leise vor sich hin: „Ach, meine arme Frau!“ Doch kaum war ihm dieser Seufzer entschlüpft, so tadelte er sich wegen seiner Schwachheit. Aber er war nur wenige Schritte weiter gekommen, als er zum dritten Male seufzte: „O meine armen Kinder!“ Bei diesen Worten wurden seine Augen feucht. – „Aber Gott ist dennoch gut,“ sagte er und wischte die Tränen ab.

Kurze Zeit darnach sprach eines Abends der Schmied Bonnin bei ihm vor: „Herr Jarousseau, ich bringe Ihnen das Geld wieder, das Sie mir geliehen haben.“ – „Ich hätte Dir Geld geliehen?“ erwiderte der Pfarrer mit ungläubiger Miene; „ich weiß nichts davon!“ – „Doch, doch, Sie haben meiner Frau ein Goldstück gegeben, das hat uns Glück gebracht. Seither geht´s gut in der Schmiede.“ – „Nun,“ sagte Jarousseau, „da der Louisd´or Glück bringt, so schenke ihn dem ersten Unglücklichen, der seiner bedarf.“

In diesem Augenblick trat eine Frau in die Stube; sie schien zu weinen. „Herr Pfarrer,“ schluchzte sie, „mein Kind ist am Sterben!“ – „Dann muss man den Arzt holen,“ antwortete Jarousseau teilnehmend, „ich will mein Pferd zum Doktor Brochot schicken.“ – „Aber inzwischen könnte das arme Kind sterben, und ich will nicht, dass es ungetauft vor Gott trete,“ erwiderte die Mutter.

Während dieser Unterredung beobachtete Bonnin die Frau. „Diese Tränen sind nicht echt,“ brummte er in seinen Bart. „Wo kommst Du her?“ fragte er sie. – „Von Chaillevette“, war die Antwort. – „Kennst Du den Pfarrer Pougnard nicht?“ – „Doch.“ – „Warum hast Du denn das Kind nicht zu ihm gebracht?“ – „Mein armes Kind war damals viel zu krank.“ – „Bei wem hältst Du dich denn hier in St. Georges auf?“ – „Bei La Virmontois, dem hiesigen Wirt.“

Bonnin brach hier die Unterredung ab, und der allezeit mitleidige Pfarrer versprach der Mutter, in einer Viertelstunde werde er kommen, um ihr Kind zu taufen.

Als die Frau fort war, wollte Jarousseau seinen Hut nehmen; aber Bonnin hielt ihn am Arme fest und sagte: „Gehen Sie nicht!“ – „Warum denn nicht?“ – „Es steckt etwas dahinter,“ antwortete Bonnin, „die Frau kommt mir verdächtig vor.“ – „Du könntest ihr Unrecht tun,“ versetzte der Pfarrer. – „Mag sein,“ sagte der biedere Mann, „aber Sie haben mir das Leben gerettet, Herr Jarousseau, und um das Ihrige zu retten, würde ich meine Hand ins Schmiedefeuer halten. Bedenken Sie doch, diese Frau wohnt in Chaillevette, ganz in der Nähe von Pfarrer Pougnard. Warum bringt sie denn ihr Kind nicht ihm, wenn es wirklich, wie sie sagt, am Sterben ist, und trägt es statt dessen zu Ihnen, auf die Gefahr hin, dass es ihr auf dem weiten Wege stirbt? Mir wenigstens kommt das verdächtig vor.„

„Ich habe ihr versprochen das Kind zu taufen und will mein Wort halten,“ entgegnete der Pfarrer. „Ich könnte es nicht vor Gott verantworten, jemandem die Taufe abzuschlagen.“

„Dann geben Sie mir doch wenigstens noch eine Viertelstunde Zeit. Unterdessen gehe ich ins Wirtshaus und lasse die Frau aus Chaillevette beichten; ich will schon sehen, ob sie die Wahrheit sagt. Jean Bonnin betrügt man nicht so leicht.“

Richtig traf der Schmied die Frau im Wirtshaus an. Sie stillte eben ein Kind, das so lustig war wie ein Fink und so blühend wie eine Rose.

„Wo ist das Kind, das getauft werden soll?“ fragte er.

„Hier“ sagte die Mutter und deutete auf ihren muntern Säugling hin.

„So, und das soll sterben? Es sieht nicht darnach aus!“

„Ja, es geht ihm Gottlob seit einem Weilchen besser.“

Bonnin wollte fortfahren in seinem Verhör, da vernahm er aus dem Nebenzimmer ein Geräusch. Er stieß die angelehnte Tür auf, um zu sehen, was es da gebe. Zwei Männer saßen da in ihre Mäntel gehüllt vor einer Flasche. Bonnin setzte sich ihnen gegenüber und bestellte einen Schoppen.

Die beiden Männer fühlten sich durch seine Anwesenheit sichtlich in ihrer Unterhaltung gestört. Der Schmied machte aber keine Miene, dass er bald gehen wolle. Er trank gemütlich seinen Schoppen, und warf von Zeit zu Zeit einen Blick auf die beiden Mäntel.

Die Geduld ging aber den beiden Männern offenbar eher aus als dem Schmied sein Schoppen, und einer von ihnen redete ihn endlich ärgerlich an: „Ihr braucht recht lang, um Euer Glas zu leeren.“ – „Ich will mir noch eins bestellen, damit ich Eure angenehme Gesellschaft noch länger genießen kann,“ sagte Bonnin.

Der Fremde zog unter seinem Mantel zwei Eisenkettchen hervor, zeigte sie dem Schmied und fragte ihn: „Wisst Ihr, was das ist?“ – „Handschellen,“ antwortete Bonnin, „hoffentlich sind sie nicht für mich bestimmt?“

„Für Euch oder jemand anders, das ist uns einerlei! Einstweilen könnten wir sie für Euch verwenden.“

„Ich sehe wohl, dass ich hier überflüssig bin,“ sagte der Schmied, nahm seine Mütze und verabschiedete sich. Dann eilte er zum Pfarrer: „Herr Jarousseau,“ rief er atemlos, „die Polizei ist im Wirtshaus! Jene Frau hat Ihnen eine Falle gestellt. Nehmen Sie Ihren Stock, wir wollen ein wenig in den Wald gehen.“

Eine Stunde später traten die beiden Polizisten ins Pfarrhaus, den Säbel in der Faust. Sie fanden niemand als eine Frau in Kindsnöten. „Wo ist Dein Mann?“ sagte einer zu ihr. „Sucht ihn,“ antwortete sie, „das ist ja Euere Sache.“ – Der Polizist nahm einen Feuerbrand vom Kamin; „ich will den Dachs aus seinem Loch herausräuchern,“ sagte er und durchsuchte das ganze Haus.

An diesem Abend kam Benigna Jarousseau zur Welt.

Kapitel 13

Eine Überraschung

Seit dem Tode des Marschalls von Senneterre hielt der Pfarrer jedesmal an Pfingsten eine Versammlung in der Wildnis. Er wollte sie diesmal am Trier Têtu halten. Es war dies der bestgewählte Punkt der ganzen Umgegend, wo man am ehesten vor einem feindlichen Überfall sicher war. Im Norden und Süden war dieser höchste Sandhügel der Gegend durch eine Hecke von Stechpalmen und Brombeersträuchern gegen jeden Angriff geschützt, und auf den beiden andern Seiten, wo der Zugang offen stand, wurden etwa eine Viertelmeile weit in regelmäßigen Abständen Wachen aufgestellt. Überdies befanden sich dem felsigen Meeresstrand entlang eine Reihe weit vorgeschobener Posten, und auf einem kleinen Hügel stand Misere, welche die Ohren bald senkend, bald aufrichtend, das schwächste Geräusch vernahm.

Der Pfarrer hatte den Beginn der Predigt auf die Zeit des Sonnenaufgangs angesetzt, was den Vorteil brachte, dass die Leute im Dunkel der Nacht den Weg zur Versammlung unbemerkt zurücklegen konnten. Um 3 Uhr morgens mochten auf dem Trier ungefähr 1000 bis 1500 Gläubige versammelt sein. Männer und Frauen, Greise und Kinder waren aus den umliegenden Dörfern hierher geeilt.

Es war einer jener herrlichen Junimorgen, wie man sie nur in der Nähe des Meeres erleben kann, wo sich mit der salzigen Atmosphäre der Duft des Tannenharzes und der Strohblüten mischt. Im Osten erhob sich ein leichter Nebel von den betauten Wiesen von Chenaumoine, die jungen Bäumchen ragten mit ihrem frischen Blätterschmuck daraus hervor. Im Westen, soweit das Auge reichte, nichts als ein bleifarbenes Meer unter einem grauen Himmel. Der Leuchtturm von Corduran schien wie eine weiße Säule aus dem Abgrund emporzusteigen; sein Licht glänzte im Morgengrauen wie ein erbleichender Stern.

Unter einer alten Eiche wurde eine Kanzel aus grünen Zweigen zurechtgemacht. Die Purpurwölkchen, mit denen sich der Himmel allmälig überzog, wölbten sich darüber wie ein Baldachin. Plötzlich brach aus der roten Glut im Osten ein Funke hervor, der nach und nach zu einem feurigen Bogen ward. Sein erster Strahl fiel auf die Stämme der Tannen, dass sie glänzten wie kupferne Säulen. Das Meer, das noch eben glanzlos dagelegen hatte, leuchtete nun im tiefsten Blau. Ein Schiff, das die Nacht über im Hafen von St. Georges vor Anker gelegen hatte, verließ das Gestade und trug, vom frischen Morgenwind getrieben, den ersten Sonnenstrahl auf seinen weißen Segeln in die hohe See hinaus.

Als der feurige Ball über den Horizont gerollt war, bestieg der Pfarrer seine improvisierte Kanzel. Einen Augenblick verharrte er, das Haupt in die Hände gestützt, in stillem Gebet. Dann erhob er sich, das Angesicht von der aufgehenden Sonne verklärt. Während der Morgenwind mit seinen Haaren spielte, las er seinen Text; er stand im 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes: „Die Liebe ist langmütig und freundlich; sie verträgt alles, sie hoffet alles, sie duldet alles.“

„Meine Brüder“, hob er an, „mehr als je wollen wir dieses apostolische Wort beherzigen. Wir hatten einen Tempel, in dem wir auch bei Regen und Schnee den Herrn anbeten konnten. Man hat ihn uns genommen, und heute müssen wir uns wie Diebe im Dickicht des Waldes verbergen, um die heiligste Handlung des christlichen Lebens zu vollziehen. Wir wollen uns aber nicht darüber beklagen und noch viel weniger uns erzürnen. Wenn je ein zorniger Gedanke in Euere Herzen kommt, so reißt ihn heraus und werft ihn weg, wie wenn Euch eine Viper gebissen hätte. Die Liebe ist langmütig, sie vergibt alles.

Man hat uns unsere Tempel genommen von Holz und Stein, aber unsern Gott hat man uns nicht nehmen können, da Er nicht in die vier Mauern einer Kirche eingeschlossen ist. Gott ist überall gegenwärtig, man kann Ihn allenthalben anbeten, wenn es nur im Geist und in der Wahrheit geschieht. Ja, wo kann man es besser tun, als hier, inmitten Seiner Schöpferwerke, denen er Sein Bild aufgedrückt hat, und unter dem Himmel, der leuchtet wie kein Tempeldach, und wäre es auch von Zedernholz gebaut und mit Edelsteinen übersät?

Hier beschränkt wenigstens keine Mauer unsern Blick; unser Auge versenkt sich in den Anblick der Unendlichkeit, während das Geistesauge noch viel weiter als das leibliche Auge sieht. Meine Brüder, als Ihr hierher kamt, habt Ihr diese Versammlung überblickt und habt gesagt, es mögen unserer 12-1500 sein. Aber ich sage Euch, Ihr habt Euch geirrt; derer, die mit uns vereinigt sind, sind mehr, als Ihr denkt. Die gesamte Kirche Christi, eine unzählbare Schar, versammelt sich mit uns an diesem Tage vor dem Gnadenthron. Wir feiern heute, als am Pfingstfeste, den Geburtstag der christlichen Kirche; lasst uns darum in dieser Morgenstunde unsere Glaubensgenossen im Geiste grüßen und anheben bei den Schwergeprüftesten unter ihnen, bei denen, die um ihres Glaubens willen verbannt und gefangen sind.“

Bei diesen Worten wandte der Pfarrer sein Angesicht nach Westen und streckte seine Hand aus nach dem Ozean. Dann sprach er tiefbewegt:

„Euch grüße ich zuerst, meine Brüder, die ihr um des Gewissens willen Haus und Hof, Äcker und Weinberge und das Grab euerer Väter verlassen habt und die ihr über das Meer gefahren seid, um in einem andern Weltteil, fern von euerm geliebten Vaterland, in Amerika eine Heimat zu suchen, wo das Evangelium frei verkündigt werden darf. Ihr weinet, wenn ihr an euer Vaterland gedenkt, aber die Liebe verträgt alles, sie glaubt alles, sie hoffet alles, sie duldet alles, und euere Hoffnung wird gewiss eines Tages erfüllt!

Sodann grüße ich euch im Geiste, ihr Geliebten auf der Galeere, unsere Mitgenossen an der Trübsal und am Reich! Ihr seid mit dem Auswurf der Gesellschaft an den Ruderbänken angeschmiedet, und doch habt ihr kein anderes Verbrechen begangen, als dass ihr an den wahrhaftigen Gott glaubet. Aber wenn auch in den schweren Stunden, wo ihr auf dem Meer der glühenden Mittagssonne ausgesetzt seid, manchmal euer Fleisch sich gegen euer trauriges Schicksal empören will und ihr euch versucht fühlt, euern Unterdrückern zu fluchen, so tut es dennoch nicht! Erstickt die Rachsucht in euch! Der Fluch verbrennt die Lippen des Christen, darum segnet und fluchet nicht! Denn die Liebe ist langmütig und freundlich, sie bittet für die Feinde: Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!

Meine Brüder,“ wendete sich der Pfarrer an die Gemeinde, „wir haben kürzlich einen neuen König bekommen: Ludwig XVI. ist noch jung, wir hofften das Beste von ihm. Aber da er bei seiner Salbung die Hand gegen uns erhoben und den vorschriftsmäßigen Eid abgelegt, dass er die Ketzer, die von der Kirche verbannt sind, ausrotten wolle, und man uns nun in seinem Namen verfolgt, so haben manche von Euch die Hoffnung verloren, dass je eine bessere Zeit für das Evangelium in Frankreich anbrechen wird; aber ich bitte Euch, meine Brüder, werft Euer Vertrauen nicht weg, bewahret in Euern Herzen die Liebe, die alles glaubt und alles hofft!

Damit der Tag der Gerechtigkeit bald anbreche, wollen wir unsern König segnen, ihn lieben, für ihn beten, nicht nur mit den Lippen, sondern von Herzensgrund. Wir wollen auch für die Seinen beten, für die Diener seines Willens, dass die Gnade von oben auf sie herabkomme.“

Bei dieser Stelle wurde die Predigt plötzlich unterbrochen durch einen Schrei, der vom Ende der Versammlung kam. Die Frauen flohen, die Männer griffen zu ihren Stäben. Aus dem Wäldchen im Rücken der Versammlung tauchten die Federbüsche einer Kompanie Soldaten auf. Sie hatten eine Teil der Nacht im Hinterhalt gelegen, und nun mitten im Gottesdienst die Versammlung überrascht. Ein Offizier mit gezogenem Degen marschierte an der Spitze, während zwei andere Abteilungen im Laufschritt an den beiden Seiten des Hügels hinzogen.

Die Gemeinde war umzingelt.

„Auf die Knie!“ rief der Pfarrer der Versammlung zu. Alle Köpfe verschwanden in dem Farrenkraut; der Pfarrer allein blieb unbeweglich auf seinem Posten.

Die Kompanie machte Halt und stellte sich auf, Gewehr bei Fuß.

„Anlegen!“ kommandierte der Offizier.

Der Pfarrer kreuzte die Arme über der Brust.

„Feuer!“ schrie der Offizier.

Die Schüsse krachten und weckten ein tausendfältiges Echo in dem Wald. Eine Wolke hüllte den Trier Têtu ein. Misere, die auf ihrem Posten überrascht worden war, stieß ein schmerzliches Gewieher aus. Die Kugeln pfiffen durch die Luft, aber nur eine traf und riss dem Pfarrer den Hut vom Kopf.

Gleichmütig hob er die ruhmbedeckte Ruine auf, schwenkte den durchlöcherten Hut in der Luft und rief: „Es lebe der König!“

Kaum hatte er diesen Ausruf getan, da fühlte er auch einen heftigen Schmerz am Kopf. Er griff nach der Stirn und zog seine Hand blutbedeckt zurück.

„Der Ungeschickte,“ sagte er, „hat mich beinahe verwundet.“ Dann ließ er den Kopf auf die Schultern sinken und sagte noch: „Aber Gott ist doch gut; diese Kugel hätte mich töten können.“ Bei diesen Worten fiel er ohnmächtig hin. Die Verwundung war schwer und konnte tödlich sein.

Frau Jarousseau war auch beim Gottesdienst gewesen. Als sie ihren Gatten niedersinken sah, kniete sie neben ihn und legte seinen Kopf in ihren Schoß. Sie küsste ihn, trocknete das Blut mit ihrem Taschentuch und verband die Wunde mit einem Stück Zeug, das sie von ihrem Kleide riss.

Zwei Älteste machten aus den Zweigen, aus denen die Kanzel bestand, eine Bahre und legten den Pfarrer darauf, um ihn nach St. Georges zu tragen. Der Zug ging langsam zwischen zwei Reihen Soldaten hindurch. Anne Lavokat hielt die Hand ihres Mannes. Hinter ihr her ging mit gesenktem Kopf die treue Misere und schnupperte an dem Gras, auf welches von Zeit zu Zeit ein Tropfen Blut aus der Wunde fiel.

Kapitel 14

Die „Gottesgnade“

Als der Pfarrer aus seiner Betäubung erwachte, befand er sich in seinem Bett mit verbundenem Kopf. Der Hauptmann der Grenadiere, welche dem Gottesdienst in der Wildnis ein so jähes Ende bereitet hatten, saß neben seinem Lager und beobachtete ihn ruhig, den Kopf auf den Degenknauf gestützt.

„Herr Pfarrer“, sagte er, „ich habe den Befehl, Sie mitzunehmen; da ich Sie aber für einen ehrlichen Mann halte, bin ich gerne bereit, Sie auf Ehrenwort hier zu lassen, wenn Sie mir nur versprechen, dass Sie keinen Gottesdienst mehr halten wollen.“

„Es tut mir sehr leid, Herr Hauptmann, dass ich Ihnen gleich bei unserer ersten Begegnung etwas abschlagen muss, aber ich kann Ihnen das verlangte Versprechen nicht geben.“

„Dann, Herr Pfarrer, tut es mir auch leid, dass ich meine Pflicht tun muss; aber ein französischer Soldat kennt nur seine Instruktion. Wenn mein Oberst mir befiehlt: Bring mir den Mann dort auf der Straße! so muss ich ihm den Mann lebendig oder tot bringen, auch wenn es mein eigener Vater wäre.“

„Dann werden Sie aber auch mich begreifen“, entgegnete Jarousseau, „denn auch ich habe meine Instruktion, die ich befolgen muss. Mein Gewissen befiehlt mir, das Evangelium zu predigen, so lange ich noch ein Haar auf dem Haupt habe und eine Seele vorhanden ist, die der Erbauung bedarf.“

„Ihr Gewissen?“ antwortete der Hauptmann, sichtlich erstaunt; „diesen Oberst kenne ich nicht! Da aber, wie es scheint, das Gewissen in Ihrem Regiment die größte Epaulette trägt, so befolgen Sie seinen Befehl; jeder hat seinen Beruf. Der meinige zwingt mich, Ihnen eine Schildwache vor die Türe zu stellen, mit dem Befehl, beim ersten Fluchtversuch zu schießen.“

Bei diesen Worten erhob sich der Hauptmann. Ehe er das Zimmer verließ, wandte er sich noch einmal zum Pfarrer und sagte wohlwollend: „Sie zürnen mir doch nicht? Ich muss Ihnen gestehen, Ihre Haltung nötigt mir Bewunderung ab. Sie sind ein tapferer Mann und benehmen sich im Feuer wie ein alter Soldat. Nur schade, dass Sie keiner sind. Sie würden dem Handwerk Ehre machen.“

Er drückte dem Kranken die Hand. – „Seien Sie aber doch auf der Hut,“ fügte er hinzu; „ich lasse den besten Schützen meiner Kompanie hier, der Sie als Gefangenen in Ihrem Hause bewachen muss. Setzen Sie sich also nicht der Gefahr aus, dass er von seiner Waffe gegen Sie Gebrauch machen muss. Kann ich Ihnen aber sonst einmal irgend einen Dienst erweisen, so können Sie auf mich zählen wie auf einen Freund.“ – Mit diesen Worten entfernte er sich.

„Herr, vergib ihnen!“ seufzte der Pfarrer, als er ihn gehen sah. „Seit die Welt steht, haben diese Leute nie gewusst, was sie tun. Sie töten einen Menschen, um seines Glaubens willen mit derselben Seelenruhe, mit der sie ihm ein Kompliment machen.“

Der Pfarrer musste längere Zeit das Bett hüten und wurde dabei von dem Soldaten aufs sorgfältigste bewacht. Frau Jarousseau besaß eine ganze Apotheke von Geheimmitteln, die sich von einer Generation auf die andere vererbten und immer verbessert wurden. Für jede Krankheit hatte sie ein Kräutlein oder einen Trank. Sie wendete bei ihrem Gatten eine so unfehlbare Salbe an, dass er in einem Monat von der Wunde und in einem weiteren Monat von den Folgen des Heilmittels genas.

Er befand sich auf dem Wege der Besserung, als eines Tages der Müller Jakob Chardemite ihn besuchte, welcher Präsident der Vorsteherschaft der evangelischen Gemeinde zu St. Georges war.

„Israel ist verlassen!“ hob er traurig an. Unter „Israel“ verstand er in seiner biblischen Ausdrucksweise die evangelische Gemeinde. „Und die Gemeinde ist des Wortes des Herrn beraubt, da der Mund seines Dieners verschlossen ist. Isaak Guimberteau wollte sich schon vor der Heuernte mit Susanna Chabot trauen lassen; das Heu ist längst eingebracht, aber Isaak hat seine Braut noch nicht heimführen können, denn es ist kein Mann Gottes da, der die Ehe einsegnen kann. Die Frau des Stephan Bernard brachte letzte Woche einen Knaben zur Welt. Natürlich hat man das Kind in die katholische Kirche zur Taufe bringen müssen und nun trägt es schon seit acht Tagen das Zeichen Belials an der Stirn. Geht das noch eine Weile so fort, so haben wir dem Herrn die Treue gebrochen. Sein heiliger Name wird auf unsern Lippen vertrocknen und wir leben am Ende wie die Heiden dahin.“

„Du hast recht!“ entgegnete der Pfarrer tiefbewegt; „aber Du siehst, ich bin noch immer gefangen und scharf bewacht. Ich kann keinen Schritt tun, ohne dass dieser Mann, der immer vor meiner Haustüre aufgepflanzt ist, sein Gewehr erhebt. Nun soll man ja freilich dem Märtyrertod mutig ins Auge schauen, aber man darf auch den Herrn nicht unnötigerweise versuchen. Mein Werk ist noch nicht vollendet, wie ich aus einer Eingebung schließe, die mir während meiner Krankheit zu teil geworden ist. Was mir eröffnet worden ist, kann ich jetzt noch nicht sagen. Aber geh´ einstweilen nach der Insel Avert zu Pfarrer Pougnard und ersuche ihn um Vertretung für mich.“

„Der Pfarrer Pougnard dient Gott gegenwärtig hinter Schloss und Riegel im Gefängnis zu Marennes. Das Militär hat überall in der Provinz den Stamm Levi verjagt.“

Jarousseau stieß bei dieser neuen Trauerbotschaft, die ihm der Älteste brachte, einen Seufzer aus. „Doch Gott ist gut,“ sagte er gefasst, „Sein Wille geschehe, Sein Name sei gelobt!“

Dann heftete er seinen prophetischen Blick auf Jakob Chardemite und sagte feierlich zu ihm: „Mein Sohn, lege Deine Hand aufs Herz und frage Dich vor Gott, ob Du Dich stark genug fühlst, die Bürde des heiligen Predigtamtes zu tragen.“

Jakob Chardemite besann sich einen Augenblick. „Willig wäre ich schon,“ antwortete er, „aber ob ich´s im Stande bin?“

„Darauf kommt´s nicht an,“ antwortete Jarousseau; „der Herr ist mit denen, die von ganzem Herzen Ihm zu dienen willig sind. Geh´ nur getrost an´s Werk; ich lege Dir die Hände auf, Du darfst fortan taufen und trauen, kraft des Evangeliums.“

„So sei es denn,“ antwortete Jakob Chardemite, „und weil doch jemand das Schwert des Herrn führen muss, das gegenwärtig auf der Erde liegt, so will ich gleich morgen einen Gottesdienst auf dem Meere halten, damit die verlorene Zeit wieder eingeholt wird.“

Am andern Morgen verließ mit Tagesanbruch eine Schaluppe den Hafen von St. Georges, welche man die „Gottesgnade“ hieß. Als sie den Leuchtturm von Corduan hinter sich hatte und sich auf hoher See befand, wurden die Segel eingezogen und die Gläubigen stiegen aufs Verdeck, um dem Gottesdienst beizuwohnen. Es waren die Brautleute Isaak Guimberteau und Susanne Chabot mit ihren Eltern und Zeugen, das Ehepaar Bernard mit ihrem Säugling, samt den Paten, zusammen etwa ein Dutzend Personen.

Jakob Chardemite las eine passende Predigt und segnete das Brautpaar ein. Dann tauchte er seine Hand ins Meerwasser und taufte das Kind. Nach Beendigung der Feier richtete das Schiff seinen Lauf wieder dem Hafen von St. Georges zu. Aber der Wind, der bis dahin vom Lande her geweht hatte, sprang abends plötzlich nach Westen um. Gegen Sonnenuntergang wurde es kälter, und ein dichter Nebel verdunkelte die Atmosphäre, so dass man das Feuer des Leuchtturmes nicht mehr sah. Vom Ufer her vernahm man ein leises Murmeln wie das Schnurren einer Spindel. Das war die Meeresbrandung an der Bank von Maumousson, ein Anzeichen rauher Witterung an der ganzen Küste von Saintonge.

Um 7 Uhr abends war die „Gottesgnade“ noch nicht auf der Rhede von St. Georges erschienen. Die Wellen gingen immer höher und der Himmel war bedeckt. Der Lotse Jean Mautret stand Wache auf dem Vorgebirge La Balière, nebst seinem Sohne Joseph, dem kühnsten Matrosen und tüchtigsten Schwimmer weit und breit. Von Zeit zu Zeit öffnete er sein Fernrohr und suchte damit den Horizont ab, dann schloss er es wieder und schüttelte den Kopf mit der gleichgültigen Miene, unter welcher der Seemann seine höchste Unruhe verbirgt.

Endlich glaubte er mit äußerster Anstrengung seiner Augen einen weißen Punkt im Nebel zu erkennen. „Das ist die „Gottesgnade““, rief er erleichtert aus, „sie sucht die Spitze von La Balière zu umschiffen.“ Er beobachtete noch eine Weile aufmerksam und schweigend die Bewegung des Schiffes, dann aber ließ er das Fernrohr mit einem Ausruf der Verzweiflung sinken, wischte das Glas mit seinem Ärmel ab und reichte es seinem Sohn mit den Worten: „Da sieh Du einmal, ich traue meinen Augen nicht!“

Joseph hatte das Instrument kaum nach dem Schiff gerichtet, als er auch dessen Not gewahr wurde. „Das Schiff steuert nicht mehr,“ rief er aus, „die Strömung treibt es nach den Klippen hin!“ Dann knöpfte er seinen roten Kittel zu und sagte entschlossen zum Vater: „Wir wollen gehen!“

„Wohin?“ fragte dieser erstaunt. – „Unser Platz ist da, wo man unserer Hilfe bedarf“, antwortete der wackere Sohn, „wir wollen unser Möglichstes zur Rettung unserer Brüder tun.“

„Du hast recht,“ sagte der Vater und die Beiden gingen schweigend auf die Felsenspitze zu, an welcher sich die Gewalt der Wellen schäumend brach.

Das Schiff saß in einiger Entfernung vom Ufer auf einer Klippe fest, umgeben von brausenden Wasserbergen, die es zu verschlingen drohten.

„Vorwärts,“ sagte Joseph, „jetzt ist´s Zeit“, und er zog Schuhe und Strümpfe und seine rote Flanelljacke aus.

Eine Welle kam von der Spitze von Süsac her, sie schüttelte ihren weißen Kamm im Wind, sprang auf den Fels und stürzte hoch herab auf das Verdeck des Schiffes.

Die beiden Seeleute hörten etwas wie dumpfen Kanonendonner.

„Das Schiff ist verloren!“ sagte der Lotse.

Die Schaluppe war einen Augenblick untergetaucht, aber jetzt erschien sie wieder. Sie schwankte auf ihrem Kiel hin und her, als suche sie das Gleichgewicht wieder zu gewinnen. Die beiden Seeleute konnten sehen, wie die Passagiere verzweifelnd auf dem Verdeck hin und her liefen.

Eine zweite Welle kam von der See her, so feierlich ernst, als ob sie das Todesurteil brächte. Auf ihrem Wege nahm sie zu ihrer Verstärkung noch andere Wellen in sich auf. Als sie auf der Höhe des Schiffes angekommen war, wölbte sie sich über demselben, fiel dann mit ihrer ganzen Gewalt auf dasselbe herunter und zerteilte sich, indem sie nichts übrig ließ als ihren eigenen Schaum.

Jean Mautret sprang ins Meer, in der Hoffnung, wenigstens einen der Schiffbrüchigen zu retten, aber als er eben anfing zu schwimmen, fasste ihn eine Woge und warf ihn an den Strand zurück.

„Alles ist aus!“ seufzte er. „Alles ist aus!“ wiederholte sein Sohn, dessen Rettungsversuche von den Wogen ebenso energisch zurückgewiesen worden waren.

Kapitel 15

Der Entschluss zur Reise

In diesem Augenblick flog ein Reiter daher in hellem Galopp. „Der Pfarrer kommt!“ riefen die beiden Männer aus.

Wirklich, da kam er, an seinem Sattelbogen hing ein Rettungsseil. „Wo ist die Schaluppe versunken?“ rief er den beiden Männer zu.

„Dort,“ antwortete der Lotse und deutete nach der Klippe hinüber. „Aber was wollen Sie tun?“ fügte er bei, indem er den Zügel des Pferdes ergriff. „Meinen Sohn und mich hat eine Welle kopfüber an den Strand geschleudert.“

„Lass den Pfarrer gehen,“ fiel ihm Joseph ins Wort. „Als er vor drei Jahren an der Spitze von Süsac dem Noël Membrard das Leben rettete, war das Meer mindestens ebenso wild.“

„Dann gehen Sie in Gottes Namen!“ sagte der Lotse und ließ den Zügel des Pferdes los.

Misere ging anfangs mutig in die Brandung hinein; als aber der Sand unter ihren Hufen zu weichen begann und die Wellen ihr die Nase peitschten, da fing sie an, mit sichtbarer Angst ihre Ohren zu spitzen und das Wasser zu beriechen.

„Nun,“ sagte der Pfarrer in vorwurfsvollem Tone.

Auf diese Mahnung hin stürzte sich das Pferd mit einem Sprung in die Brandung; das erste gefährliche Hindernis war überwunden; Misere konnte jetzt schwimmen.

Der Lotse und sein Sohn betrachteten vom Ufer aus den Kampf des Reiters mit dem Ozean, den sein treues Tier durch die Wogen trug. Bei der zunehmenden Dunkelheit sahen sie bald nichts mehr von ihm als einen schwarzen Punkt, der im Nebel vor ihnen verschwand. Um dem kühnen Reiter die Rückkehr zu erleichtern, machten sie am Strand von trockenem Gras und Binsen ein Feuer an, in der Hoffnung, die Leiber der Schiffbrüchigen erwärmen zu können, falls überhaupt noch an deren Rettung zu denken sei.

Im Schein der Flamme tauchte plötzlich die Gestalt eines Soldaten auf. „Wo ist mein Gefangener?“ rief dieser ganz atemlos, denn er hatte Misere in schnellem Lauf verfolgt.

„Suchet ihn, wenn Ihr könnt,“ antwortete Joseph mit trauriger Ironie; „ich wollte, Ihr könntet ihn zurückbringen.“

Die Nacht brach herein; das Meer trat immer mehr zurück, da es die Zeit der Ebbe war. Das Brausen der Wellen wurde aus immer größerer Ferne gehört, es tönte wie das Brüllen des Raubtieres, welches seine Beute fortträgt. Der Wind war nach Sonnenuntergang stärker geworden und hatte den Nebel zerstreut. Die Sterne blickten teilnahmsvoll auf die Trauerszene herab. Die Zeit verstrich und der Pfarrer kam nicht zurück.

Joseph seufzte: „Ich hätte ihn nicht fortlassen sollen, und doch war damals, als er den Schiffbrüchigen an der Spitze von Süsac rettete, das Meer ebenso wild.“

Die beiden Seeleute starrten hoffnungslos bald ins Feuer, bald wieder in die dunkle Nacht hinaus und suchten ihre bange Ahnung zu unterdrücken. Da war es ihnen plötzlich, als hörten sie vom Strand einen Hilferuf.

In der Tat, dort stieg der Reiter wie ein Schatten aus dem Meere auf. Sie eilten ihm zu Hülfe. Der Pfarrer saß starr vor Kälte im Sattel mit bleichem Gesicht und geschlossenem Mund. Er bewegte die Lippen, ohne ein Wort herauszubringen. Endlich nahm er seine Kraft zusammen und lispelte: „Dort sind sie!“

Er deutete nach einer Stelle, wo mitten im Meeresschaum menschliche Gestalten auf einem Haufen lagen; dann sank er erschöpft vom Pferde. Als Misere ihren Herrn fallen sah, legte sie sich neben ihn auf den Sand, als wollte sie mit ihm sterben.

Dort, wo der Pfarrer die Männer hingewiesen hatte, lagen einige von den Schiffbrüchigen um den Mast des gestrandeten Schiffes her, den sie krampfhaft umschlungen hielten. Der Pfarrer hatte sie an der Klippe drüben gefunden; es war ihm gelungen, sein Rettungsseil an den Mast zu befestigen und so zog er sie mit Hülfe seines treuen Tieres langsam nach dem Ufer hin. Zum Glück hatte die Ebbe die Distanz zwischen der Klippe und dem Ufer vermindert, und die Brandung schob die Unglücklichen vollends nach dem Lande hin, sonst würde auch der übermenschlichen Anstrengung des Pfarrers die Rettung nicht gelungen sein.

Auch so waren es nur ihrer wenige, die das Land erreichten. Der erste war der Kapitän, der zweite Jakob Chardemite, der dritte ein junger Mann, der eine ohnmächtige junge Frau krampfhaft am Arme hielt; das war Isaak Guimberteau mit seiner Braut. Die Übrigen gab das Meer nicht wieder, die Wellen hatten sie mit samt dem Schiff verschlungen.

Die Männer trugen die Geretteten ans Feuer und wälzten sie in der Asche. Dann richteten sie den Pfarrer und sein Pferd auf und erwärmten ihn ebenfalls. Nach und nach kamen die Gestrandeten wieder zur Besinnung; sie umarmten den Pfarrer und dankten ihm für die Rettung.

Doch Isaak Guimberteau blieb auf den Knieen liegen neben dem Körper seiner Braut. Von Zeit zu Zeit legte er ihr die Hand aufs Herz und rief ihr mit lauter Stimme. Aber das teure Herz wollte nicht mehr schlagen, und ihre Lippen blieben starr. Eine schwache Röte verbreitete sich noch einen Augenblick über ihr Gesicht, aber nur, um ebenso schnell wieder zu verschwinden.

Jean Mautret und sein Sohn nahmen den Leichnam auf die Schultern und schlugen den Weg nach St. Georges ein. Die Übrigen folgten schweigend, und der nächtliche Leichenzug bewegte sich traurig landeinwärts; ließen sie doch in dem nassen Grab, das hinter ihnen verschwand, sechs teuere Tote zurück.

Der Soldat war der erste, der das feierliche Schweigen brach.

„Herr Jarousseau,“ flüsterte er dem Pfarrer zu, „geben Sie mir Ihre Hand. Sie sind ein guter Franzose; aber ich bin nicht zufrieden mit Ihnen, ich sage es offen.“

„Warum denn nicht, mein Freund?“

„Wie! Sie lassen mir in der Küche ein Glas Wein geben und unterdessen schleichen Sie verstohlenerweise davon und setzen damit einen ehrlichen Grenadier der Gefahr aus, dass er ein Unglück anrichtet.“

„Was für ein Unglück?“ fragte der Pfarrer erstaunt, noch ganz in Gedanken an die soeben überstandene Gefahr versunken.

„Bedenken Sie doch,“ antwortete der Soldat, „unsereiner hat seine Instruktion und außerdem den geladenen Karabiner. Hätte ich meine Pflicht erfüllt, so wäre ich jetzt in der größten Verzweiflung. Sie konnten mir doch wohl ein Wort sagen, ehe Sie gingen. Leute, die ein Herz für einander haben, können sich schon verständigen.“

„Sie haben recht“, entgegnete der Pfarrer, „ich werde künftig nicht mehr über die Schwelle gehen, ohne es Ihnen vorher zu sagen, bis es dem Herrn gefällt, die Prüfung wegzunehmen, die so schwer auf mir liegt, und bis er mir die Freiheit wieder schenkt.“

„Dann, Herr Pfarrer, nehmen Sie mir meine Flinte ab, damit ich nicht mehr in Versuchung komme. Sie können von jetzt an nach Belieben aus- und eingehen, nur denken Sie daran, dass ich mit meinem Kopf für Sie haften muss!“

Als der Leichenzug das erste Haus von St. Georges erreicht hatte, legten die Männer die Tote auf eine Bank. Die Leute liefen von allen Seiten mit Fackeln herbei, um zu sehen, wer die Ertrunkene sei. Einige suchten ihre Angehörigen. „Wo hast Du meinen Sohn, wo ist mein Bruder?“ fragten sie Jakob Chardemite, den Ältesten, der mit den Leuten aufs Meer hinausgefahren war. „Warum hast Du das getan, dass Du dem Erwählten des Herrn ins Amt gegriffen und also den Zorn Gottes herabgerufen hast durch Deine Vermessenheit?“

„Schweigt!“ rief der Pfarrer mit kräftiger Stimme, „wer darf so reden, nachdem Gott durch ein solches Ereignis zu uns gesprochen hat? Beugen wir uns lieber unter seine gewaltige Hand und suchen wir zu verstehen, was Er uns zu sagen hat.“

Der Pfarrer fiel auf die Kniee nieder, und die andern folgten seinem Beispiel. Nur der Soldat blieb stehen.

Da sagte einer zu ihm: „Wenn Du ein Christ bist, so kannst Du wohl mit uns beten.“ – „Das will ich gerne tun,“ antwortete er und fiel zum erstenmal in seinem Leben mit „Ketzern“ nieder vor dem Angesicht des Herrn.

Nach dem Gebet erhob sich der Pfarrer und sprach: „Meine Lieben, Gott ist gut; und wenn es ihm gefallen hat, dieses teure Opfer von uns zu fordern, so kann es nur geschehen sein, weil er die Absicht hat, uns dasselbe reichlich zu ersetzen durch Errettung aus unserer Sklaverei. Wir haben lange Zeit in der Wildnis gebetet, und als wir auf dem Lande keinen Raum mehr hatten, flüchteten wir uns auf den Ozean.

Aber nun weist uns auch das Meer zurück. Was anders soll das bedeuten, als dass entweder die letzte Stunde des Evangeliums geschlagen hat, oder dass die Stunde unserer Befreiung gekommen ist? Der erste Gedanke wäre eine Lästerung, also muss der zweite die Wahrheit enthalten. Nun habe ich während meiner Krankheit im Gebet vor dem Herrn darüber Klarheit zu erlangen gesucht und folgender Entschluss ist in mir gereift: Wir haben einen guten König, er weiß sicherlich nicht, dass man uns mit Flintenschüssen verfolgt und den Meereswogen übergibt, wie man einst die ersten Christen den wilden Tieren vorgeworfen hat. Darum will ich zu ihm gehen, will ihm die Geschichte unseres Märtyrertums erzählen, und ich bin gewiss, wenn er den ganzen Sachverhalt hört, so verhilft er uns zu unserm guten Recht. Bittet also für mich, dass ich bald die Freiheit erlange, damit ich die Reise nach Paris unternehmen und beim König Fürsprache für Euch einlegen kann.“

Der Pfarrer gab den Versammelten noch seinen Segen, dann gingen sie still nach Haus. Nur Isaak Guimberteau stand noch wie angewurzelt neben seiner toten Frau. Plötzlich brach er in ein lautes Lachen aus. „Holt Geigen, ihr Leute,“ rief er, „ich habe heute Hochzeit! Ich habe lange genug warten müssen, aber heute hat uns Gott getraut dort draußen, wo man nur den Himmel sieht!“

Der arme Mensch! Er war wahnsinnig geworden vor Schmerz und hat seinen Verstand nicht wieder erlangt. Noch lange pflegte er in der Gegend umherzuirren, das schreckliche Lachen des Wahnsinns auf seinem Gesicht. Wenn er jemand begegnete, so fragte er ihn: „Hast Du meine Frau nicht gesehen? Sie war eben noch bei mir, ich weiß nicht, wo sie hingegangen ist;“ und dabei lachte er.

Als der Pfarrer am andern Morgen die Treppe herunterkam, erwartete ihn der Grenadier. „Herr Jarousseau,“ sagte er, „mein Herz ist ganz voll von dem, was ich gestern Abend gehört und gesehen habe. Ich habe nie gewusst, was eigentlich der Unterschied ist zwischen Ihrer und unserer Religion; denn für einen Soldaten hat das keinen Wert. Unsereiner glaubt eben, was sein Vater glaubt und geht zur Beichte, wo sein Vater hingeht, aber ich sehe jetzt wohl, dass Ihre Art, Gott anzubeten, die bessere ist. Nehmen Sie mich also in Ihre Kirche auf; ich will in Zukunft bei Ihnen beichten.“

Der Pfarrer sagte freundlich lächelnd zu ihm: „Guter Freund, unser Glaube kennt keinen andern Beichtvater als den Herrn Jesum Christum, welcher unser Mittler und Fürsprecher beim Vater ist; einen andern Priester brauchen wir nicht außer ihm, der sich für uns geopfert hat. Aber komm´ zu mir, ich will Dir gerne sagen, was Du bedarfst, um Sein Jünger zu sein.“

Kapitel 16

Eine Reise nach Paris vor 100 Jahren

Das doppelte Unglück, das über die protestantische Gemeinde von St. Georges-de-Didonne hereingebrochen war, hatte in ihrem treuen Hirten, der nicht zögerte, sein Leben für seine Schafe zu lassen, den Entschluss zur Reife gebracht, den König selbst um Erbarmen für seine unterdrückten Untertanen anzuflehen. Stand es bei ihm einmal fest, dass dieser Entschluss ihm von Gott selbst eingegeben sei, so sah Jarousseau auch über alle Hindernisse hinweg, die es für seine Reise an den Hof noch zu beseitigen galt. Vorerst war er ja noch Gefangener in seinem eigenen Haus. So gerne der wackere Grenadier, der nun sein Glaubensgenosse geworden war, ihm sofort die völlige Freiheit geschenkt hätte, als gehorsamer Soldat musste er auf höhern Befehl den Pfarrer ja immer noch bewachen auf Schritt und Tritt. Allein was bedeutete für Jarousseau der „höhere Befehl“, wenn der Höchste ihm einen Auftrag gab, der diesem höhern Befehl schnurstracks entgegenlief? Für seinen unerschütterlichen Glauben an Gottes unumschränkte Macht gab es überhaupt kein Hindernis, das dem Willen Gottes zu widerstehen imstande war. Deshalb bereitete er sich denn auch ganz ruhig und entschlossen auf die geplante Reise vor.

Zuerst schrieb er die Rede nieder, die er bei der bevorstehenden Audienz beim König zu halten gedachte zu Gunsten seiner unterdrückten Glaubensgenossen und malte sich im Geiste schon den Eindruck aus, den es auf den Landesvater machen müsse, wenn er vernehme, zu welch´ traurigem Los eine so große Zahl seiner treuesten Untertanen verurteilt sei.

Die Rede, die der Pfarrer auf sauberes Kanzleipapier niederschrieb, war ähnlich wie eine Predigt in vier Teile eingeteilt. Im ersten Teil bewies er, dass die Verfolgung der Protestanten dem Evangelium zuwider sei. Der zweite Teil zeigte, wie ungerecht die Unduldsamkeit gegen Andersgläubige sei. Mit dieser Behauptung, die heutzutage kein verständiger Mensch mehr anfechten wird, eilte nun freilich der erleuchtete Mann seiner Zeit weit voraus; denn zu den Zeiten des französischen Königtums war die Gewissensfreiheit noch nicht proklamiert, und einem Könige sagen, er habe kein Recht, seinen Untertanen den Glauben vorzuschreiben, das galt damals noch als eine Majestätsbeleidigung. Allein der erfahrene Mann fasste die Sache noch von einer ungleich praktischeren Seite an. Er bewies im dritten Teil seiner Denkschrift, dass die Verfolgung der eigenen Untertanen außerdem unpolitisch sei. Hier brauchte er nur die Geschichte reden zu lassen. Wusste doch jedermann und der König nicht zuletzt, dass Frankreich sich durch die blutige Unterdrückung der Reformation in den zwei verflossenen Jahrhunderten um seine treuesten Bürger und fleißigsten Arbeiter gebracht; denn Hunderttausende waren der Verfolgung entflohen und hatten ihr Geld und ihren Fleiß in protestantische Länder mitgenommen, wo ihre Nachkommen noch heute die tüchtigsten und angesehensten Bürger sind. Der Pfarrer wies überdies im vierten Teil seiner Rede nach, die Verfolgung erreiche ihren Zweck nicht einmal. Er erinnerte den König an das Wort eines französischen Schriftstellers, dass sich nach der Bartholomäusnacht die Zahl der Protestanten in Frankreich vermehrt anstatt vermindert habe; und doch kamen bei jenem Gemetzel ihrer bei 60 000 um. So habe denn also das Blut der Märtyrer die Saat des Evangeliums in Frankreich anstatt erstickt, nur desto fruchtbarer gemacht.

Der Pfarrer traf gewiss mit dieser Beweisführung den Nagel auf den Kopf, aber einstweilen stand eben die Rede nur auf dem Papier, und es fragte sich jetzt, wie sie an den Mann zu bringen sei. Jarousseau hatte seit dem letzten Überfall durch die Soldaten noch immer Hausarrest und richtete deshalb an den Statthalter der Provinz ein Gesuch um Aufhebung des über sein Haus verhängten Belagerungszustandes.

Der Statthalter lächelte über den Einfall und ließ den Brief in den Papierkorb wandern. Das schien ihm zunächst die richtigste Antwort zu sein. Aber bei weiterer Überlegung fiel ihm ein, die beabsichtigte Reise nach Paris dürfte ein gutes Mittel sein, um die Provinz ohne Rumor und Getümmel von einem lästigen evangelischen Pfarrer zu befreien. Er schickte also Herrn Jarousseau einen Pass zu, schrieb aber zugleich an den Polizeipräfekten von Paris und bat ihn, nach einem aufrührerischen Pfarrer, der seiner Haft entlaufen sei, zu fahnden und ihn gleich bei seiner Ankunft in Paris zu verhaften. Um die Auffindung zu erleichtern, fügte er bei, der Mann trage einen runden Quäkerhut und reite auf einem einäugigen Pferd.

Sobald der Pfarrer seinen Pass hatte, schnürte er sein Bündel. Er packte dahinein zuerst seine Bibel, die sein unzertrennlicher Reisebegleiter war, sodann zwei Exemplare seiner Denkschrift, die er zur Fürsorge noch einmal sauber abgeschrieben hatte. Zu diesem geistigen Proviant tat die sorgsame Hausfrau hinein, was für den Leib nötig war: vier Hemden, sechs Taschentücher, sechs Paar Strümpfe, ein Paar Schuhe, ein Dutzend Zwieback, einen Ziegenkäse, ein Säckchen mit gedörrten Zwetschgen und endlich zwei Schächtelchen mit Kräutern, das eine fürs Fieber, das andere fürs Kopfweh.

Eine Reise nach Paris war damals ein Unternehmen, ungefähr so groß wie jetzt eine Reise um die Welt, wenn man nämlich wie Jarousseau aus dem hintersten Winkel des Landes kam. Die Postkutsche von Rochefort brauchte 10 Tage und der Platz kostete 150 Franken. Des Pfarrers Pferd, die treue Misere, war nun wohl ein guter Ersatz für die Post; aber ob man nun zu Wagen oder zu Pferd nach Paris reiste, man hielt es für nötig, sich vollständig mit Lebensmitteln und Arzneien für diese Reise zu versehen, als ob jenseits der eigenen Provinz die zivilisierte Welt aufhörte.

Der Pfarrer wollte schon verreisen, als er merkte, dass er etwas sehr wichtiges vergessen hatte, nämlich das Reisegeld. Als er vor Jahren nach Beendigung seiner Studien von Lausanne nach La Rochelle gereist war, da war er um so schneller vorwärts gekommen, je leichter seine Börse war. Gab´s nichts zu essen, so fastete er, und fand er kein Obdach, so legte er sich unter das Himmelszelt. Nun aber hatte er ein Pferd, und dem konnte er mit gutem Gewissen so etwas nicht zumuten.

Wie sollte er aber die leidige Geldfrage lösen, die ihm nun plötzlich den Weg zu versperren schien? Der jährliche Ertrag des Gütchens reichte, wie wir gesehen haben, kaum für den Unterhalt der Familie hin. Man musste also wohl oder übel zu einem Anleihen seine Zuflucht nehmen, obgleich dies nach den strengen Ansichten jener Gegend etwas Entehrendes war. Entlehnen und verschwenden galt für gleich schlimm in jener Zeit, wo man das Kreditnehmen und geben noch nicht so zu verteidigen verstand.

Der Pfarrer Jarousseau entschloss sich aber mutig zu diesem demütigenden Schritt, hing doch nicht sein eigenes Interesse, sondern das Wohl seiner Gemeinde davon ab. Er ging zu Meister Thomas, dem königlichen Gerichtsschreiber in Saujon und ersuchte ihm um ein Anleihen gegen eine Hypothek auf das Gütchen in Chenaumoine. Meister Thomas war ein schlauer Geselle, der immer lächelte, wenn es ein Geschäftchen zu machen gab, denn er kannte keinen andern Lebenszweck, als seine Akten und damit seine Einnahmen zu vermehren.

„Können Sie warten?“ fragte er den Pfarrer, wusste aber wohl, dass derselbe mit Ungeduld seiner Abreise entgegen sah.

Der Pfarrer schüttelte den Kopf.

„In diesem Falle genügt mir das Versprechen einer Hypothek nicht, ich muss eine Vollmacht haben, dass ich im Notfall das Gut verkaufen kann. Dann kann ich Ihnen die gewünschte Summe sogleich vorstrecken.“

Der Pfarrer fand zwar die Bedingung, dass er sein Gütchen gleich im Voraus verkaufen sollte, hart genug; dennoch sagte er zu dem Notar: „Setzen Sie die Vollmacht auf, ich werde sie unterzeichnen.“

„Nicht Sie,“ antwortete der Gerichtsschreiber; „Ihre Frau muss es unterzeichnen; ihr gehört das Gut und überdies gelten Sie vor dem Gesetz nicht als ihr Mann, denn Sie sind protestantisch getraut.“

Der Pfarrer trug traurigen Herzens die Vollmacht nach St. Georges und legte sie Anne Lavokat zum Unterschreiben vor, auf deren Namen das Dokument ausgefertigt war.

Die Pfarrfrau las das Aktenstück, welches den Verzicht auf ihr Eigentum enthielt, von Anfang bis zu Ende durch, dann warf sie es auf den Tisch und sagte in einem Ton, dem man den Schmerz des Mutterherzens anhörte: „O weh´, es ist das Brot unserer Kinder!“

Eine Mutter ist eben eine Mutter. Wenn es sein muss, kann sie ihr Leben lassen für ihren Glauben; aber das soll man ihr nie abverlangen, was sie als die Nahrung ihrer Kinder ansieht.

Der schmerzliche Ausdruck der mütterlichen Liebe ging denn auch dem Vater nicht wenig zu Herzen und zum ersten Mal in seinem Leben zweifelte er an der Richtigkeit eines Beschlusses, den er für eine göttliche Eingebung gehalten hatte. Er nahm schweigend das Papier vom Tisch und zog sich damit in sein Kämmerlein zurück, um dort allein mit seinem Gott diese neue Schwierigkeit zu besprechen. Was er in jener Stunde durchmachte, angesichts des Opfers, das er bringen sollte, das hat niemand erfahren als Der, welcher ins Verborgene sieht, aber als der Pfarrer wieder ins Zimmer trat, sagte er in der Kraft einer höheren Autorität zu seiner Frau:

„Anne, Du musst das unterschreiben; ich habe noch andere Kinder als unsere leiblichen, die ich nähren muss mit einem viel köstlicheren Brot als dem, welches aus Korn bereitet wird.“

Die wackere Frau fühlte, dass die Forderung ihres Mannes nunmehr eine solche sei, der sie ohne Widerrede zu gehorchen habe und mit der frommen Ergebung einer echten Magd des Herrn leistete sie rechtskräftig Verzicht auf einen Teil ihrer Erbschaft. Als das Opfer gebracht war, wischte sie sich die Augen ab.

Nun konnte der Pfarrer endlich gehen; die Verzichtleistung seiner Frau hatte ihm die apostolische Reise möglich gemacht. Seine Ausrüstung war nun durch einen Beutel mit hundert Pistolen (einem alten Geldstück) vervollständigt.

Am Morgen seiner Abreise versammelte er seine Kinder und gab ihnen feierlich seinen Segen. Anne stand abseits und weinte, mit der Hand vor dem Gesicht, um ihren Schmerz zu verbergen.

„Frau,“ sprach der Pfarrer, „weine nicht, preise vielmehr den Herrn, dass er mich, den Geringsten unter Allen, erwählt hat, sein Gesandter zu sein bei dem Mann, in dessen Hand unsere Freiheit liegt.“

Ein Teil der Gemeinde begleitete ihn bis über die Grenzen des Dorfes hinaus. „Gott stehe Ihnen bei!“ riefen sie ihm beim Abschied zu.

„Gott ist gut,“ antwortete der Pfarrer, „er hat Euer Gebet schon erhört!“ Bei diesen Worten ließ er sein Pferd einen Trab anschlagen und verschwand um die Ecke des Waldes von Belmont.

Kapitel 17

Der Gasthof zur Vorsehung

Nachdem der Pfarrer die Windmühlen von Didonne aus den Augen verloren hatte, ließ er sein Pferd langsam gehen und wählte für die Reise den bedächtigen Schritt, welchen das Sprichwort empfiehlt: Aller lentement pour aller vite. Den Zügel legte er dem Pferd auf den Nacken und überließ es seinem Instinkt. Das war nun freilich ein wenig verhängnisvoll, denn Misere hatte auf ihren Reisen mit ihrem früheren Herrn, dem Hausierer von Limousin, die Gewohnheit angenommen, vor jedem Wirtshaus zu halten. Und doch war das ein Glück für Jarousseau, wie für das Tier. Denn der Pfarrer war so in seine Gedanken vertieft und damit beschäftigt, seine Denkschrift noch einmal Punkt für Punkt durchzugehen, dass er riskiert hätte, das Frühstück zu vergessen, das Mittagsmahl nur im Geist zu genießen und aufs Geratewohl auf der Landstraße zu übernachten. Glücklicherweise aber dachte das Tier auch für ihn daran, wenn es Essenszeit war. Ja, Misere fing bald an, die Sache zu übertreiben. Wir möchten eine so ehrenwerte Stute nicht verleumden, sonst würden wir sagen, Misere sei etwas unbescheiden geworden. Aber was will man sagen? Wenn bei einem Menschen das Fleisch schwach ist – und das war es ja bei ihrem frühern Herrn gewesen – so kann das infolge des Nachahmungstriebes auch bei einem Tier der Fall sein. Misere machte also von ihrer Freiheit, anzuhalten wo sie wollte, den ausgiebigsten Gebrauch. So oft sie einen Wirtsschild über die Straße hängen sah, machte sie Halt, und der Pfarrer aß zu Mittag, so oft sein Pferd die Verantwortung dafür übernahm, ohne zu merken, dass es mehr als einmal des Tages geschah. Dies häufige Essen war übrigens ganz ungefährlich bei ihm, denn er hatte ja den Grundsatz, dass man immer noch hungrig vom Tisch aufstehen müsse.

Dank dieser häufigen Ruhepausen legte Misere kaum mehr als 4-5 Meilen des Tages zurück. Doch wurde die unverwüstliche Heiterkeit des Pfarrers keinen Augenblick durch diesen Missbrauch seines Vertrauens getrübt. Als ein Mann des Sinnens und Nachdenkens liebte er ein langsames Tempo. Auch war sein Herz viel zu voll vom Gedanken an den glorreichen Sieg, den er für die Sache des Evangeliums zu erfechten hoffte, als dass er an etwas Gewöhnliches hätte denken können. Er durchreiste Städte und Landschaften mit der größten Gleichgültigkeit und achtete weder auf die Menschen noch auf die Sehenswürdigkeiten. Die einzigen Menschen, die er bemerkte, waren die Bettler; er machte aber beim Geben so wenig Unterschied zwischen einem Taler und einem Sou, dass er eben so oft das eine Geldstück wie das andere verschenkte, was zur Folge hatte, dass sein Beutel bei der Ankunft in Paris ganz bedeutend erleichtert war.

Endlich nach einer dreiwöchentlichen Wanderung langte der Reiter eines Abends bei der Barrière d´Enfer an, in einer der äußersten Vorstädte von Paris. Die Nähe der Weltstadt machte nun doch, dass er aus seiner Gedankenwelt herunterstieg; Misere wurde ihres Amtes entsetzt, und der Pfarrer nahm die Zügel selbst in die Hand. Das gute Tier hatte freilich schon eine Herberge ausgewählt, ganz am Anfang der Vorstadt Montrouge; aber der Pfarrer drückte ihm ganz gegen seine bisherige Gewohnheit die Ferse in die Flanke und sagte in befehlendem Ton: „Vorwärts!“ Misere senkte die Ohren, um ihr Erstaunen über diese veränderte Behandlung auszudrücken.

Der Pfarrer hatte jedoch gute Gründe, wenn er jetzt der bisher ungeschmälerten Freiheit Miseres gegenüber seinen eigenen Willen durchsetzte. Um Zeit zu ersparen, hatte er beschlossen, im Mittelpunkt der Stadt Quartier zu nehmen, damit er von dort aus die nötigen Besuche in der Runde machen könne. Dieser Plan war sehr klug, aber der Pfarrer hatte leider selten Glück, wenn er nach den Regeln der Vernunft handelte.

Er folgte entschlossen der Rue d´Enfer, ging die Kartäusermauer entlang, hinunter in die Rue de la Harpe, überschritt die Seine und begab sich von da in jene lange dunkle Gasse, die noch jetzt Rue St. Denis heißt. Hier fand er mitten im Hochsommer Schmutz und schloss daraus, diese Straße müsse zentral genug gelegen sein.

Jetzt sah er sich nach einer Herberge um, aber so genau er auch die Häuser zu beiden Seiten musterte, es zeigte sich weder ein „goldener Löwe“ noch ein „weißes Kreuz“, kein „wilder Mann“, kein „Hirsch“ und kein „Bär“.

Mittlerweile brach die Nacht herein. Der Pfarrer war abgestiegen und zog sein Pferd am Zaume nach. Er ging von einer Seite der Straße zur andern und sah an den Häusern hinauf, aber nirgends entdeckte er die dem Wanderer so erwünschte Einladung: „Herberge für Fußgänger und Reiter“. Und woher sollte er auch wissen, dass die Pariser Polizei die über den Weg hinausragenden Schilder der Sicherheit wegen längst verboten hatte?

Bisher hatte er keinen der Vorübergehenden um Auskunft zu fragen gewagt, aus Furcht, für einen Tölpel gehalten zu werden. Nachdem er aber lange genug in den Straßen herumgeirrt war, machte er sich endlich mit der Frage nach einer Herberge an einen jungen Mann, der ihm ehrlich auszusehen schien. Derselbe trug einen Anstandsdegen, dazu Nankinhosen, Manschetten und bunte Strümpfe, kurz, seinem Anzug nach musste er ein vornehmer Herr aus guter Familie sein.

Der junge Mann schien von der Frage des Pfarrers überrascht. Doch machte seine Überraschung sehr bald einem andern Gedanken Platz. Das ist gewiss ein Mann vom Lande, dachte er, und da er mir nun einmal in die Hände gelaufen ist, so will ich dafür sorgen, dass er nicht ungeschoren davon kommt.

„Nur ein paar Schritte von hier entfernt ist ein Gasthof,“ antwortete er; „wenn Sie erlauben, mein Herr, so führe ich Ihr Pferd in den Stall.“ Bei diesen Worten fasste er Misere ganz höflich beim Zaum.

Der Pfarrer wehrte sich natürlich gegen diese Gefälligkeit; er wolle doch die Freundlichkeit des jungen Mannes nicht missbrauchen, meinte er. „Bitte sehr,“ sagte der junge Mann, „ich bin ja der Bruder des Wirts.“

„Dann ist´s was anderes,“ sagte der Pfarrer und überließ dem vermeintlichen Wirtsbruder den Zaum, war derselbe doch augenscheinlich zur rechten Zeit gekommen, um ihm aus der Verlegenheit zu helfen.

Froh, einen Führer gefunden zu haben, folgte er dem jungen Mann. Die Nacht war dunkel, die Straße verödet, die Laternen, aus Gründen der Sparsamkeit in weiten Zwischenräumen verteilt, beleuchteten die Straße nur mangelhaft. Auf einmal, als es um eine Ecke ging, trat der junge Herr auf die linke Seite des Pferdes, als wolle er den Steigbügel festbinden, schwang sich in den Sattel und zog seinen Degen.

Misere erschrak sichtlich ob dieser Unverschämtheit; dann aber stieß sie ein schmerzliches Wiehern aus und sprengte im Galopp auf und davon.

Der Pfarrer war wie vom Blitz getroffen ob diesem Schurkenstreich. Er dachte nicht daran, seinem Pferd nachzulaufen, sondern stand wie festgewurzelt und blickte der feurigen Spur des Diebes nach. Bald war der Hufschlag seines getreuen Reisebegleiters verhallt und mit ihm alles verschwunden, was der Pfarrer mitgenommen hatte; sein Ranzen, seine Denkschrift mit der Rede, die er vor dem König zu halten gedachte, sein Kopfwehtee und sein Fiebertee, ja sogar der Rest seines Reisegeldes war dahin.

Indessen gewann das Bedürfnis, von seinen Mitmenschen immer das Beste zu glauben, bei ihm bald wieder die Oberhand. „Vielleicht,“ dachte er, „hat dieser Herr sich nur einen schlechten Spaß erlaubt und mich zum Besten halten wollen, und er wird mit nächstens mein Pferd wiederbringen.“ In dieser Hoffnung wartete er noch etwa eine Stunde, aber nachdem er lange vergeblich auf jedes leise Geräusch gelauscht hatte und Misere doch nicht wieder kommen wollte, da wurde es ihm endlich zur traurigen Gewissheit, dass das arme Tier in Gefangenschaft geraten sei. „Gott hatte es mir gegeben,“ sagte er mit bitterem Schmerz, „er hat es mir wieder genommen; sein Name sei gelobt!“ Später gestand er beschämt, dass er in jenem Augenblick sein gewohntes Wort: „Gott ist gut,“ nicht auszusprechen im Stande gewesen sei.

Er hatte jedoch die Überzeugung, dass jede anhaltende Traurigkeit eine Versündigung sei gegen den Herrn, der seinen Kindern Prüfungen schickt, damit ihre Seele dadurch gereinigt werde, wie die Luft durch ein Gewitter. Und wie es nach einem Gewitter wieder heiter wird, so gewann die Seele des christlichen Philosophen bald wieder ihre gewohnte Heiterkeit. „Jetzt bin ich Fußreisender,“ sagte er vor sich hin, „und kann überall einkehren; das ist noch das Gute dabei, dass mir mein Pferd gestohlen worden ist.“

Kaum hatte er das gesagt, so fiel ihm an einem erleuchteten Fenster eine Inschrift auf. Er ging darauf zu und las: „Hier kann man übernachten. – Gasthof zur Vorsehung.“

Er klopfte an die Tür dieses unerwarteten Zufluchtortes, das allerdings kein Hotel ersten Ranges war. Der Wirt gab ihm aber, ohne Zweifel auf sein ehrliches Aussehen hin, das beste Zimmer im ganzen Haus, nämlich eine Dachkammer, deren größter Vorzug darin bestand, dass man hier sehr nahe am Himmel war. Sonst stand noch ein Bett darin, ein Stuhl, ein nussbaumener Tisch und ein zerbrochener Krug.

Der müde Wanderer warf sich angekleidet aufs Bett, und die Gedanken an sein Abenteuer wichen bald einem erquickenden Schlaf.

Kapitel 18

Ein Besuch bei Malesherbes

Die Strahlen der aufgehenden Sonne weckten am andern Morgen unsern Freund aus seinem süßen Schlummer und beleuchteten die Ruinen seiner Reiseausstattung, die am Abend vorher mit seinem Pferd verschwunden war. Es war dem Reisenden nichts geblieben als seine Uhr, ein Fünffrankenstück und etwas kleines Geld. Gleich den Vögeln unter dem Himmel war er einzig auf die Vorsehung angewiesen, aber da dies nichts Neues für ihn war, so drückte ihn der Gedanke an die gänzliche Entblößung von allen Mitteln nicht allzu sehr. Seine ebenfalls verlorene Denkschrift hatte er sich auf der langen Reise von St. Georges bis Paris, Punkt für Punkt, so gut eingeprägt, dass er sie nötigenfalls auch frei aus dem Gedächtnis vor dem König vorzutragen im Stande war.

Aber wie sollte nun er, der arme Landpfarrer, zu dem König gelangen, um ihm die Not seiner evangelischen Glaubensgenossen vorzutragen? Man kann wohl sagen: „Ich will zum König gehen und mit ihm reden!“ Aber man trifft ihn nicht, wie den ersten Besten, auf der Straße an und kann da im Vorbeigehen ein paar Worte mit ihm wechseln. Ein König ist ein besonderes Wesen und wird sorgfältig gehütet vor der Berührung mit andern, die man seine Untertanen nennt. Die Majestät lebt einsam hinter einer drei- und vierfachen Mauer von Pförtnern, Höflingen, Lakaien und Wachen. Ein König ist der erste Gefangene in seinem Reich. Zumal am alten französischen Königshof war die Etiquette streng gnug. Man musste Herzog, Graf, Lakai, Minister oder Edelmann sein, wenn man den König sprechen wollte. Jedenfalls musste ein gemeiner Mann von einer dieser hohen Persönlichkeiten empfohlen sein, um eine Audienz zu erhalten. Das hatte nun aber Jarousseau vor seiner Abreise überlegt und deshalb nicht versäumt, den Empfehlungsbrief zu sich zu stecken, den der Marquis von Mauroy, sein ehemaliger Gast, ihm an den Minister von Malesherbes geschrieben hatte, und den er damals als nutzloses Papier bei Seite gelegt. Zum Glück hatte er diesen Brief während der Reise in der Rocktasche aufbewahrt, er war ihm also nicht gestohlen worden. „Gott ist gut,“ sagte der Pfarrer, als er diese Entdeckung machte und setzte sich hin, um dem Minister sein Anliegen schriftlich vorzutragen. Er wusste, dass ihn dieser verstand. Malesherbes war ein Philosoph, der in seiner Weise für dieselbe Glaubensfreiheit kämpfte, welche Jarousseau von dem König zu erlangen hoffte. Seinem eigenen Schreiben legte der Pfarrer den Empfehlungsbrief des Marquis bei, versiegelte das Paket eigenhändig und trug es der größeren Sicherheit wegen selbst zur Post. Dann verbrachte er den Rest des Tages in gespannter Erwartung der Antwort, die er spätestens bis zum andern Morgen erwartete.

Der folgende Tag verstrich, ohne dass eine Antwort kam. Ja, die ganze Woche ging dahin und mit ihr der letzte Rappen von des Pfarrers Reisegeld, Malesherbes aber antwortete noch immer nicht.

Endlich beschloss Jarousseau, selbst nach dem Hotel Louvre zu gehen. Dorthin war nämlich der Brief des Marquis von Mauroy adressiert. Aber Malesherbes wohnte nicht mehr dort, seitdem er aus dem Ministerium ausgetreten war.

Der Pförtner schickte den Pfarrer nach dem Hotel Malesherbes. Der frühere Minister wohnte aber zu jener Zeit nicht mehr in Paris, sondern auf seinem Schloss und kam nur am Donnerstag in die Stadt. Der Pfarrer konnte sich also noch eine weitere Woche in der Geduld üben. Das war bei seiner leeren Börse in der teuern Stadt keine Kleinigkeit. Er sah sich genötigt, ein schweres Opfer zu bringen, er verkaufte seine Taschenuhr, jenes alte Familienstück, sein unzertrennlicher Begleiter seit dem Tode seines Vaters, in Wahrheit ein Stück seiner selbst. Mit dem wenigen Geld, das er dafür erhielt, sah er ruhig dem kommenden Donnerstag entgegen, der ihn, wie er bestimmt hoffte, aus seiner misslichen Lage befreien und für den erlittenen Verlust hundertfach entschädigen würde.

Als der bestimmte Tag erschien, meldete er sich bei Malesherbes Wohnung an und wurde aus besonderer Gunst sofort in das Kabinet des Philosophen geführt. Malesherbes stand am Fenster. Er trug einen braunen Rock mit großen Taschen und goldenen Knöpfen; seine Halskrause war mit Schnupftabak bestreut und die runde Perücke saß schief auf seinem Kopf. Dieser erste Anblick schien dem Pfarrer Gutes zu verheißen. Er fühlte sich, was die Nachlässigkeit in der Kleidung betraf, einigermaßen mit dem Philosophen verwandt.

„Ei der Tausend, Herr Pfarrer, sind Sie´s?“ sagte Malesherbes, als er ihn eintreten sah. „Ich habe Sie überall suchen lassen. Ihr Brief ist mir geworden, aber Sie haben ja vergessen, ihre Adresse anzugeben!“

Wahrhaftig! Der Pfarrer hatte gar nicht daran gedacht, dass man am Schluss eines Briefes unter seinen Namen etwas so Unnötiges schreiben müssen, wie die Worte: „Hotel de la Providence, Rue St. Avoye.“ Zu Hause kannte ihn ja jedermann und man wusste dort weit und breit, wo der Pfarrer Jarousseau zu finden sei; dass es in einer Stadt, die einem Ameisenhaufen gleicht, anders sei, war ihm gar nicht in den Sinn gekommen.

„Tut nichts,“ sagte der Minister wohlwollend, „es freut mich, dass Sie nun endlich hier sind, und ich will Ihnen nur gleich ins Gesicht sagen, auf die Gefahr hin, Ihrer Bescheidenheit zu nahe zu treten: Sie haben mir da einen Brief geschrieben, oder besser gesagt eine Epistel, die der ersten Zeit des Christentums würdig wäre. Ich habe Ihren Wunsch dem Minister Vergennes mitgeteilt und den Brief Ihrer Bitte gemäß Seiner Majestät, dem König unterbreitet. Seine Majestät hat geruht, auf den Rand zu schreiben, was Sie hier sehen.“

Malesherbes reichte den Brief dem Pfarrer, der mit tiefem Respekt die folgenden, von königlicher Hand geschriebenen Worte las: „Diesen Mann kommen lassen und zu mir bringen.“

Die Einladung hätte allerdings etwas höflicher sein können, aber der Pfarrer empfing sie auch so mit freudigem Zittern, als eine Verheißung der nahen Erlösung. „Ich bin bereit, Ihnen zu folgen,“ sagte er zu dem Minister.

„Morgen früh um 6 Uhr wird mein Wagen Sie vor meiner Wohnung erwarten, um Sie mit mir nach Versailles, zum königlichen Schloss zu führen. Sie haben doch einen Frack?“

„Einen Frack?“ wiederholte der Pfarrer und knöpfte seinen härenen Rock auf, der mit Stahlknöpfen besetzt war; „ich habe nur diesen Rock.“

Malesherbes lächelte. „Ich finde Ihren Rock ganz anständig, aber um vor dem König zu erscheinen, verlangt die Etiquette, dass Sie die amtlich vorgeschriebene Uniform des dritten Standes tragen.„

Bei dieser unerwarteten Enthüllung einer neuen Schwierigkeit zitterte der Pfarrer. „Ich habe keine Centime, um mir einen solchen Anzug zu kaufen,“ sagte er beschämt.

„Ist Ihnen ein Unglück zugestoßen?“ fragte Malesherbes. „Ja, leider,“ seufzte Jarousseau, „ich mag es Ihnen gar nicht erzählen; Sie würden mich noch auslachen dazu.“

„Warum nicht gar! Erzählen Sie nur!“

„Nun ja, ich will es Ihnen sagen. Als ich nach Paris kam, suchte ich vergeblich nach einem Wirtshausschild. Endlich stieg ich ab und führte mein Pferd am Zügel. Da bietet ein Vorübergehender sich dienstfertig an, es in einen Stall zu führen. Er nimmt mir mit zuvorkommendster Höflichkeit den Zügel aus der Hand, schwingt sich in den Sattel und sprengt mit samt meiner Reisetasche davon!“

„Und Ihr Geld war drin?“

„Ja, und meine Denkschrift, die ich dem König vorlegen wollte.“

„Der Schaden lässt sich gut machen. Seien Sie nur ruhig!“

„O nein,“ seufzte Jarousseau, „denn mein Pferd ist dahin!“

„Nun, es gibt ja noch mehr Pferde.“

„Aber keine zweite Misere,“ versetzte der Pfarrer traurig.

„Ist das der Name Ihres Pferdes?“ fragte Malesherbes lächelnd.

„Ja mein Herr, aber man darf es nicht nach dem Namen beurteilen. Misere ist die klügste und treueste Person von der Welt.“

„Sie wollen sagen, das beste Tier?“

„Nein, ich meine wirklich Person; wenn Sie das Pferd kennen würden, so gäben Sie mir Recht.“

Malesherbes öffnete den Schreibtisch und legte einen Bogen Papier vor sich hin. „An welchem Tag kamen Sie in Paris an?“ fragte er den Pfarrer.

„Vor 14 Tagen ungefähr.“ – „Also am Donnerstag?“ – „Wahrscheinlich.“ – „Sind Sie nicht sicher?“ – „Nein, schreiben Sie lieber Donnerstag oder Freitag.“ – „Um wie viel Uhr?“ – „Abends um 9 Uhr.“ – „In welcher Straße begegnete Ihnen der Fremde?“ – „Ich kann es wirklich nicht sagen.“ –

„Können Sie mir den Dieb beschreiben?“ – „Es war ein gut gekleideter, junger Mann, mit einem Degen an der Seite, groß und stark gebaut.“ – „Wie alt mochte er sein?“ – „25 bis 30 Jahre alt.“

Malesherbes fuhr fort zu schreiben. – „Wie sieht Ihr Pferd aus?“ fragte er weiter. – „Es ist ein Grauschimmel mit nur einem Auge,“ antwortete Jarousseau bewegt.

Nachdem Malesherbes diese Angaben aufgezeichnet hatte, klingelte er einem Diener und übergab ihm den Brief. „Trage das zu Herrn Lenoir“, sagte er zu ihm,“ und führe dann diesen Herrn hier zu Babin.“

„Und nun leben Sie wohl, Herr Jarousseau, morgen früh um 6 Uhr erwarte ich Sie, da sind Sie doch auf?“

„Um 4 Uhr schon, wenn Sie wünschen!“ antwortete der Pfarrer und verabschiedete sich. Beim Hinausgehen bemerkte er, dass der Minister seinem Diener etwas ins Ohr sagte.

Kapitel 19

Babins Laden

Unter Ludwig dem XV. gab es in Paris einen berühmten Mann, Babin hieß er und „Kleidermacher Seiner Majestät“ nannte er sich. Er bewohnte in der Tempelstraße ein großes, altes Haus, mit dem königlichen Lilienwappen geschmückt. Er besaß eine vollständige Auswahl von Ball- und Staatskleidern. Als er auf dem Gipfel seines Ruhmes angekommen war, starb er und hinterließ das blühende Geschäft seiner Witwe, die früher mit alten Kleidern gehandelt hatte.

Frau Babin verstand das Geschäft, sie lieh Geld auf Pfänder. Wenn eine Hofdame beim Spiel verlor, so kam die ehemalige Trödlerin der Frau Herzogin oder der Frau Gräfin zu Hilfe, die hohen Damen versetzten ihre Ballkleider und erhielten dafür Geld von ihr. Sie duldete keinen Commis, sondern nur Ladentöchter in ihrem Geschäft.

Als der Diener des Herrn Malesherbes den Pfarrer in das Haus der Frau Babin führte, wurde es dem ernsten Mann wind und weh. Im untern Ladenraum, den man zuerst betrat, waren nichts als Maskenanzüge in buntem Durcheinander aus aller Herren Länder ausgestellt. Ungarische, polnische, türkische und spanische Trachten, lächerliche Wülste für die Hüften, altmodische Halskrausen, Wämser, die von Juwelen glänzten, Westen von Robbenfell, Dominos, kurz alles, was man nur an närrischen Aufzügen wünschen kann, hing da an den Wänden herum und verbreitete einen hässlichen Geruch. Dieser ganze Plunder hatte beim letzten Karneval in Paris oder Versailles getanzt und wartete nun hier auf eine neue derartige Gelegenheit.

Aus diesem Narrenzimmer wurde der Pfarrer in einen zweiten, reichlich mit Spiegeln und Gemälden geschmückten Saal geführt. Hier glaubte er sich beinahe an den königlichen Hof versetzt. Da waren braunrote und scharlachrote, auf allen Nähten mit Gold und Silber gestickte Fräcke, mit blauen Ordensschnüren besetzt, St. Ludwigskreuze, Degen von jeder Größe, die Griffe mit Perlmutter oder Silber eingelegt, geblümte Röcke, ganze Berge von Spitzen, gestickte Bänder, Zobelmüffe und Hermelinmäntel – und auf der Vorderseite eines Glasschrankes konnte der Pfarrer lesen: „Kleid der Frau von Pompadour; zu verleihen.“ Diese Inschrift erzählte ihm ohne Worte von der Größe des Elends, das sich oft hinter der größten Noblesse verbirgt.

Kaum hatte er seinen Fuß auf diesen glänzenden Trödelmarkt gesetzt, als eine junge, kokett gekleidete Dame mit dem verbindlichen Lächeln, das zu ihrem Geschäft gehörte, auf ihn zutrat und fragte: „Was wünschen Sie, mein Herr?“

Der Pfarrer sah sie verlegen an. Er wusste wahrhaftig nicht recht, wofür er hierher gekommen sei. Doch Malesherbes Diener half ihm auf die Spur: „Der Herr wünscht eine Uniform des dritten Standes zu einer Audienz bei Seiner Majestät, dem König.“

Die Dame zog eine Messschnur aus ihrer Tasche und legte ihre Hand vertraulich auf die Schulter des Pfarrers, um ihm das Maß zu nehmen.

Er trat einen Schritt zurück. „Was will diese freche Person?“ dachte er bei sich selbst.

„Ich muss Ihnen doch das Maß nehmen,“ sagte die Dame, „damit ich Ihnen einen Anzug nach Ihrer Größe geben kann.“ Dieser triftige Grund leuchtete dem Pfarrer ein und er gab seine Person preis. Die Dame maß gewissenhaft nach allen Richtungen hin und drehte den Mann hin und her, als ob er eine Gliederpuppe wäre. Als sie fertig war, atmete er auf und glaubte, er sei nun frei. Allein, jetzt holte sie erst noch eine gepuderte Perücke aus einem Schrank und setzte sie ihm auf.

„So etwas habe ich noch nie getragen,“ sagte der Pfarrer und versuchte den Kopfputz abzuschütteln.

„Es gehört aber notwendig dazu, um die Uniform des dritten Standes zu vervollständigen,“ erklärte die Dame kurz.

Der Mann des Evangeliums unterzog sich auch noch dieser letzten Forderung der Etiquette. Die Dame trat hinter ihn, um zu sehen, wie sich der Perückenzopf ausnehme. Plötzlich fühlte der Pfarrer am Hinterkopf etwas wie kalten Stahl; es war die Schere der Dame, mit welcher sie ihm hinterlistig die Haare kürzte. „Was machen Sie?“ fragte er.

„Ihre Haare dürfen doch nicht unter der Perücke hervorhängen,“ bemerkte die junge Dame schnippisch. Der Pfarrer aber dachte unwillkürlich an Simson und Delilah.

Doch nun waren seine Leiden zu Ende. Der Diener packte die Uniform in ein feines Tuch zusammen, bezahlte den Mietzins dafür zum voraus und führte Herrn Jarousseau in sein Gasthaus zurück.

Früh am andern Morgen warf sich der Pfarrer in seinen ungewohnten Staat. Hosen, Weste und Frack aus schwarzem Atlasstoff gaben ihm viel zu tun, bis jedes dieser Kleidungsstücke richtig saß. Doch endlich war nur noch ein Fetzen von der Uniform des dritten Standes übrig, mit dem er aber auch gar nichts anzufangen wusste. Es war ein langes, schwarzes Band, das in einer fußbreiten Cravatte endigte; wenigstens sah er es für eine solche an. Nachdem er lange genug versucht hatte, das sonderbare Ding am Halse zu befestigen, rief er endlich die Wirtin um Hilfe an. Diese half ihm aus der Verlegenheit, indem sie den Streifen als eine Art Schleppe am Rücken befestigte. Der Pfarrer fand das eher närrisch, da bei ihm zu Hause nur die Tiere Schwänze trugen; aber er schickte sich in das unvermeidliche und war froh, dass nun endlich die Uniform des dritten Standes glücklich unter Dach gebracht war.

Kapitel 20

Eine Audienz in Versailles

Versailles, eine kleine Stadt unweit von Paris, war durch König Ludwig XIV. von Frankreich zur königlichen Residenz erhoben worden. Dieser König, welcher sein Reich nach dem Grundsatze verwaltete: „Der Staat bin ich“, wollte auch die Natur seinem Despotismus unterwerfen. Versailles war früher nichts als eine Sandfläche; er ließ sich´s Millionen kosten, um Blumenbeete daraus zu machen; es waren keine Bäume da, er ließ die Wälder in der Umgebung ausreißen, um sie hier in Gestalt von Alleen wieder einzupflanzen; es gab kein Wasser, man hat auf seinen Befehl mit ungeheurer Mühe, durch Anlage großer Wasserwerke, das Seinewasser zwei Stunden weit unter der Erde hergeleitet. Das Schloss, das der König hier bauen ließ, war ein Backsteingebäude, dessen Fassade 1800 Fuß in der Länge maß; der Park, den er um dasselbe her anlegen ließ, war so groß, dass er mehrere Dörfer umfasste.

Durch das Tor dieses Parks fuhr der Pfarrer Jarousseau klopfenden Herzens an der Seite des Ministers Malesherbes, als es eben 8 Uhr Morgens schlug. Der Wagen hielt vor dem Marmorhof.

Malesherbes stieg zuerst aus. Der Pfarrer wollte ihm folgen, aber er hatte seinen Degen nicht in Rechnung gebracht. Dieser blieb am Wagenschlage hängen und hielt den Pfarrer auf dem Trittbrett fest; ein Lakai musste kommen und ihn befreien.

Beim Aussteigen warf Jarousseau einen Blick auf das Schloss. Die rote Backsteinmauer machte einen tröstlichen Eindruck auf ihn. So übertrieben luxuriös sah der königliche Palast denn doch nicht aus, wie das Gerücht in seiner Heimat es darstellte. Dort sprach man von einem unermesslichen Gebäude, mit Goldblechen bekleidet, wie Salomos Palast, umgeben von Terrassen, Bildsäulen und Wasservulkanen, welche ganze Ströme in die Luft spieen. Das Schloss sah indes eher einem schönen Landhaus gleich.

Im Giebel befand sich eine Uhr. Sie schien dem Pfarrer vorzugehen. „Diese Uhr geht nicht richtig“, sagte er zu Malesherbes. – „Nein, sie geht gar nicht“, antwortete dieser; „sie geht nie!“ – „Wozu dient sie denn?“ – „Um während der ganzen Regierungszeit eines Königs immer dieselbe Stunde zu zeigen, die Stunde nämlich, in welcher sein Vorgänger verschieden ist. Der Zeiger bleibt unbeweglich auf derselben Stunde bis zum Tode des nächsten Königs. Sehen Sie jenen Balkon dort?“ fuhr Malesherbes fort. „Sobald ein König stirbt, tritt der erste Kammerherr des Hofes dorthin und ruft dreimal zum Volk hinunter: „Der König ist tot!“ indem er seinen Stab zerbricht. Dann nimmt er einen andern Stab und ruft: „Es lebe der (neue) König!“ Das Volk wiederholt diesen Ruf und hat es noch nie mit mehr Begeisterung getan, als bei dem Regierungsantritt Ludwigs XVI., unseres jetzigen vielgeliebten Fürsten.“

„Gott erhalte ihm die Liebe seines Volkes!“ erwiderte der Pfarrer bewegt.

Malesherbes, der hier wohl bekannt war, führte nun seinen Schützling durch den Hof in ein Hintergebäude des Schlosses. Sie traten in ein niedriges Gemach, das zur Not für ein Vorzimmer gelten konnte. Hier wartete schon jemand, der ohne Zweifel auch eine Audienz beim König begehrte. Es war ein ländlich gekleideter Mann in kurzem, braunem Rock, mit Zinnschnallen und Nägeln an den Schuhen. Gleichsam um sich die Zeit zu verkürzen, zeichnete er mit seinem Weichselstock auf den Fußboden eine mystische Figur. Malesherbes musste ihn kennen, denn er drückte ihm im Vorbeigehen die Hand und verließ dann das Zimmer durch eine andere Tür, vermutlich um dem König die Ankunft des Pfarrers anzuzeigen.

Jarousseau, welcher den Fremden im besten Fall für einen Schlossgärtner hielt, benutzte das kurze Zusammensein mit einem solchen Manne aus dem Volk, um seine Fassung und Ruhe wieder zu gewinnen. Er legte den Degen ab, der ihm wie eine Verleugnung seines Amtes vorkam, knöpfte seinen Frack auf und lüftete die Weste ein wenig. „Jetzt kann ich doch wieder atmen,“ sagte er erleichtert.

In diesem Augenblick fühlte der Pfarrer, wie der Boden unter ihm zitterte. Zugleich hörte er aus dem obern Stockwerk bald dumpfe, bald laut schallende Töne, wie wenn jemand bald stärker, bald schwächer auf einen Ambos schlüge.

„Ist denn hier eine Schmiede?“ fragte er, durch das an diesem Orte unerwartete Geräusch in gerechtes Staunen versetzt.

„Was Sie hören, ist nur der Hammer des Schlossers Gamin, der hier oben den König in seinem Handwerk unterrichtet und, beiläufig gesagt, seinen Lehrling zuweilen ziemlich grob behandeln soll.“

Der Pfarrer wollte eben seine Verwunderung aussprechen, als ein Kammerdiener die Türe des Vorzimmers öffnete, mit der Meldung „Meine Herren, der König erwartet Sie!“ Er führte sie über eine Galerie nach dem sogenannten kleinen Gemächern. Dort öffnete er ihnen durch Umdrehung eines schön verzierten Knopfes eine Salontür und entfernte sich. Die beiden Männer befanden sich hier in einem Gemach, das dem Laden eines Antiquitätenhändlers nicht unähnlich sah. Reichverzierte Möbel in antikem Stil standen ohne Rücksicht auf die Symmetrie an den Wänden herum, deren goldverziertes Getäfel statt der Füllungen große Spiegel barg, die vom Fußboden bis an die Zimmerdecke reichten. Die Spiegel waren zum Teil mit getuschten Plänen von allerlei Wasserbauten bedeckt. Ein ungeheurer Globus von sechs Fuß Durchmesser füllte die Mitte des Zimmers aus, und um denselben herum lagen in wirrem Durcheinander prächtig gebundene Bücher, Kartenwerke und Teleskope, daneben Türschlösser und allerhand Drechslerarbeiten auf dem Bodenteppich.

Der Pfarrer betrachtete schon geraume Zeit diese kostbare Spielwarensammlung, als der Kammerdiener plötzlich mit feierlicher Stimme in den Saal hineinrief:

„Der König! meine Herren.“

Und wirklich trat durch eine Seitentür ein Mann herein, dem Malesherbes folgte. Er drehte seinen Kopf rasch auf die rechte Seite, wo der Pfarrer stand:

„Seien Sie gegrüßt, Herr Jarousseau!“

Der Pfarrer verneigte sich tief.

Der König wandte seinen Kopf ebenso schnell nach links. „Guten Morgen, Herr Doktor!“ sagte er zu dem Mann im braunem Rock.

„Der vermeintliche Gärtner ist am Ende der Arzt Sr. Majestät,“ dachte Jarousseau und warf einen verstohlenen Blick auf seinen unbekannten Gefährten.

Einen Augenblick war alles still. Der König, der sich in nachlässiger Stellung an´s Kamin lehnte, befand sich in sichtlicher Verlegenheit, wie er das Gespräch eröffnen sollte. Während er noch auf einen guten Einfall wartete, brachte er seine Ärmelaufschläge, die einer Handarbeit zulieb zurückgestreift worden waren, wieder in Ordnung. Der Pfarrer konnte unterdessen die königliche Majestät betrachten, die ihm in seiner Phantasie so oft wie das irdische Bild der Gottheit erschienen war.

Kapitel 21

Der König und der Diener des Evangeliums

Ludwig XVI. trug an jenem Morgen einen pfirsichfarbenen Rock, man wusste nicht, sollte die Farbe ein schmutziges Weiß oder ein verblichenes Rosa sein; der Kragen und die Knopflöcher waren mit blauer Seide gestickt. Eine ungepuderte Perücke mit halbaufgelöstem Zopf und ein Paar zerrissene Manschetten, vom Kohlenrauch geschwärzt, vervollständigten den königlichen Anzug.

Beim Anblick dieser nachlässigen Kleidung stieg ein Verdacht in des Pfarrers Herzen auf. Hatte sich Malesherbes am Ende einen Spaß erlaubt und ihn zu irgend einem im Schlosse beschäftigten Arbeiter geführt? Dieser Mann, der vor ihm stand, mochte kaum 25-30 Jahre alt sein; seiner korpulenten Gestalt nach konnte er aber für einen Vierziger gelten.

Zwar lag in seiner Haltung zuweilen etwas Königliches; er trug seinen Kopf so hoch, als müsste sein Blick die entferntesten Gegenden seines Reiches umfassen. Aber das matte Blau seiner Augen, das runde Gesicht und das Kinn, das sich allzu früh schon verdoppelt hatte, das alles gab seinen Zügen einen gar zu unbestimmten und weichlichen Ausdruck.

Nachdem der Monarch lange genug im Stillen mit seiner Schüchternheit gekämpft, brachte er endlich ein Wort heraus. „Was wollen Sie von mir, Herr Jarousseau?“ fragte er in einem Ton, dem man die Langeweile anspürte.

„Herr König, ich komme, um zu den Füßen Euerer Majestät die Bitten der Protestanten von St. Georges-de-Didonne, Ihrer getreuen Untertanen in der Provinz Saintonge, niederzulegen und Ew. Majestät mit all der Ehrerbietung, die wir dem von Gott über uns gesetzten Fürsten schulden, zu erklären: Erstens, dass die Verfolgung um des Glaubens willen dem Evangelium zuwider ist; zweitens, dass sie ungerecht; drittens, dass sie unpolitisch …“

„Und viertens,“ unterbrach ihn der König, „werden Sie mir sagen wollen, dass alle meine Vorfahren samt mir blind und dazu verkauft sind, Böses zu tun, ohne uns über die Folgen Rechenschaft zu geben. Ich weiß schon, Herr Pfarrer, was Sie mir für eine Predigt halten wollen, ich habe das alles schon zur Genüge gehört. Ich habe Ihren Brief gelesen und schon vorher eine ganzen Haufen von Denkschriften über diesen Punkt. Ihre Vorstellungen haben mich aber so wenig als diejenigen der Philosophen, Ihrer Verbündeten, eines andern belehrt. Ich habe geschworen, die Ketzerei zu unterdrücken und werde mein Wort halten. Mir liegt vor allem an der Erhaltung der Ruhe in meinem Reich. Gäbe ich euch aber eure Kirchen wieder, gestattete ich eure Versammlungen und schenkte euch zu der Gewissensfreiheit auch noch die Denkfreiheit, dann würde man bei der zunehmenden Gottlosigkeit und bei der Neuerungssucht, welche von allen Seiten die Geister zu ergreifen droht, bald genug in dem untergegangenen Frankreich vergeblich nach dem Thron des heiligen Ludwig forschen. Nein, man kann in meinem Reich nicht zwei verschiedene Christus anbeten; ich werde Gott Rechenschaft ablegen müssen über den Glauben, der mir zur Verwahrung anvertraut worden ist. Ist es denn so schwer, zur Messe zu gehen und dort zu beten, wie die Christenheit seit bald 1800 Jahren getan? Ich gehe doch auch hin!“

Die Heftigkeit, mit welcher der König sprach, brachte den Pfarrer aus der Fassung. Er stand einen Augenblick wie versteinert da und brachte kein Wort heraus. Seiner gut einstudierten Rede konnte er sich gar nicht mehr entsinnen. „Der Heilige Geist verlässt mich,“ dachte er, „denn ich habe meiner Vernunft vertraut.“ Ein heißes Gebet stieg in dieser Not aus seinem Herzen auf; er fühlte, dass es sich jetzt um Leben oder Tod seiner Glaubensbrüder handle.

„Was wollen denn eigentlich diese Protestanten von mir?“ fuhr der König in seiner Aufregung fort. „Sie schreien immer über Verfolgung, und doch können sie ja gehen, wenn es ihnen in meinem Reich zu enge ist. Ich lasse ja die Grenze nicht mehr bewachen. Sie sollen doch dahin gehen, wo man ihnen ihr Abendmahl unter beiderlei Gestalt zu nehmen erlaubt, sie können ihre Kinder, ihre Reichtümer, ihre Bibeln mitnehmen, es hindert sie niemand daran. Aber sie wollen sich lieber empören und den Staat mit ihrem Jammergeschrei erfüllen. Doch, es bleibt dabei, ich dulde keinen Rebellen in meinem Reich, merken Sie sich das, Herr Jarousseau! Wollte ich heute Ihnen gegenüber meine Pflicht tun als gehorsamer Sohn der Kirche und als König, der seinem Eid treu ist, so müsste ich Sie auf den Richtplatz schicken, weil Sie meinen Verordnungen zuwider gehandelt haben; was würden Sie dazu sagen? Nun, antworten Sie!“

Der Pfarrer reichte als Antwort seine Hand dem unbekannten Manne hin, der neben ihm stand. „Hier, Herr Doktor,“ sagte er, „fühlen Sie mir den Puls und sagen Sie dem König, ob er im geringsten beschleunigt sei.“ Dann sah er den König mit dem Ausdruck der tiefsten Seelenruhe an und beantwortete dessen Frage mit einer Majestät, die derjenigen des Königs weit überlegen war: „Ich würde meiner letzten Stunde mit derselben Seelenruhe entgegengehen, die Sie jetzt an mir sehen und würde hingehen, um Sie, Herr König, zu erwarten vor Gottes Richterthron.“

Der Pfarrer sah bei diesen Worten ein Lächeln um die Lippen des Doktors spielen. Dies erregte in ihm abermals den Verdacht, er sei am Ende hinter´s Licht geführt worden.

„Sie sind nicht der König,“ sagte er und blickte Ludwig dem XVI. scharf ins Gesicht.

„Was sagen Sie, Herr Jarousseau?“ antwortete dieser und richtete sich stolz empor.

„Ich wollte sagen, dass der König nicht so sprechen würde wie Sie.“

Ludwig des XVI. Auge schleuderte einen Blitz auf den Pfarrer, der es wagte, an seiner königlichen Würde zu zweifeln. „Wie verstehen Sie das?“ fragte er unwillig.

Der Pfarrer ließ sich nicht irre machen. Er fasste sich, nahm all seinen Mut zusammen und sagte ruhig: „Herr König, jeden Morgen und jeden Abend lasse ich meine sechs Kinder, die mir der Herr geschenkt hat, auf ihre Kniee niederfallen und sage zu ihnen: „Betet für unsern König, der der Vater des ganzen Volkes ist. Er ist gütig und gerecht und Gott wird sein Herz erweichen für die armen Schafe, die man in seinem Namen tötet und die er in seiner Gerechtigkeit und Güte gewiss nicht hinschlachten lassen will.“ Und die Kinder haben ihre Hände gefaltet und gebetet: Herr Gott, lege Deine Hand auf das Haupt unseres Fürsten und sende Deinen Geist in sein Herz. Erfülle ihn mit Deiner Liebe, dass er sein Volk regiere mit Barmherzigkeit. Und gewiss ist das Gebet dieser Kinder zum Himmel empor gestiegen, und Gott hat das Herz des Königs gerührt. Im Vertrauen darauf beschwöre ich Sie, Herr König, verschließen Sie nicht länger ihr Herz einer ganzen Million Ihrer treuesten Untertanen gegenüber. Ich sehe es Ihnen an, dass die Barmherzigkeit des Herrn Sie gerührt. Lassen Sie diesem Erbarmen und Ihrem eigenen Gerechtigkeitsgefühl freien Lauf, geben Sie Ihren unterdrückten protestantischen Landeskindern, die ja doch Gottes Kinder sind, die Freiheit, um die ich in ihrem Namen flehe, so wird der Ruhm Ihrer Gerechtigkeit groß sein in der ganzen Christenheit.“

Der König war sichtlich ergriffen von dieser aus dem Herzen quellenden Beredsamkeit, die so unvorhergesehen und unbekümmert um die Etiquette auf ihn eindrang; er wurde bald rot, bald blass und versuchte vergeblich, seiner Bewegung Herr zu werden. Aber ein angeborenes oder anerzogenes Vorurteil machte ihn glauben, er sei es seiner königlichen Würde schuldig, keine Rührung merken zu lassen.

„Stehen Sie auf, Herr Jarousseau,“ sagte er zu dem Pfarrer, der sich während seiner Rede vor ihm auf die Kniee niedergelassen hatte; „die Zeit ist nahe,“ fügte er in bitterem Tone hinzu, „wo man nicht mehr auf den Knieen mit dem König reden wird.“

„Was will man aber eigentlich von mir?“ fuhr er im selben Tone fort. „Man dringt von allen Seiten auf mich ein und verfolgt mich bis in dieses mein Versteck hinein, wo ich einen Augenblick ungestört leben zu können glaube. Man weiß eben, dass ich ein Herz habe, und darum schlägt jedermann ganz ungeniert darauf los. Da kommen die Leute aus dem entferntesten Winkel des Landes her und fordern ganz offen die Gewissensfreiheit von mir, und ich, der Sohn des heiligen Ludwig, der ich die Verpflichtung eidlich übernommen habe, die Kirche zu verteidigen, soll heute der Ketzerei erlauben, in meinem Reich einen Gegenaltar zu errichten.“

Tiefe Stille folgte diesem traurigen Bekenntnis der Ohnmacht aus eines Königs Mund. Man hörte nichts, als wie der Schlosser Gamin im obern Stockwerk immer heftiger mit seinem Hammer auf den Ambos schlug. Ohne Zweifel war er ungeduldig, dass sein königlicher Lehrling so lange auf sich warten ließ.

„Hören Sie,“ sagte der König, „da oben ist ein Arbeiter, der beste seines Handwerks, der hat nur mit dem Eisen zu tun. Er schmiedet und feilt es nach seinem Gefallen und wenn er damit fertig ist, so geht er nach Hause, küsst seine Frau und schläft im Frieden, denn er hat niemand ein Leid getan; der ist ein glücklicher Mann!“

Dann aber, als fürchtete er, der Vergleich möchte allzu deutlich sein, nahm der König wieder seine stolze Haltung an und brach die Unterredung kurz mit den Worten ab: „Sie können gehen, Herr Jarousseau, morgen sende ich Ihnen meine Befehle zu.“

Kapitel 22

Ein unerwartetes Wiedersehen

Wie einem Schiffer, der nach stürmischer Fahrt das Ufer wieder gewinnt, war es dem Pfarrer Jarousseau zu Mut, als er nach den Anstrengungen und Gemütsbewegungen, welche ihm die Audienz beim König verursacht hatte, wieder in sein Dachstübchen im Hotel zur Vorsehung kam.

Müde warf er sich, noch ganz angekleidet, auf sein Bett. Lange beschäftigten ihn die merkwürdigen Erlebnisse des Tages, und die gespannte Erwartung dessen, was wohl der König antworten würde, scheuchte den Schlaf von seinen Augen fort. Aber, wie schon so oft, betete er seine Sorgen weg. Da verblassten allmälig die lebhaften Eindrücke des Tages und er schlief ein wie ein Soldat nach geschlagener Schlacht.

Die Sonne, die im Hochsommer sogar in die enge Straße Sainte-Avoie einzudringen vermag, spielte schon lange mit den Vorhängen seines Zimmerchens, als er erwachte. Verwundert schaute er um sich, als er sich noch vom Kopf bis zum Fuß in die Uniform des dritten Standes gehüllt fand; er eilte, diesen geborgten Anzug abzulegen. Mit berechtigtem Stolze nahm er seinen Kamelotrock mit den blauen Stahlknöpfen vom Nagel herunter, und als er wieder in seinen eigenen Kleidern steckte, fühlte er sich unendlich wohl. Zum ersten Mal in seinem Leben trat er zum Spiegel und betrachtete sich mit einer gewissen Eitelkeit. „Jetzt bin ich wieder ein Mensch,“ sagte er stolz.

Er wollte einen Spaziergang machen, um seinen Geist in der belebenden Morgenluft zu erfrischen; aber kaum hatte er seinen Fuß auf den Hausflur gesetzt, das sah er etwas, das ihm wie eine Sinnestäuschung vorkam. Vor ihm, an der Pforte des Hotels angebunden, stand die gutmütige Gestalt Miseres, gesattelt und gezäumt, wie an dem Tag, an dem er sie verloren hatte.

Er traute seinen Augen nicht, und doch war dies ohne Zweifel sein geliebtes Tier. Denn auch die Stute ihrerseits erkannte ihren Herrn und gab der Freude über das Wiedersehen lebhaften Ausdruck, indem sie ihre Nüstern abwechselnd öffnete und schloss. Ein Polizist hielt das Pferd am Zügel, während ein anderer mit gezogenem Säbel einen jungen Mann bewachte, der wie ein armer Sünder hinter dem Pferde stand.

„Herr Jarousseau“, sagte der Polizist, „sehen Sie gefälligst nach, ob von Ihrem Gepäck nichts fehlt und geben Sie mir eine Quittung.“

Der Pfarrer öffnete seinen Ranzen und fand darin richtig die Bibel, die Socken, den Ziegenkäse, das Säckchen mit den gedörrten Zwetschgen, die Schachtel mit dem Fiebertee, alles unversehrt, wie er es aus den Händen gelassen hatte, nur seine Denkschrift fehlte. An die Stelle derselben hatte eine unbekannte Hand eine goldene Tabaksdose gesteckt. Der Pfarrer betrachtete sie. Auf dem Deckel war das Bild des Königs eingraviert und um dasselbe herum die Inschrift: „Malesherbes dem Pfarrer Jarousseau.“ Er steckte die Dose zu sich und schloss den Ranzen wieder zu.

„Und das Geld?“ fragte der Polizist.

„Welches Geld?“

„Das Geld in dem Beutel, der in Ihrem Ranzen liegt.“

Nach dem Beutel zu sehen, hatte der Pfarrer ganz vergessen. Richtig lag er unter dem übrigen Gepäck. Nach dem geringen Umfang zu schließen, glaubte der Pfarrer zuerst, es fehlten drei Viertel von dem Geld, aber als er ihn öffnete, lagen 100 Louisd´or drin, funkelnagelneu, wie wenn sie eben erst aus der Münze gekommen wären.

„Das Geld gehört nicht mir,“ sagte der Pfarrer und reichte den Beutel dem Polizisten.

„Doch, mein Herr,“ antwortete dieser. „Der König schenkt Ihnen dieses Geld zur Bestreitung Ihrer Reisekosten und für die Armen in Ihrer Gemeinde. Hier bringe ich Ihnen auch den Dieb, der Ihnen das Pferd mit samt dem Gepäck entführt hat. Derselbe gehört einer guten Familie an, der er´s zu verdanken hat, dass er zur Strafe für sein Verbrechen nur zur Auswanderung in eine der überseeischen Kolonien verurteilt worden ist. Sein Vater will Ihnen aber Ihr Recht auf eine unmittelbare Bestrafung des Schuldigen nicht vorenthalten und schickt Ihnen den jugendlichen Verbrecher, damit Sie ihn nach Gutfinden züchtigen.“

Der Pfarrer griff als Antwort in den Beutel, nahm eine Handvoll Goldstücke heraus und wollte sie dem Gefangenen geben.

„Was tun Sie?“ fragte der Polizist, empört über eine Handlung, die ihm eine Ermutigung zu neuem Verbrechen schien.

„Ei was, mein Freund,“ sagte der Pfarrer, „ich will ja nur dafür sorgen, dass der junge Mann nicht wieder stehlen muss!“

„Ja, und ich will Ihnen noch dazu sagen,“ ergänzte der junge Mann seinerseits, „dass Sie, Herr Jarousseau, mir zu einer solchen Entschädigung verpflichtet sind.“

„Wieso das, mein Freund?“

„Weil ich für Sie in´s Gefängnis gewandert bin.“

„Sie ins Gefängnis für mich? Wie meinen Sie das?“

„Ja, hören Sie nur, was ich für Missgeschick hatte mit Ihrem Pferd. Ich glaubte ein frommes Tier erbeutet zu haben und nicht eines, das der Ketzerei verdächtig ist und einem noch viel verdächtigern Herrn angehört. In dieser Meinung stieg ich bei einem Gasthof ab. Aber kaum hatte ich das Pferd in den Stall geführt, so kam dieser Herr Polizist, packte mich beim Kragen und sagte zu mir: „Im Namen des Gesetzes, Herr Jarousseau, ich verhafte Sie!“ Ich versicherte zwar, dass ich diesen Namen nie getragen hätte und er somit an den Falschen gekommen sei, aber statt mich loszulassen, öffnete er den Ranzen, nahm die Denkschrift heraus, betrachtete sich die Unterschrift und sagte: „Es ist gut, folgen Sie mir!“ Und so wurde ich in die Bastille geführt, in das schauerliche Staatsgefängnis.“

Der Pfarrer sah den Polizisten an, als wollte er ihn fragen, ob der junge Mann auch die Wahrheit sage.

„Ja, ja, mein Herr,“ bestätigte dieser, „so ist´s! Der Statthalter Ihrer Provinz hatte Sie der Pariser Polizei als einen gefährlichen Prediger bezeichnet und der Polizeipräfekt ließ deshalb an alle Gasthöfe der Stadt den Befehl ergehen, man sollte den Mann mit der einäugigen Stute bei seiner Ankunft sofort verhaften. Später hat man scheints eingesehen, dass Sie unter falscher Anklage standen, denn ich habe den Befehl erhalten, Ihnen mit aller Achtung zu begegnen und Ihnen alle nötige Hilfe zu leisten.“

„Wie gut ist doch Gott!“ rief der Pfarrer voll Verwunderung über diese gnädige Fügung der Vorsehung aus. „Wäre dieser junge Mann nicht mit meinem Pferde durchgebrannt, so säße ich heute und vielleicht auf Lebenszeit im Kerker!“

Der Pfarrer Jarousseau hatte also Ludwig XVI. gesehen, Paris und Versailles besucht, den Minister Malesherbes kennen gelernt und war am königlichen Hofe sogar mit Benjamin Franklin zusammengetroffen – denn kein geringerer als dieser amerikanische Gesandte war der Mann gewesen, der an jenem Morgen zugleich mit ihm vom König empfangen worden war und den er zuerst für den Gärtner, hernach für den Doktor des Königs gehalten hatte, und der nun, wie er hernach erfuhr, kein anderer als der berühmte Erfinder des Blitzableiters und der Vorkämpfer der amerikanischen Unabhängigkeit war. Zu alledem hatte er nun sein Pferd und seinen Ranzen wieder bekommen, und der gute König hatte ihm noch dazu seine Reisekosten doppelt und dreifach zurückbezahlt. Nur etwas fehlte ihm noch, wenn er Paris ganz so reich wieder verlassen wollte, wie er es betreten, und das war seine Uhr, die er in der höchsten Not verkauft hatte. Zum Glück sah die Uhr so wenig verlockend aus, dass sie keinen Käufer gefunden hatte. Sie hing noch am selben Ort in dem Uhrmacherladen, und Jarousseau konnte sie ohne Schwierigkeiten wieder einlösen.

„Jetzt habe ich hier nichts mehr zu tun,“ sagte er, schnürte sein Bündel und schickte sich zu einem Abschiedsbesuch bei Malesherbes an, um bei diesem die Antwort des Königs zu vernehmen.

Kapitel 23

Eine denkwürdige Stunde

„Herr Jarousseau,“ sagte der Minister, als der Pfarrer bei ihm eintrat, „ich habe die Antwort des Königs auf Ihre Bitte erhalten. Sie ist ausweichend, wie ich es vorausgesehen habe. Die Frage, wie die Protestanten in Zukunft behandelt werden sollen, lässt Seine Majestät einstweilen noch unentschieden. Doch Ihnen persönlich ist der König recht günstig gestimmt. Er gibt Ihnen die Erlaubnis zu predigen, nur muss dies im Geheimen, an einem abgelegenen Ort und in verschlossenem Haus geschehen. Und auch diese Erlaubnis kann wieder zurückgenommen werden, wenn nicht jedes Aufsehen vermieden wird.

Sie haben also nur wenig erreicht, aber doch etwas, und dieses Etwas ist ein erster Schritt zur endlichen Gewährung der völligen Gewissensfreiheit. Denn wenn der König heute auch nur Ihnen das Recht gibt zu predigen, so wird er folgerichtig mit der Zeit auch andern Pfarrern dieselbe Erlaubnis erteilen müssen. Ihre Reise hierher ist also jedenfalls eine glückliche zu nennen, denn sie hat den König zu einem Schritte bewogen, dem gewiss ein zweiter und dritter folgen wird, bis dass es einmal gelingt, die königliche Unterschrift unter ein Toleranzedikt zu Gunsten der Protestanten zu bringen.“

Während Malesherbes dem Pfarrer diese angenehme Eröffnung machte, schlug die Uhr in seinem Zimmer zwölf. Um diese Zeit musste der Pfarrer unfehlbar seine Uhr aufziehen, denn so war er´s seit mehr als 20 Jahren gewohnt. Während der Zeit, da er sie aus Geldverlegenheit hatte versetzen müssen, kam deshalb auch regelmäßig um die Mittagsstunde das Gefühl eines Unbehagens über ihn; er pflegte dann nach seiner Uhrentasche zu greifen, allein er fand sie leer und zog seine Hand mit einem Seufzer zurück. Nun aber war er ja wieder in den Besitz dieses Stückes seiner selbst gelangt. Er zog die Uhr hervor und betrachtete die beiden Zeiger, die über einander auf der zwölften Stunde standen. „Die Stunde ist gekommen, nach der ich mich mein Leben lang sehnte!“ rief er aus. „Zum Andenken dessen sollen diese Zeiger nicht mehr weiter schreiten, denn diese Stunde hat Gott gemacht; es ist die Stunde der Befreiung für mich. Und nun verzeihen Sie mir, Herr Minister, wenn ich etwas sagen will, was vielleicht ungeschickt herauskommt, jedenfalls ist es gut gemeint: Es ist mir ein Herzensbedürfnis, Ihnen ein Andenken zu hinterlassen. Sie haben mir eine goldene Dose geschenkt; nehmen Sie diese Uhr von mir. Sie ist freilich kaum gut genug für einen Ihrer Diener; aber ihr Wert liegt anderswo als im Metall, aus dem sie gefertigt ist; diese Uhr hat mein Wachen und Beten, mein Denken und Seufzen miterlebt. Wie oft habe ich dieses Zifferblatt betrachtet mit der bangen Frage: Wann wird einmal dieser Zeiger die Stunde, wo die verkannte Wahrheit ihr Haupt erheben und ihren unterdrückten Jüngern zurufen darf: Steht auf, ihr seid frei? Die ersehnte Stunde hat geschlagen, zum Andenken daran lege ich diese Uhr in Ihre Hand.“

„Und ich nehme sie mit Freuden an,“ sagte Malesherbes, indem er darnach griff. „Ich will sie neben meinem Kamin aufhängen, der Zeiger soll bleiben, wie Sie ihn gestellt haben, und wenn ich ihn ansehe, will ich daran denken, dass diese Stunde uns die erste Hoffnung auf Befreiung gebracht. Ihr Anblick soll mich ermutigen zu weiterem Kampfe auf der Freiheitsbahn.“

Der Pfarrer trat nach diesem schönsten Moment seines Lebens die Heimreise an. Misere wollte wieder bei jedem Wirtshaus halten, aber ihr Herr gab ihr zu verstehen, dass er diesmal ein rascheres Tempo wünsche. Das gute Tier schien endlich zu begreifen, dass sein Herr eine wichtige Nachricht nach Hause zu bringen habe, fügte sich in das Unvermeidliche und brachte den Pfarrer in 14 Tagen an die Grenzen von St. Georges-de-Didonne zurück. Das war eine große Zeitersparnis, denn zur Reise nach Paris hatte der Pfarrer volle drei Wochen gebraucht.

Als Jarousseau sich der Heimat näherte, begegnete ihm die ganze Gemeinde im Sonntagsschmucke und mit grünen Zweigen zum Willkomm. Das Gerücht von seiner Ankunft war ihm irgendwie vorausgeeilt.

„Meine Freunde,“ sprach der Pfarrer, „werft diese Zweige weg; sie erinnern an eine Ehrenbezeugung, die keinem Sterblichen gebührt. Wir wollen niederknien und einen Dankpsalm für unsere Befreiung anstimmen, denn ich bringe euch die erste Verheißung der Glaubensfreiheit mit!“

Er stieg vom Pferd, warf sich auf die Kniee in den Staub und stimmte mit der Gemeinde mitten unter den goldenen Erntefeldern das Loblied des 103. Psalmes an:

„Lobe den Herrn, meine Seele, und alles was in mir ist, seinen heiligen Namen. Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was Er dir Gutes getan. Der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit.“

Anne erwartete ihren Mann vor dem Haus, umgeben von ihren Kindern. Sie weinte, und die Kinder weinten mit ihr, nur die kleine Benigna, die sonst immer traurig dreinsah, lächelte vor sich hin. Ihre bleichen Wangen röteten sich, als wollte das Morgenrot der anbrechenden Glaubensfreiheit auf ihrem Angesicht einen Wiederschein erwecken.

Jarousseau drückte seine Frau an sein Herz. Die freudige Bewegung war zu groß für Anne´s Kraft; sie wurde bleich und wankte. Mit zitternder Stimme sagte sie: „Man hat ihn also nicht getötet und auch nicht ins Gefängnis geworfen, wie die Leute sagten! Nein, da ist er ja, er ist wieder da! Kinder, umarmt euern Vater und danket dem Herrn, der ihn euch wiedergegeben hat!“

„Lasst uns beten,“ sagte der Pfarrer, „für den König, der uns von jetzt an das gemeinschaftliche Gebet erlaubt!“

Alle falteten die Hände, dankten dem Herrn für das glückliche Wiedersehen und flehten Seinen Segen auf das Haupt des Königs herab.

Kapitel 24

Endlich

Die Bemühungen des Pfarrers Jarousseau sollten nicht fruchtlos sein. Im Jahre 1780 war er nach Paris gereist, um für den Protestantismus das Bürgerrecht zu fordern. Der König gewährte es im Jahre 1787, sieben Jahre nach seiner Unterredung mit dem Pfarrer. Dieser hatte zwar das Danklied für die Befreiung etwas zu früh anstimmen lassen, aber doch nicht ganz umsonst. Auch mit diesem Toleranzedikt hatte der König den Protestanten noch keineswegs die Kultusfreiheit gewährt, sondern er stellte sie den Katholiken nur in den bürgerlichen Rechten gleich; ihre Ehen wurden fortan anerkannt und ihre Kinder legalisiert.

Drei Jahre später wurde durch die Revolution allen französischen Bürgern die Gewissensfreiheit geschenkt. Ja, unser Jarousseau hat es sogar noch erlebt, dass seine einstigen Verfolger die Verfolgten geworden sind.

Die Einwohner von St. Georges-de-Didonne feierten eines Tages die Abschaffung der Feudallasten. Sie zündeten ein ungeheures Freudenfeuer an und warfen die Adelsbriefe und Steuerbücher in die Flammen. Plötzlich erschien ein Wahnsinniger unter ihnen. Er nahm ein brennendes Scheit, rannte damit gegen das katholische Pfarrhaus und schrie mit schrecklichem Lachen: „Wir wollen den Dachs ausräuchern!“

Dieser Mensch war kein anderer als Isaak Gimberteau, der einst infolge des Schiffbruchs, wobei seine Braut ertrank, wahnsinnig geworden war; unter dem Dachs verstand er den Priester Labole, den ehemaligen Verfolger Jarousseaus. Der arme irrsinnige Mensch wiederholte mechanisch aus dem Gedächtnis das Wort, welches einst der Dragoner in jener Nacht aussprach, als Benigna Jarousseau geboren wurde. Damals war der protestantische Pfarrer der Dachs gewesen, nun der katholische. Die aufgeregte Menge folgte, vom Gedanken an die früher ausgestandenen Verfolgungen angestachelt, dem Feuerzeichen des Wahnsinnigen nach. Zum Glück war der Priester gewarnt worden, er hatte gerade noch Zeit, sich in Jarousseaus Haus zu flüchten. Das protestantische Pfarrhaus war der einzige Zufluchtsort, wo der katholische Priester sich vor der fanatisierten Menge einigermaßen sicher fühlte!

Der Pfarrer ließ seinen einstigen Verfolger in das Versteck schlüpfen, wo er sich selbst in früherer Zeit so oft vor der Verfolgung geborgen hatte, so dass also durch eine wunderbare Fügung der Vorsehung die nämliche Zelle, die einst den Protestanten vor der Unduldsamkeit der Katholiken schützte, nun den Katholiken vor der Rache der Protestanten barg.

„Herr Jarousseau,“ stammelte der Priester, bleich vor Schrecken, als er das schützende Versteck betrat, „ich danke Gott für die Prüfung, die er mir zuschickt. Es wird mir dadurch eine Last vom Gewissen genommen. Ich habe einst gegen Sie gehandelt, wie ich es für meine Pflicht hielt; Sie haben damals für ihren Glauben gelitten, nun leide ich für den meinigen, das tröstet mich.“

Der protestantische Pfarrer verbarg den katholischen Priester drei Tage in seinem Haus. Dann mietete er ein Boot und brachte ihn an Bord eines spanischen Dreimasters, der bei Verdon vor Anker lag.

Auf die Revolution folgte die Schreckensherrschaft. Unter andern edlen Männern legte auch Malesherbes sein Haupt auf das Schaffot. Am 22. April 1794, eben als die Uhr auf den Tuilerien zwölfe schlug, bestieg der ehemalige Minister das Blutgerüst. Er zog die Uhr hervor, die der Pfarrer ihm einst geschenkt hatte, und deren Zeiger noch immer die erste Stunde der Freiheit wies. Ehe er sein Haupt auf den Block legte, zog er die Uhr auf, hielt sie an sein Ohr und warf sie dann unter die tobende Menge, die auf dem Revolutionsplatz versammelt war. „Ich kann sterben,“ rief er aus, „aber die Freiheit schreitet fort wie diese Uhr!“

* * *

Der Pfarrer Jarousseau lebte noch viele Jahre im Kreise seiner Kinder und Kindeskinder. Das alte Pfarrhaus steht heute in St. Georges-de-Didonne am Meeresstrande. Es ist ganz von Efeu umrankt und von Blumen eingefasst, so dass sich bei den Einwohnern des alten Dorfes das sinnreiche Sprichwort gebildet hat, das Haus des Pfarrers Jarousseau blühe das ganze Jahr. Ja, an diesem Mann und seinem Geschlecht hat sich das Wort der Schrift erfüllt: „Die gepflanzt sind im Hause des Herrn, werden in den Vorhöfen unseres Gottes grünen, und wenn sie gleich alt werden, werden sie dennoch fruchtbar und frisch sein, zu verkündigen, dass der Herr so gut ist und kein Unrecht an ihm!“

Der Sohn einer der Töchter des Pfarrers hat uns das Bild des ehrwürdigen Großvaters gezeichnet und uns den Glauben dieses Mannes vor Augen gestellt, durch welchen er noch redet, wiewohl er gestorben ist. Derselbe schreibt:

„Ich habe ihn in meiner Kindheit gesehen und kann mir ihn heute noch lebhaft vorstellen, den ehrwürdigen Patriarchen und seine Familie, wie er unter seinem Feigenbaum saß an der Gartentür, das Gesicht von den Strahlen der untergehenden Sonne verklärt. Er nahm uns Kleine auf seine Kniee, zeigte uns den leuchtenden Abendhimmel und redete mit uns von dem Schöpfer all dieser Herrlichkeit. Dann legte er uns die Hände aufs Haupt und segnete uns.“

Jarousseau starb am 18. Juni 1819, neunzig Jahre alt. Es war ein herrlicher Frühlingsmorgen. Er ließ seinen Lehnstuhl zum Fenster rücken, um noch einmal, wie er sagte, den Odem Gottes in der frischen Morgenluft einatmen zu können. Nachdem er seine Töchter geküsst und gesegnet hatte, bat er Henriette, ihm aus der alten Familienbibel das Evangelium Johannis vorzulesen. Während des Lesens senkte er sein Haupt auf die Brust und verlor die Besinnung. Sein Puls schlug noch. Eine feierliche Stille herrschte in dem Gemach des ehrwürdigen Patriarchen; man hörte nur das Summen der Bienen, die den Honig der frischbetauten Blüten tranken. Aber als gegen 7 Uhr die Sonne ins Zimmer schien, da erhob er plötzlich sein totenblasses Angesicht noch einmal. Er streckte seine Arme nach der Sonne aus, seine Lippen bewegten sich, als rede er mit einem unsichtbaren Gast. Dann ließ er seine Hände in den Schoß sinken, seine Glieder wurden steif; sein Geist war entflohen in das Reich der Herrlichkeit.

Seine irdische Hülle ruht neben seinem Häuschen. Vier Cypressen beschatten das Grab, auf dem kein Denkstein steht. Nur seine Enkelinnen kommen von Zeit zu Zeit und knien auf dem Grabe nieder. Im Gebet zu dem Gott ihres Großvaters finden sie neue Kraft. Ein anderes Denkmal hat sich der bescheidene Gottesmann nicht gewünscht.

Möge auch das bescheidene Denkmal, das wir dem treuen Streiter Jesu Christi in diesem Büchlein gesetzt, manche veranlassen, zwar nicht ihn anzubeten, wohl aber Den, an welchen Jarousseau geglaubt und den er treu bis in den Tod geliebt.

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