Riggenbach, Bernhard - Frauengestalten aus der Geschichte des Reiches Gottes - II. Die Frauen im Leben Jesu.

Riggenbach, Bernhard - Frauengestalten aus der Geschichte des Reiches Gottes - II. Die Frauen im Leben Jesu.

„Selig sind eure Augen, dass sie sehen, und eure Ohren, dass sie hören. Wahrlich, ich sage euch: Viele Propheten und Gerechte haben begehrt zu sehen, das ihr seht, und haben es nicht gesehen, und zu hören, das ihr hört, und haben es nicht gehört“ (Matth. 13,16 und 17): so redet unser Herr und Heiland selbst von seinen Zeitgenossen und weist damit namentlich seiner näheren Umgebung und also auch den Frauen derselben eine bedeutungsvolle Stellung an. Wie aus dem Zusammenhang (V. 18) hervorgeht, so ist jene Seligpreisung aufzufassen als eine ernste Mahnung an seine Jünger und Jüngerinnen, mit sehenden Augen und hörenden Ohren auch wirklich zu sehen und zu hören. Jesus will sie zu einem mehr als bloß äußerlichen Anschauen und Anhören, zu einem eigentlichen Einsehen und innerlichen Erfassen seiner selbst, seines Wandels und seiner Lehre anregen, indem er ihnen zu Gemüte führt: was ihr jetzt als Augen- und Ohrenzeugen miterlebt, das zu sehen und zu hören ist der höchste Wunsch und das tiefste Sehnen der geistreichsten und frömmsten Männer und Frauen der Vergangenheit gewesen. Allein, nicht genug, in solcher Weise den Genossen seines Lebens im Vergleich zu den bedeutendsten Menschen der Vergangenheit einen bevorzugten Rang eingeräumt zu haben, weissagt er seinen eigentlichen Anhängern auch für die fernste Zukunft geradezu bleibenden Ruhm. Und zwar ist das bezügliche Verheißungswort, wie Sie wohl wissen, gerade im Blick auf eine Frau aus Jesu Mund hervorgegangen. Die opferfreudige Maria von Bethanien war es, deren sinniges Verständnis für seine Situation ihm das große Wort entlockte: „Wahrlich, ich sage euch: wo dies Evangelium gepredigt wird in aller Welt, da wird auch von dem, was diese getan hat, geredet werden zu ihrem Gedächtnis“ (Mark. 14,9).

Jesus Christus ragt auch in der Hinsicht über alle anderen Berühmtheiten weit hinaus, dass er seine Umgebung nicht despotisch bei Seite geschoben und selbstgefällig verdunkelt, sondern im Gegenteil zur Mitwirkung an seiner großen Lebensaufgabe herbeigezogen und nach Maßgabe ihrer Treue sogar öffentlich anerkannt hat. Dies gilt namentlich auch von den Frauen, die ihm nahe standen, von seiner Mutter und seinen Jüngerinnen, die er mit rücksichtsvollstem Zartsinn behandelte. Dabei ist aber Eines wohl zu beachten: wo immer Jesus Frauen ans Licht gezogen, belobt, bevorzugt und in Schutz genommen hat, da geschah es doch nie wegen ihrer äußeren Beziehungen zu ihm, sondern nur wegen ihrer völligen Hingebung an seines Vaters Willen. Es war dem Franzosen Renan vorbehalten, den Verkehr Jesu mit seinen Jüngerinnen, zwar nicht geradezu frivol, aber doch sehr romanhaft so darzustellen, als ob Jesus sie um äußerer Vorzüge willen in seinen Kreis gezogen hätte. Trefflich erklärt ein anderer Franzose, Mr. de Pressensé (Jésus-Christ p. 448), es sei unnötig, Jesum gegen solchen Verdacht in Schutz zu nehmen: „La justification à elle seule serait déjà une impiété.“ Zwar erwähnt das Evangelium (Luk. 8,3), dass Johanna, die Gattin des vornehmen herodianischen Beamten Chusa, ferner Susanna und noch andere wohlhabende Frauen ihm Handreichung getan von ihrer Habe und es ihm so ermöglicht hätten, gänzlich seinem prophetischen Beruf zu leben, ohne weiter in der Wertstätte Josephs arbeiten zu müssen. Allein zunächst wird an jenen galiläischen Weibern nicht diese Fürsorge für Jesu Lebensunterhalt, sondern das rühmlich hervorgehoben, dass sie ihm nachfolgten durch Städte und Märkte, um seiner Verkündigung des Evangeliums vom Reiche Gottes zu lauschen (Luk. 8,1), und dass sie ihm mit Überwindung der natürlichen weiblichen Zaghaftigkeit auch dann treu blieben, als die große Katastrophe hereinbrach, und starke Männer Mut und Zuversicht verloren (Luk. 24,10). Das Beispiel der Martha zeigt uns deutlich, wie wenig Wert in Jesu Augen der bloße äußere Dienst selbst dann hatte, wenn er viel Sorge und Mühe in sich schloss (Luk. 10,41). Und als ein Weib aus dem Volk, hingerissen von einem Ihnen allen gewiss sehr verständlichen Enthusiasmus, um Jesu willen auch für seine Mutter zu schwärmen anfing und jenen bekannten, pathetischen Ausruf tat (Luk. 11,27), da ließ es der HErr an dem nötigen „Dämpfer“ nicht fehlen und wies der Begeisterung den richtigen Weg mit den nüchternen Worten: „Ja selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren“ (Luk. 11,28). Trotzdem hat aber jenes Weib, eben weil seine Art eine volkstümliche, dem ans Äußerliche sich haltenden, natürlichen Menschenwesen sympathische war, in der Folgezeit unzählige Gesinnungsgenossen erhalten, und es ist besonders die römisch-katholische Kirche, welche bis auf diesen Tag den dort vom HErrn verurteilten Marienkultus hegt und pflegt und sich damit, wie sie es auch beabsichtigt, namentlich beim weiblichen Geschlecht einschmeichelt und populär macht.

Während sich die Apostel und ihre Schüler, wie wir nachher aus der Betrachtung der evangelischen Berichte deutlich sehen werden, in dieser Beziehung durchaus nüchtern verhielten, finden wir schon am Ende des zweiten Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung die Tendenz, die Mutter Jesu ihrem Sohne gleichzustellen und ihr einen wesentlichen Anteil an dem Erlösungswerk zuzuschreiben. Es entstanden apokryphische Evangelien mit genauen Details über die ganze Lebensgeschichte der Maria, meist solchen, die den einzelnen Begebenheiten des Lebens Jesu in greifbarster Weise nachgedichtet sind. Dieselben haben namentlich insofern ein allgemeineres Interesse, weil sie von den hervorragendsten Künstlern des Mittelalters und der Renaissance zum Gegenstande von teilweise mit Recht berühmten Darstellungen gemacht worden sind.1)

Der Gang der vielfach illustrierten Erzählung ist kurz folgender: Marias in den Evangelien ebenfalls nicht genannter Vater Joachim will im Tempel zu Jerusalem ein Opfer darbringen, wird aber vom Hohenpriester zurückgewiesen, weil seine Ehe nicht mit Kindern gesegnet sei. Traurig ob dieser Schmach wagt der Abgewiesene nicht in sein Haus zurückzukehren, sondern geht hinaus in die Einöde zu seinen Hirten und Herden. Während er hier einsam trauert, lebt Anna, seine Frau, zu Hause in großer Sorge um ihn, da sie nicht weiß, wo sie ihn suchen soll. Doch nach einigen Monaten wird beiden an ihrem Ort die Erscheinung eines Engels zu Teil, der ihnen die Geburt der Maria verheißt und sie auffordert, zum goldenen Tor beim Tempel zu gehen, wo sie sich begegnen werden. Dies geschieht, und bald darauf wird Maria geboren. Durch ein Gelübde der Eltern dem Dienst des Tempels geweiht, wird sie als dreijähriges, aber frühreifes Kind feierlich dem Hohenpriester übergeben und ersteigt bei diesem Anlass, zu Jedermanns Erstaunen, ganz allein die fünfzehn hohen Stufen, welche zum Tempel hinaufführen. Im Tempel wächst sie heran, einer Taube gleich, und empfängt ihre Speise aus Engels Hand. Bis zu ihrer Verheiratung mit Joseph beschäftigt sie sich nebst sechs andern Jungfrauen mit dem Weben eines neuen Tempelvorhangs. Bei dieser Arbeit empfängt sie den englischen Gruß. So weit hat diese apokryphische Lebensgeschichte der Maria den Charakter einer ziemlich harmlosen Sagendichtung. Der weitere Verlauf der Legende dagegen ist unverkennbar aus der in weit bedenklicherer Weise von dem Heidentum herübergenommenen Tendenz hervorgegangen, Maria zu einer Göttin mit den besten Attributen aller olympischen Frauen herauszustaffieren. Da in den Evangelien von Geschwistern Jesu die Rede ist, Maria aber durchaus den Nimbus ewiger Jungfräulichkeit erhalten sollte, so wurde folgende Heiratsgeschichte erfunden: Marias Vetter, der Priester Zacharias, erhält von einem Engel den Befehl, sämtliche Witwer Jerusalems zusammenzurufen und ihre Stäbe im Tempel zu weihen. Er tut dies, und siehe da - aus dem Stab des greisen Zimmermanns Joseph fliegt eine Taube hervor und setzt sich diesem aufs Haupt, zum Zeichen, dass er es sei, unter dessen frommem Schutz der Sohn Gottes geboren werden und aufwachsen solle. Auch den Schluss der Legende bilden eine Reihe von Wundern, und zuletzt wird berichtet, Maria sei wie ihr Sohn nach drei Tagen auferstanden und gen Himmel gefahren. Als der mithin von seinem Unglauben immer noch nicht geheilte Thomas ihre Gruft geöffnet habe, sei dieselbe mit duftenden Rosen angefüllt gewesen.

Zwar fehlte es nicht an einzelnen Stimmen, welche gegen diesen Unfug, von den ich immerhin hier aus Rücksicht auf Ihr Zartgefühl verhältnismäßig nur sehr Weniges mitgeteilt habe, Einsprache erhoben. Allein dieselben wurden am Schlusse des vierten Jahrhunderts von der Gesamtkirche unter dem Namen der Antidikomarianiten2), d. h. derjenigen, welche der Maria die schuldige Ehrerbietung versagen, als Ketzer gebrandmarkt. Und am Anfang des fünften Jahrhunderts erledigte das Konzil von Ephesus, 431, bei Weihrauchduft und Fackelschein, die unter den Theologen jener Zeit entstandene Streitfrage, ob Maria bloß Christusmutter oder Gottesmutter zu nennen sei, im Sinne der letzteren Ansicht. Auf die Verhandlungen, welche dieser Entscheidung vorangingen, ist man versucht, ein treffendes Witzwort des seligen Dr. Luther anzuwenden. Als dieser nämlich einst gefragt wurde, was denn der liebe Gott vor Erschaffung der Welt getan habe, gab er die kurze Antwort: „er saß in einem Birkenwäldchen und schnitt Ruten für Leute, die unnütze Fragen tun.“ Im späteren Mittelalter wiederholte sich der theologische Skandal noch mehrere Male, und es erhitzte die Gemüter namentlich die Frage, ob auch Maria gleich ihrem Sohn auf übernatürliche Weise entstanden sei. Zwar wurde die heikle Frage hier zu Basel, was unserer Stadt in den Augen der Römlinge jedenfalls zu großer Ehre gereicht, von der berühmten Kirchenversammlung am 17. September 1439 dadurch entschieden, dass die Väter des Konzils die Blasphemie von Marias vollkommener Sündlosigkeit dekretierten3); allein dieser Entscheid wurde später wieder angefochten, und erst in unseren Tagen, am 8. Dezember 1854, machte der glühende Verehrer der Jungfrau Maria, Papst Pius IX., allen Zweifeln der katholischen Christenheit ein Ende, indem er die abgöttische Lehre zum ewig gültigen Glaubenssatz erhob.

Inzwischen hatte aber die kirchliche Sitte der langsam fortschreitenden theologischen Entwicklung längst vorgegriffen, Maria zur Himmelskönigin erhoben und die ihr zu Ehren eingeführten Feste immer mehr auf die gleiche Stufe mit den Gedächtnistagen der großen evangelischen Heilstatsachen gestellt. Schon zu den Zeiten der Kreuzzüge feierte die Kirche mit größtem Pomp alle Stationen des durch die Legende so sehr bereicherten Lebens, nämlich: Mariä Empfängnis, Mariä Geburt, Mariä Opferung, Mariä Verkündigung, Mariä Heimsuchung, Maria Reinigung, Mariä Schmerzen und Mariä Himmelfahrt4).

Die Unsitte, Maria um ihre Fürbitte anzurufen, wurde natürlich durch die gewaltige Aufregung, in welche die Kreuzzüge die ganze Christenheit versetzten, sehr begünstigt. Hat doch einer der edelsten Geister jener Tage, der Abt Bernhard von Clairvaux, erklärt, wer sich durch Christi hohe Majestät eingeschüchtert fühle, der solle getrost zur Jungfrau Maria beten; dann werde er sicher erhört; denn Maria nehme bei ihrem Sohne die gleiche hohepriesterliche Stellung ein, wie dieser beim Vater. Aus der Zeit der Kreuzzüge stammt auch der Gebrauch des Rosenkranzes. Nach dem bei den Mohammedanern gefundenen Vorbild der Gebetsschnüre verfertigten sich die Kreuzfahrer ähnliche, um mit deren Hilfe täglich eine gewisse Anzahl andächtiger Gebete als duftenden Rosengarten der Mutter Gottes zu weihen. Der regelrechte Rosenkranz, der noch jetzt von jedem echten Katholiken täglich zweimal absolviert wird, nämlich bei der Frühglocke und zur Vesperzeit, besteht aus 165 Perlen, fünfzehn großen für das Unservater und dazwischen jedesmal zehn, also im Ganzen 150 kleinen für das Ave Maria. Dieses bei den Katholiken weitaus populärste Gebet ist eine Erweiterung des sogenannten englischen Grußes (Luk. 1, 28) und der Worte, mit denen Elisabeth die Maria bei sich bewillkommte (Luk. 1, 42), und lautet in seiner vollständigen Form: „Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum, benedicta tu in mulieribus et benedictus fructus ventris tui Jesus Christus; Sancta Maria, Dei genitrix, ora pro nobis peccatoribus nunc et in hora mortis, Amen.“ Zu deutsch: „Sei gegrüßt, Maria, Du Holdselige, der HErr ist mit Dir; gebenedeit, d. h. gesegnet bist Du unter den Weibern und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes, Jesus Christus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unsres Todes, Amen.“

So wurde Maria durch kirchliche Lehre und kirchliche Sitte immer mehr zwischen den HErrn und seine Gemeinde hineingeschoben. Dem gemeinen Mann ward sie zur „Gnadenmutter“, zur Henne, unter deren Fittige er in aller leiblichen und geistlichen Not zutrauensvoll sich flüchtete. Zartbesaitete Romantiker und empfindsame Seelen aber weihten „der lieben Frau“. einen förmlichen Minnedienst, um nicht zu sagen Venuskult. Wilhelm Grimm, einer der beiden berühmten Erforscher der deutschen Literatur, braucht in einem seiner Werke sechzehn Druckseiten, um alle die süßen Liebesnamen und überschwänglichen Ehrentitel aufzuzählen, welche nur die deutschen Dichter ihr beilegen. Auch die Franzosen ließen es ihrer notre dame an devotester Huldigung nicht fehlen. Und wie vollends die sämtlichen bildenden Künste aller Nationen, vom früheren Mittelalter bis zur Gegenwart, diesem Marien-Kultus der katholischen Kirche Vorschub geleistet haben, das weiß Jedermann.

In den rußigen Spelunken des inneren Sizilien fand ich zwar weder Teller noch Löffel, wohl aber überall eine Madonna mit dem ewigen Licht, dem schönen Symbol immerwährender Andacht, und unsere Urkantönler bauen keine Sennhütte ohne den Talisman eines - und oft was für eines - Muttergottesbildes anzubringen. Aber schätzen denn nicht auch wir uns glücklich im Besitz der Nachbildungen von Meisterwerken, wie Rafaels Sixtina, Holbeins Madonna, Michel Angelos Pietà? Gewiss! und zwar ohne im Geringsten unser protestantisches Bewusstsein zu verleugnen; denn der Missbrauch hebt den guten Gebrauch nicht auf. So wenig wir evangelische Christen die Mutter Jesu als Himmelskönigin verherrlichen und ihr eine Verehrung zollen, welche den Heiland verkürzt in seiner einzigartigen hohepriesterlichen Würde, in seinem heiligen und wahrlich wohlerworbenen Recht, der Eine Mittler zu sein zwischen Gott und den Menschen, so wenig entziehen wir uns der Christenpflicht, welche die Überlieferung der evangelischen Geschichte uns auferlegt, die Maria zu preisen als die Gebenedeite unter den Weibern, als die Krone ihres Geschlechtes; und so laut wir gegen den vielgestaltigen Missbrauch der römischen Kirche mit unseren in Gott ruhenden Reformatoren protestieren, so laut stimmen wir ein in das Bekenntnis der Väter und Begründer unserer evangelischen Kirchen. Diese haben sich über den wahren Dienst der Heiligen zu Augsburg vor Kaiser Karl V. also ausgesprochen: „Der Heiligen soll man gedenken, auf dass wir unsern Glauben stärken, so wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren, auch wie ihnen durch Glauben geholfen ist, dazu, dass man Exempel nehme von ihren guten Werken, ein Jeder nach seinem Beruf, gleichwie Ew. Kaiserliche Majestät seliglich und göttlich dem Exempel Davids folgen mag.“ Und nicht weniger schön und richtig lautet das Bekenntnis der reformirten Kirche in der helvetischen Konfession: „Wir lieben die Heiligen als Brüder, auch ehren wir sie, doch nicht mit göttlicher Ehre, sondern mit Hochachtung und verdientem Lob. Wir folgen ihnen nach und wünschen nichts sehnlicher, als ihres Glaubens und ihrer Tugend Nachfolger zu sein, damit wir auch als Mitgenossen der ewigen Seligkeit samt ihnen bei Gott sein und uns mit ihnen in Christo freuen mögen.“

Wenn wir mit solch echt evangelischer Absicht die einzelnen aus dem Rahmen des Neuen Testamentes hervorragenden Frauengestalten näher ins Auge fassen, so fällt unser Blick allerdings in erster Linie auf Maria von Nazareth, die gewürdigt wurde, von der Kraft des Höchsten überschattet, die Mutter des allein Heiligen unter den Menschenfindern, des Sohnes Gottes, zu werden. Aber weit davon entfernt, sie vor uns hinzustellen im Heiligenschein eines unerreichbaren Ideals, an dem sich bloß die Phantasie erfreuen könnte, zeigt uns die heilige Schrift in ihr eine demütige Magd Gottes und bringt die herrlichsten wie die schwächsten Stunden ihres Lebens, nicht für die Einbildungskraft, sondern für die Willenskraft anregend und erbaulich zur Darstellung. Die Art und Weise, wie die in den Geboten und Verheißungen Israels aufgewachsene und mit denselben wohlvertraute Jungfrau die Botschaft des Engels entgegennimmt und dann mit überströmenden Lippen ihrer Verwandten, der frommen Aaronitin Elisabeth in dem schönen „Lobgesang“ (Luk. 1,46-55) mitteilt, ist ein herrlicher Beleg zu dem Worte: „Den Demütigen gibt Gott Gnade.“ Dass Maria von David abgestammt, lässt sich aus dem Neuen Testament nicht mit Sicherheit schließen; doch macht die Verschiedenheit der beiden Stammtafeln (Matth. 1 u. Luk. 3) es sehr wahrscheinlich. Jedenfalls war Joseph ein Nachkomme des israelitischen Königshauses und in Folge dieses Umstandes mussten die jungen Eheleute zur Volkszählung nach Bethlehem reisen. Dort begann Maria ihre Laufbahn als mater dolorosa, als schmerzensreiche Mutter.

Wäre sie einigermaßen bemittelt gewesen, der bethlehemitische Herbergsvater würde gewiss auch das Unmögliche möglich gemacht und ihr gegen entsprechende Bezahlung ein menschenwürdiges Unterkommen bereitet haben. Wie aber noch heute die reichen Bauern den armen Übernachter in den Stall weisen, so geschah es auch dort. Freilich sorgte Gott dafür, dass dieser ärmsten Mutter auch in ihrem armseligen Stallwinkel das Bewusstsein, das reichste Mutterglück zu besitzen, nicht verloren gehe: er sandte ihr die heimeligen Hirten, deren einfacher Bericht ihr Herz tief bewegte (Luk. 2,19), und die fremdländischen Weisen (Matth. 2), deren Huldigungen ihr die Berechtigung königlichen Mutterstolzes als inneren Gegenwert der äußeren Bettelhaftigkeit in Erinnerung rufen sollten. Freilich wurde ihr dann von Simeon bei der Darstellung Jesu geweissagt, dass sie noch lange nicht am Ende ihres dornenreichen Weges angelangt sei, und auf der mühevollen Flucht nach Ägypten hatte sie alsobald reichlich Gelegenheit, sich mit der Wahrheit jenes Wortes vertraut zu machen: „und es wird ein Schwert durch deine Seele gehen“ (Luk. 2,35). Als eine uneigentliche Märtyrerin wird uns aber Maria, nach Dr. Luthers treffendem Ausdruck, in der Geschichte vom zwölfjährigen Jesus vorgestellt; jede Mutter kann Ihnen erklären, was Alles in den kurzen Worten enthalten ist: „Mit Schmerzen habe ich dich gesucht“ (Luk. 2,48). Doch wird uns auch hier berichtet, wie Maria für diese tiefe Seelenangst wiederum entschädigt worden ist durch die für das Mutterherz doppelt hohe Befriedigung: „und Jesus nahm zu an Alter, Weisheit und Gnade bei Gott und den Menschen“ (Luk. 2,52). Gott schickt wohl Kreuze, aber er schickt immer auch einen Joseph von Arimathia, der tragen hilft.

Im Laufe der Jahre musste Maria die schmerzliche Erfahrung jeder Mutter, zumal jeder Knabenmutter machen: der Sohn entwächst ihr; und da jener Sohn noch in einem ganz andern Maßstab wuchs und sich entwickelte als andere Söhne, so musste auch Maria ungleich empfindlicher von diesem Wachstum berührt werden als gewöhnliche Mütter. Für sie galt es nicht nur, den natürlichen Konservativismus der Mutterliebe zu überwinden, die das Kind in beständiger Abhängigkeit erhalten möchte; ihr bereitete auch der weitere, bei der Mehrzahl des weiblichen Geschlechts ebenfalls noch heute bemerkbare politische und religiöse Konservativismus im Verhältnis zu dem herangereiften Sohn viele und schwere Kämpfe. Als Kind ihrer Zeit teilte sie das Vorurteil derselben in Beziehung auf die messianischen Erwartungen, und das Reich, das der Knecht Jehovas aufrichten sollte, sie konnte es sich nicht anders denken, denn als Weltreich mit äußerlichen Gebärden: gewaltigem Machtaufwand und staunenerregenden Wundern.

Dass diese nationale Befangenheit es war, welche das ganze Verhalten der Maria gegenüber von Jesu öffentlichem Wirken bestimmt hat, zeigt am Besten das durchaus gleiche Benehmen ihrer Schwester Salome. Es kann nämlich, wenn man die evangelischen Berichte (Matth. 27,56; Mark. 15,46 u. Joh. 19,25) mit einander vergleicht, keinem Zweifel mehr unterliegen, dass Salome, die Gattin des Zebedäus, die Schwester der Maria war. Im Vertrauen auf diese nahe Verwandtschaft, welche die anmutende natürliche Grundlage der Beziehungen Jesu zu den Söhnen Zebedäi und seines besonders innigen Verhältnisses zu Johannes bildete, trat Salome ungescheut mit ihrem mütterlichen Egoismus und ihren messianischen Machthoffnungen hervor und bat den HErrn (Matth. 20,20 u. 21): „Lass diese meine zwei Söhne sitzen in deinem Reich, Einen zu deiner Rechten, den Andern zu deiner Linken.“ Aber Jesus antwortete und sprach: „ihr wisst nicht, was ihr bittet“; d. h. mit andern Worten: würdet ihr die Bedeutung meiner göttlichen Mission verstehen, ihr könntet nicht solch selbstische Wünsche tun. Übrigens geht aus dem Umstand, dass Jesus sich mit seiner Antwort nicht an die Mutter, sondern direkt an die Söhne wendet, ziemlich deutlich hervor, dass Salome bei dieser Gelegenheit zu einem guten Teil auch als die „gute Mutter“ aufzufassen ist, welche sich von den Söhnen als exponierten Vorposten und rührende Bittstellerin gebrauchen lässt; eine dem selbstlosen Mutterherzen von Söhnen und Töchtern nicht selten zugemutete Rolle! Salome ist wohl auch die äußere Veranlassung gewesen, um derentwillen Jesus mit seiner Mutter von Nazareth nach Kapernaum übersiedelte (Matth. 4,13). Als Joseph, offenbar vor dem dreißigsten Lebensjahr Jesu, gestorben war, da war es für Maria das Natürlichste, den Wohnort ihrer Schwester, die an den kapernaitischen Fischer Zebedäus verheiratet war, und wohl auch das Haus dieses Letzteren zu ihrem gewöhnlichen Aufenthalt zu wählen und von Kapernaum aus den Sohn wenigstens zum Teil auf seinen Wanderungen zu begleiten.

So finden wir die Beiden miteinander als Hochzeitsgäste in dem kleinen galiläischen Flecken Kana, und bei dieser Gelegenheit eben musste auch Maria eine ernste Abweisung mütterlicher Eitelkeit und damit eine erste, aber sehr entschiedene Abfertigung mütterlicher Einmischung erfahren. Sie hatte längst und immer sehnlicher geharrt auf eine Offenbarung der Wundermacht ihres Sohnes, und ein feines, vielleicht durch Andeutungen Jesu (wie Joh. 1,51) gewecktes Ahnungsvermögen hatte ihr gesagt: jetzt ist die Stunde des ersten Zeichens gekommen. Aber anstatt nun demütig zu warten, lässt sie sich von echt weiblicher oder, wenn Sie lieber wollen, echt menschlicher Ungeduld zu der vorwitzigen Bemerkung verleiten: „es ist kein Wein mehr da“. Die Situation ist so naturwahr, dass es Einem ist, man sehe sie dem Sohn bei diesen Worten mit dem Ellenbogen einen sanften Stoß geben; und es kommt unserem natürlichen Gefühl vor, sie als seine Mutter habe sich einen solch ermutigenden, vorwärtstreibenden leisen Wink schon erlauben dürfen. Nicht so Jesus. Er erklärt es seiner Mutter gleich bei diesem ersten Anlass ein- für allemal, dass, soweit er als Gottes Sohn redend oder handelnd auftrete, sie nichts dreinzureden, ja nicht einmal dreinzuwinken habe. Bei der Hochzeit zu Kana hat der HErr der Kirche von vornherein mit einem schneidigen Wort all dem künftigen Mariendienst derselben jedwede Existenzberechtigung ohne Weiteres abgesprochen. Und es ist fast unerklärlich, wie Angesichts einer so klaren Aussage des HErrn die Kirchenlehre von einem Anteil der Maria an Jesu himmlischem Hohepriesteramte hat können aufgestellt werden. Zwar ist jenes Wort Jesu (Joh. 2,4) nicht so scharf und wegwerfend gesprochen worden, wie es die Übersetzung Luthers erscheinen lässt. Statt des harten deutschen Ausdrucks: „Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?“ sollte die Übersetzung vielmehr lauten: „was hast du mit mir, Frau? noch ist meine Stunde nicht gekommen.“ Wo es sich um die Offenbarung und Ausführung des Willens meines Vaters im Himmel handelt, da kann ich auch auf die leibliche Mutter keine Rücksicht nehmen, sondern da habe ich es einzig und allein mit ihm zu tun und nach den Vorschriften und Gesichtspunkten Seiner Weisheit mich zu richten: das wollte er ihr erklären, und sie verstand ihn wohl, sonst hätte sie sich nicht umgewandt und zu den Aufwärtern des Mahles gesprochen: „Was er euch sagen wird, das tut.“ Dieses auf den ersten Blick etwas befremdliche Benehmen der Maria ist keineswegs als Ausdruck trotziger Rechthaberei aufzufassen; vielmehr wollte Maria ihrem Sohn zeigen, sie wisse genau, wohin seine energische Rede gespielt habe, dass er nämlich damit durchaus nicht das Wunder abgelehnt, sondern nur ihre Einmischung in sein berufliches Wirken sich verbeten habe. Und dabei blieb es zwischen Mutter und Sohn; ohne dass es weiterer Erörterungen von Seite des Letzteren bedurft hätte, beschied sich Maria, und nur noch einmal kam es zu einem kleinen Konflikt.

Die betreffende Begebenheit, die uns von drei Evangelisten überliefert ist (Matth. 12,16 ff.; Mark. 3,20 u. 21 ff.; Luk. 8,19 ff.), bildet ein vollständiges Gegenstück zu der eben besprochenen. Diesmal wollte Maria ihren Sohn nicht aus mütterlicher Eitelkeit anspornen, sondern im Gegenteil aus mütterlicher Besorgnis zurückhalten. Jesus hatte, vom Volk umdrängt, in heiligem Eifer für seines Vaters Reich geredet und weiter geredet und darüber weder Zeit noch Raum zum Essen gefunden. Dies schien nun namentlich seinen ungläubigen Brüdern, den jüngeren Söhnen der Maria, welche überhaupt der ganzen Lehr- und Lebensweise des Erstgebornen keinen Geschmack abgewinnen konnten und wohl bis zu seinem Tode in ihrer offenbar etwas materiellen Gesinnung verharrten, zu weit zu gehen; sie fanden, er tue zu viel, vergesse alle Mäßigung, mit Einem Wort: er sei außer sich, und es sei die höchste Zeit ihm mit allem Nachdruck Einhalt zu tun. Begreiflicherweise wurde es den von ihrem Standpunkt aus nicht unrichtig räsonierenden5) Brüdern leicht, die ohnehin als Mutter zärtlich besorgte Maria für sich zu gewinnen. Und so lässt sie sich zum zweiten Mal beikommen, in Jesu öffentliche Wirksamkeit eingreifen zu wollen. Mitten in einer Rede wird er auf ihr Geheiß durch die Anmeldung ihres Besuches unterbrochen. Dieses Mal hatte sie ihn nicht verstohlen am Ärmel gezupft wie dort zu Kana, sondern vor einer großen Volksmenge hatte sie den Versuch gemacht, ihre mütterlichen Rechte zur Geltung zu bringen und mit ihrer mütterlichen Kummerhaftigkeit seinen Geist zu dämpfen. So konnte auch Jesus sie hier nicht kurz und privatim abfertigen, sondern er musste die zudringliche familiäre Einmischung öffentlich zurückweisen. Allein wie rücksichtsvoll und zartfühlend tut er das! Ohne den offenbar unter der Tür stehenden Angehörigen im Mindesten persönlich zu nahe zu treten, tritt er ihnen doch sachlich mit aller Entschiedenheit gegenüber. Er blamiert sie durchaus nicht, er verwahrt sich nur gegen sie, indem er mit der Frage: „Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Brüder?“ die Erklärung abgibt: an dem Platz, wo ich stehe, gibt es für mich weder eine Mutter, die mahnen oder bitten darf, noch Brüder, die Ratschläge erteilen oder Einwendungen machen können; hier kann nur der Wille meines Vaters im Himmel maßgebend sein für mich. Aber diesem ernst abweisenden Wort folgt alsbald nicht nur die freundliche Anerkennung der Jünger: „Siehe, das ist meine Mutter und meine Brüder“, sondern auch ein die Mutter jetzt schon in sich fassendes, die Brüder wenigstens freundlich einladendes Schlusswort: „wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder, Schwester und Mutter.“

So erfüllte Jesus, dessen Speise es war, d. h. dem es Lebensbedürfnis war, den Willen Gottes zu tun, das Gesetz Moses, wo es heißt (5 Mos. 33,9): „Wer zu seinem Vater und zu seiner Mutter spricht: ich sehe ihn nicht; und zu seinem Bruder: ich kenne ihn nicht; und zu seinem Sohne: ich weiß nicht, - die halten Gottes Gebot und bewahren seinen Bund.“ Indessen gab er seiner Gemeinde im Verhalten zu seiner Mutter durchaus nicht nur ein Vorbild, wie man die zartesten Bande des Fleisches um Gottes willen müsse verleugnen können, sondern sterbend hinterließ er uns noch ein herrliches Beispiel umfassendster und zartfühlendster Erfüllung des fünften Gebotes. Mit wahrem Heldenmut war seine Mutter bis auf Golgatha ihm nachgefolgt. „Da nun Jesus seine Mutter sah und den Jünger dabeistehen, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Weib, siehe, das ist dein Sohn. Danach spricht er zu dem Jünger: siehe, das ist deine Mutter.“ Und Johannes bewies, dass er seinen Meister verstand auch ohne viele Worte; er spürte: nicht sowohl für die Zukunft seiner Mutter will Jesus hier sorgen; er will mich vielmehr auffordern, ihrem so schwerverwundeten Mutterherzen den qualvollsten Anblick des letzten Kampfes zu ersparen. Darum führte er Maria sofort von der Richtstätte weg (Joh. 19,26 u. 27). Bei Johannes, im Kreis der treuesten Jünger ihres Sohnes, beschloss Maria nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte (1,14) ihre Tage, und die Künstler haben gewiss Recht, wenn sie bei den Darstellungen der Ausgießung des Heiligen Geistes die Mutter des Heilandes mit den Aposteln des großen „Trösters“ (Joh. 15,26) lassen teilhaftig werden.

Während diese dem Heiland äußerlich am nächsten stehende Maria von Nazareth in der aufs äußerliche besonderen Nachdruck legenden katholischen Kirche, wie wir oben gesehen haben, immer mehr zu teilweise sehr unverdienten und jedenfalls ihrem eigenen Sinn durchaus widerwärtigen Ehren gekommen ist, hat die evangelische Kirche, entsprechend ihrer Betonung der innerlichen Stellung zum HErrn, von jeher eine andere Maria mit einer gewissen Vorliebe ans Licht gezogen, und es pflegt namentlich die württembergische Kirche beim alljährlichen Reformationsfest die Lichtgestalt der Maria von Bethanien auf den Leuchter zu stellen. Dabei kommt dann freilich die geschäftige Martha als das Urbild der werkheiligen katholischen Kirche jeweilen noch viel schlechter weg als in dem Bericht des Evangeliums: Luk. 10,38-42.

Dieser führt uns in eine dem HErrn besonders innig befreundete Familie von Bethanien, dem stillen Weiler vor den Toren von Jerusalem, wohin sich Jesus gern am Abend zurückzog, nachdem er den Tag über in dem geräuschvollen Leben der Stadt seines Amtes gewartet hatte. Er fand dort in dem gastlichen Hause eines Mannes, Namens Simon, welcher früher einmal den Aussatz gehabt hatte und deshalb unter dem Namen Simon der Aussätzige bekannt war, drei Geschwister, welche, jedes in seiner Weise, bemüht waren, ihm nach des Tages Last und Hitze freundliche Aufnahme zu bereiten: Martha, die Frau, vielleicht auch die Witwe Simons, Maria und Lazarus. Die hausmütterliche Martha, voll Freude, dieses Gastes Wirtin sein zu dürfen, lief hin und her und machte sich bald da, bald dort zu schaffen, damit der teuerwerte Gast ja nichts entbehre. Auch sie hätte eigentlich lieber als Jesu Schülerin zu seinen Füßen sich gesetzt, ließ sich aber diesen richtigen Trieb des Geistes verderben durch das Schicklichkeitsgefühl, durch die noch heute gang und gäbe Anstandsregel, die Hausfrau müsse dem Gast den hohen Grad ihrer Wertschätzung dadurch beweisen, dass sie Allem aufbiete, ihn möglichst bequem zu logieren und möglichst reichlich zu traktieren. Und dabei quälte sie nur das Eine, dass ihre Schwester nicht auch treppauf, treppab sprang, sondern ruhig und äußerlich untätig bei Jesu saß und ihm zuhörte. Ihre Aufforderung, die Schwester solle auch Hand anlegen, ging durchaus nicht nur aus dem Gedanken hervor: ich muss allein dienen, sondern ebensowohl aus der zwar etwas eifersüchtigen, im Grunde aber für ihr geistiges Bedürfnis ehrenvollen Erwägung: Maria hat von unserem Freund viel mehr wie ich. Deswegen ist auch Jesu Gegenrede durchaus nicht als herber Tadel, sondern als freundliche Zurechtweisung aufzufassen: Du meinst, ich sei hierher gekommen, um der Ruhe zu pflegen und sorgst und mühst dich, um mir zu dienen. Maria kennt mein Wesen besser, indem sie von mir sich dienen lässt; denn mir gewährt ein aufmerksames und williges Herz weit mehr Befriedigung als die herrlichste Aufwartung. Und auch auf deinen eigenen Vorteil verstehst du dich nicht; deine Genugtuung, mich sattsam gespeist, getränkt und beherbergt zu haben, ist eine sehr vorübergehende; deiner Schwester aber kann das, was sie derweil von mir empfangen hat, Herzensfreude und Seelenfrieden, nie entrissen werden6).

Übrigens bilden die weiteren Züge, welche das Evangelium aus dem Leben der Maria von Bethanien überliefert, ein heilsames Gegengewicht gegen die irrige Meinung, als ob untätige Beschaulichkeit, Quietismus7), wie es die Kirchengeschichte heißt, der gepriesene Mariensinn wäre. Als der geliebte Bruder gestorben war, da bewies gerade sie, die geduldig daheim sitzen blieb und Jesu Ankunft erwartete, dass sie seine Worte nicht nur passiv gehört, sondern aktiv verarbeitet hatte (Joh. 11). Und als sie ahnte, dass des Meisters Verweilen hienieden von keiner langen Dauer mehr sein könne, da säumte sie nicht, ihm mit Aufbietung aller ihr zu Gebote stehenden Mittel den von ihm so laut gepriesenen letzten Liebesdienst zu erweisen. Von ihr, nicht von der regsamen Martha, steht das schöne Ehrenzeugnis geschrieben: „sie hat getan, was sie konnte“ (Mark. 14,3 ff.; Matth. 26,6 ff.; Joh. 12,1 ff.).

Eine ähnliche Anerkennung wie diese ward einer andern, uns dem Namen nach unbekannten Frau aus Jesu Munde zu Teil: der Witwe am Gotteskasten. Auch bei dieser Gelegenheit zeigte es sich, dass der Sohn mit dem gleichen Maß richtete wie der Vater: ohne Ansehen der Person, d. h., ohne vom äußeren Schein sich blenden zu lassen. Die Reichen gaben wohl viel, Etliche Gold, Etliche Silber, aber ihrer Keiner gab so viel er geben konnte. Ein armes Weib aus dem Volk, eine Witwe, der es an besten Ausreden nicht gefehlt hätte, übertraf sie Ale: sie allein opferte ohne Bedenklichkeit Alles, was sie hatte, ihren ganzen Lebensunterhalt (Mark. 12,42 f.; Luk. 21,2 ff.).

Und wie Jesus hier die arme Frau über die Reichsten in Israel hinaushob, so hat er andererseits der bußfertigen Sünderin weitaus den Vorzug gegeben vor den unbußfertigen „Gerechten“. Ja, er liebte es sogar, solche Kontraste wirkungsvoll hervortreten zu lassen, freilich nicht, um ein für das bloße Gefühl oder gar für die Sentimentalität effektvolles Bild herzustellen, sondern um eine für sein Reich fruchtbare Erschütterung von Vorurteilen und Einbildungen hervorzubringen. Diese heilsame Absicht Jesu trat deutlich zu Tage bei jenem Gastmahl im Hause des Pharisäers, wo er die tiefgefallene Sünderin so hoch begnadigte. „Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt; welchem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig,“ mit diesen Worten nahm Jesus das Weib, das gekommen war, nicht achtend des Hohnes und Spottes, ihm Dank und Ehre zu erweisen, gegenüber den verächtlichen Mienen der Gäste aufs Anerkennendste und so ausdrücklich in Schutz, dass den Pharisäern alle Lust zu weiteren Angriffen verging. Um Jesu Rede zu verstehen, müssen wir uns Vergangenheit und Gegenwart jener Person genau vergegenwärtigen. Wie kam sie, die stadtbekannte, groben Lastern anheimgefallene Sünderin dazu, dem Heiligen und Gerechten sich zu nähern? Sie war wohl einmal oder öfter schon unter der Menge Volkes gewesen, die überall um den Propheten aus Nazareth sich drängte. Da hatte Jesu Ruf zur Buße ihr Ohr erreicht und ihr Herz um so tiefer bewegt, weil seine Predigt mit ihrem warmen Herzton viel gewaltiger wirkte als die vielleicht formell durchaus untadeligen, trockenen Moralreden der Schriftgelehrten und Pharisäer. Zum ersten Mal lernte sie einen Freund der Sünder kennen und mit dem Glauben, dass er dies sei, hatte sie auch schon jenes unbedingte Vertrauen zu ihm gefasst, das aller wahren Liebe zu ihm Grund und Ursache sein muss. Allein mit alledem hätte sie ungetröstet bleiben können; denn zwischen dem HErrn, von dem sie das lösende, beseligende Wort der Vergebung empfangen konnte, und ihrem Herzen türmten sich noch Berge auf, und gerade als Jesus in der vornehmen Gesellschaft in des Pharisäers Hause saß, war er ihr scheinbar am fernsten. Wie groß musste ihr Vertrauen zu ihm sein, dass sie die bei ihr so begründete Scheu vor dem Urteil der Menschen niederzukämpfen, allen Bedenken zum Trotz gerade dort ihn aufzusuchen und ihm eine so augenfällige Huldigung darzubringen vermochte. Ja, der HErr hat: Recht: sie hat viel geliebt, und allein solch große Liebe, solch glorreicher Sieg über Fleisch und Blut, solcher in der Liebe tätige Glaube verdient die Krone der Vergebung. Diesen Preis dürfen die nicht erwarten, die sich kleinmütig mit ihrem bisschen Glauben in ihre vier Wände verkriechen und nicht auch der göttlichen Liebe gegenüber aufs Geratewohl den Schritt wagen, den sie zu einem geliebten Menschen zu tun im Stande sind, den entscheidenden Schritt vollständiger Hingabe. Warum so Viele es nicht über sich bringen, diesen entscheidenden Schritt zu Jesu zu tun, und warum eben deshalb so Viele von den Seligkeiten des Reiches Gottes fern bleiben, das zeigt Jesus dem selbstgerechten Pharisäer deutlich mit den paar Worten: „Wem wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ Dieselben ergänzen zugleich in bezeichnender Weise das Lob des Weibes zu seinen Füßen. Nicht um des schwärmerischen Liebesdienstes willen, sondern wegen der Gesinnung, die sie dazu getrieben, wird die große Sünderin selig gepriesen. Weil sie arm war im Geist, weil sie Leid trug und weil sie hungerte und dürstete nach der Gerechtigkeit, darum ward ihr das Himmelreich erschlossen.

Viel Ähnlichkeit mit der großen Sünderin hat Maria von Magdala, und es wäre möglich, dass eben sie, die vom Heiland nicht nur für das Reich Gottes bekehrt, sondern auch auf die wunderbarste Weise von schrecklichen Körper- und Seelenzuständen geheilt worden war, es gewesen ist, welche ihrer überströmenden Dankbarkeit durch jene Fußwaschung Ausdruck verliehen hat. In Folge alter Tradition ist es sogar zur allgemeinen Ansicht geworden, dass Maria von Magdala und die große Sünderin eine und dieselbe Person seien. Ja diese Annahme hat sich durch Kunst und Sprachgebrauch so fest eingewurzelt, dass man für Mädchen, welche mit der großen Sünderin zusammengestellt werden können und auf den Buß- und Glaubensweg derselben gebracht werden sollen, Rettungshäuser errichtet hat unter dem Namen von Magdalenenstiften. Ich selbst war höchlich erstaunt, bei näherem Zusehen die Entdeckung zu machen, dass im Neuen Testament nicht der mindeste Anhaltspunkt dafür zu finden sei. Von der Magdalena ist außer der allgemeinen Bemerkung, dass und warum sie eine begeisterte Jüngerin des HErrn geworden und ihm als solche nachgefolgt sei, im Evangelium bloß jenes liebliche Erlebnis am Ostermorgen überliefert. Als echter Typus eines leicht erregbaren weiblichen Temperamentes ist Maria nach der Erkennung des Auferstandenen ebenso himmelhoch jauchzend, als sie vorher in ihrem dumpfen Schmerz an dem selbstquälerisch noch vor Tagesanbruch aufgesuchten Grab zum Tode betrübt war. Insofern kann dem Bild, welches der in seinen Empfindungen selbst so maßlose Böcklin von ihr entworfen hat, eine gewisse Naturwahrheit nicht abgesprochen werden. Den Jüngern aber, welche sie früher schon gekannt hatten, musste der Gedanke an einen durch Leiden und Tod des geliebten Meisters verursachten Rückfall in ihr altes, offenbar hochgradig nervöses Leiden sehr nahe liegen, und es ist ihnen nicht zu verargen, dass sie dem exaltierten Weib die Botschaft von der Auferstehung Jesu zuerst nicht glauben wollten (Mark. 16,11).

Lehrreiche Beiträge zur Kenntnis der weiblichen Natur und ihrer besondern Anlagen und Bedürfnisse geben uns auch die beiden Erzählungen von Jesu Zusammentreffen mit der Samariterin und mit dem phönizischen Weib. Die Samariterin wird nicht auf dem Wege des verstandesmäßigen Räsonnements8), sondern durch den Einen Schuss ins Schwarze ihres Gewissens zu der Überzeugung gebracht, dass Jesus der Messias sei, und kaum hat sie ihn gefunden und die große Offenbarung von ihm empfangen, so treibt ihr liebendes Herz sie schon nach Sichem zurück, damit die für das verachtete Samaritervolk doppelt gnadenreiche Botschaft sofort auch Andere beglücke. Für Jesum aber war der rasche Erfolg, den er bei diesem Weib errungen, eine solche Herzensfreude, dass er sich vollkommen gesättigt fühlte (Joh. 4). Auch das Erlebnis mit der kanaanäischen Mutter, die sich durch keine theoretische Auseinandersetzung und durch kein praktisch ausweichendes Stilschweigen von ihm abweisen ließ, bewegte den HErrn tief. Nicht ihrer Zudringlichkeit und Schlagfertigkeit, sondern der Mutterliebe, welche das heidnische Weiblein so zäh und kühn gemacht, gab er sich gefangen (Matth. 15).

Es darf überhaupt mit Fug und Recht einen erhebenden Eindruck auf Sie machen, dass an den so mannigfaltigen und schweren Leiden des Heilandes keine Frau auch nur die mindeste Schuld getragen hat. Der alttestamentliche Elias bekam die tödliche Feindschaft einer Isebel zu fühlen, und der neutestamentliche Elias musste der grimmigen Rache einer entmenschten Herodias und der frivolen Üppigkeit ihres Töchterleins zum Opfer fallen; Jesus hatte keine Feindin. Die Evangelisten durften bei der Zeichnung der in seinem Leben auftretenden Frauengestalten ihren Pinsel durchgängig in harmonische Farben tauchen. Zwar den vom Dichter für die Frauen in Anspruch genommenen Ruhm, himmlische Rosen ins irdische Leben zu bringen, erkennt das Evangelium ausschließlich dem HErrn selbst zu. Aber es verhehlt nicht, dass Jesus auf seinem dornenvollen Lebensweg immer wieder von weiblicher Hingebung und Treue Erquickung empfangen habe. Freilich war solch dienstfertige Handreichung in der Regel nur der Ausdruck des Dankes für empfangene leibliche oder geistliche Wohltat. Wenn wir bedenken, wie Jesus sich überall der Frauen und ihrer speziellen Körper- und Seelenleiden angenommen und sogar der mit formalem Recht verfolgten Schuld seinen Schutz gewährt hat, so verwundern wir uns nicht darüber, dass ihn noch auf seinem letzten Gang die Töchter von Jerusalem mit lautem Wehklagen begleitet haben (Luk. 23,27).

Auch wo in den Gleichnissen Jesu Frauen vorkommen, sind es in der Regel vorbildliche Gestalten, z. B. die sparsame Hausfrau, die um des Einen Groschens willen, den sie verloren hat, im ganzen Hause das Unterste zu Oberst kehrt (Luk. 15,8.9). Doch zeigt uns gerade auch wieder ein Gleichnis, wie weit der HErr von allem Frauendienst und von aller Schönrednerei gegenüber den Frauen entfernt war, ich meine das Gleichnis von den zehn Jungfrauen, von denen eben nur Fünfe klug gewesen sind (Matth. 25,1-10).

1)
Auch unser Münster besitzt in seiner Krypta einen ganzen Zyklus von Deckengemälden aus dem XIV. Jahrhundert, welche diese sagenhafte Lebensgeschichte der Maria darstellen. Da diese kunstgeschichtlich ziemlich wertvollen Bilder in Folge der in der Krypta befindlichen Heizeinrichtungen fortwährend Schaden leiden und allmählig zu Grunde gehen, so hat die historische und antiquarische Gesellschaft, was davon noch vorhanden ist, vor einigen Jahren sorgfältig kopieren lassen und mit einem lehrreichen Aufsatz von Herrn Dr. August Bernoulli veröffentlicht. (Mitteilungen der historischen und antiquarischen Gesellschaft. Neue Folge I. Basel 1878.).
2)
arab. Sekte, welche gegen Ende des 4. Jahrhunderts gleich früheren Vorgängern, Helvidius, Eudoxius, Eunomius, Bonosus, die beständige Jungfrauschaft Marias leugneten und behaupteten, sie habe dem Joseph mehrere Kinder geboren.
3)
(eine/die) Anweisung geben, anordnen, erlassen, verhängen, vorschreiben
4)
In der lutherischen Kirche werden nach Anordnung des großen Reformators, wenigstens an manchen Orten diejenigen drei Marienfeste gefeiert, welche auf biblischer Grundlage beruhen: Mariä Verkündigung, Mariä Heimsuchung (Besuch bei Elisabeth) und Mariä Reinigung. In der viel nüchterneren reformirten Kirche dagegen erhielt sich bloß die kirchliche Feier der Verkündigung von Jesu Geburt, deren Anzeige ich selbst als Kind noch auf dem hiesigen Kirchenzeddel gelesen habe.
5)
vernünftig reden, Schlüsse ziehen
6)
Als ein Beispiel der trostlosen Schrifterklärung des Rationalismus mag hier beiläufig erwähnt werden, dass von einem berühmten Professor der Theologie das große Wort: „Eins ist Not“, dahin ausgelegt wurde: Ein Gericht (zu baseldeutsch: Eine Platte) genüge vollkommen! Freilich liegt auch in dieser hausbackenen Verflachung des Bibelwortes noch eine beherzigenswerte Lehre.
7)
(im Katholizismus des 17. Jahrhunderts) durch eine verinnerlichte, weltabgewandte Frömmigkeit gekennzeichnete mystische Strömung
8)
Beweisführung, Argumentation
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