Riggenbach, Bernhard - Frauengestalten aus der Geschichte des Reiches Gottes - VII. Die Arbeiterinnen der inneren Mission.

Riggenbach, Bernhard - Frauengestalten aus der Geschichte des Reiches Gottes - VII. Die Arbeiterinnen der inneren Mission.

„Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist; ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt; ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich beherbergt; ich bin nackend gewesen, und ihr habt mich bekleidet; ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht; ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen“ (Matth. 25, 35 und 36). An dieses Wort des HErrn werden wir erinnert, wenn wir die reiche Fülle von Lebensäußerungen des christlichen Geistes überblicken, welchen der selige Wichern vor nun bald 35 Jahren den Namen der „inneren Mission“ gegeben hat. Und es ist unzweifelhaft, dass Alles, was wir unter der einen Bezeichnung „innere Mission“ zusammenfassen, sich jenes Heilandswort aneignen und sich der großen Verheißung freuen darf, der HErr betrachte jedes Wert der erbarmenden Liebe als einen ihm selbst erwiesenen Dienst. Doch wäre es nicht richtig, wenn die angeführte Rede Christi in dem Sinne als eigentlicher Missionsbefehl für die innere Mission aufgefasst würde, wie das Wort: „geht hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur“ (Mark. 16,15) als Missionsbefehl für die äußere Mission gelten muss, denn einerseits beschränkt sich die innere Mission keineswegs auf die dort von Jesu bezeichneten Zweige der Liebestätigkeit und andererseits verfolgt sie einen dort vom Heiland nicht angegebenen speziellen Zweck. Dieser Letztere ist es, der ihr den Namen gegeben hat. Wie nämlich die äußere Mission unter Juden und Heiden ein Neues pflügen und die Grenzen des Reiches Christi erweitern will, so geht die innere Mission darauf aus, innerhalb dieser Grenzen erkaltetes, erloschenes, entartetes, verblasstes Christentum nach dem Urbild der Person Jesu Christi und seiner Apostel neu zu beleben. Im Unterschied zu der pflegenden Tätigkeit des amtlichen Gemeindedienstes mit seiner Predigt und Seelsorge hat die innere Mission mit ihren Impulsen und Operationen da einzusetzen, wo und soweit das natürliche Heidentum, sei es für sich oder im Bund mit kirchlich-pharisäischem Judentum, das christliche Leben in einzelnen Gemeindegliedern oder in Zuständen der Christenheit ertötet hat. In diesem Sinne haben wir die Heiligen des Mittelalters, die Reformatoren und die Väter des Pietismus als gewaltige Arbeiter der inneren Mission zu betrachten. Und diese Alle haben es wahrlich nicht daran fehlen lassen, neben Glaubensreinigung auch eine Erneuerung der ersten Liebe zu fordern und selbst zu üben! Man darf nur an eine heilige Elisabeth von Thüringen, an das Waisenhaus von August Hermann Francke oder an jene schöne Stelle unserer Basler Reformationsordnung von 1529 denken: „deshalb wir fürohin mit Gottes hilff kein bilder uffrichten lassen, aber ernstlich nachgedenkens haben werden, wie wir die armen dörfftigen, so die ware und lebendige bilder Gottes seind, tröstlich versehen mögen.“

Es ist aber nicht zu leugnen, dass jene aus dem eigenen Prinzip heraus sich vollziehende Neubelebung des Christentums sich nach der Richtung der Liebestätigkeit in unserm Jahrhundert ungleich intensiver und extensiver als irgend früher entwickelt hat. Und in dieser Beziehung haben wir keinen Grund unsere Zeit anzuklagen. Es fließt durch unsere Tage durchaus nicht nur ein breiter, reißender und zerstörender Strom des Unglaubens und der materiellen Selbstsucht, sondern auch eine herrliche, befruchtende und reichgesegnete Gegenströmung des Glaubens, der in der Liebe tätig ist, Angesichts welcher wir nur über unsere eigene Sünde und Trägheit murren können und murren sollten.

Im achtzehnten Jahrhundert hatte der Rationalismus geherrscht, welcher aber keineswegs mit der heutigen, revolutionären Freisinnigkeit darf zusammengeworfen werden. Der alte Rationalismus hielt fest an den drei großen Wahrheiten: Gott, Tugend und Unsterblichkeit, verlangte aber von dem einzelnen Menschen nicht eben viel. Wenn wir das Leben und Streben unserer Ahnen vor 100 und mehr Jahren näher betrachten, so finden wir im Großen und Ganzen jene gemütliche Ehrbarkeit und selbstzufriedene Behaglichkeit, jenes im Genießen maßvolle, aber auch in seinen sittlichen Forderungen genügsame Spießbürgertum, das Voß in seiner Luise, Goethe in Hermann und Dorothea zur allgemeinen Anschauung gebracht haben. Dieses patriarchalische Brachfeld wurde aber durch die Stürme der französischen Revolution und der napoleonischen Kriege gewaltig durchfurcht. Und nun erwachte in Kraft des wieder gepredigten göttlichen Wortes in immer weiteren Kreisen der christliche Glaube und mit ihm lebendige Liebe. Die Männer, die bei diesem Erwachen der Christenheit aus langem Schlaf als Werkzeuge Gottes mitgewirkt haben, kennt Jedermann, sie nur aufzuzählen würde uns hier zu weit führen. Weniger bekannt dagegen ist eine Frau, die damals auf dem großen Welttheater und zwar gerade in diesem Akt religiöser Erweckung eine bedeutende Rolle gespielt und die überdies auch eine Weile hier in Basel die Gemüter in Spannung gehalten hat. Es ist dies die Baronin von Krüdener; Barbara Juliana von Wietinghoff, geb. zu Riga den 21. November 1764, hatte als schöne und reiche Erbin eine nur aufs Äußere gerichtete Erziehung erhalten und lernte früh schon in Paris die frivole Herabwürdigung des aus Gott stammenden Geistes zum bloßen witzelnden Esprit. Doch regte sich ihr Gewissen immer wieder aufs heftigste, und als sie einmal nach durchtanzter Nacht ohne Gebet eingeschlafen war, konnte sie sich darüber lange nicht beruhigen. Gegen ihre Neigung wurde sie als 18jährige Tochter mit dem bereits zweimal geschiedenen russischen Diplomaten, Baron von Krüdener, vermählt, lebte aber nur kurze Zeit mit ihm zusammen und führte dann während einer Reihe von Jahren ein unstetes und auch ziemlich unschönes Leben. Als ihr Gatte starb, kehrte sie in die Ostseeprovinzen zurück, doch nur um sich dort aufs Neue in einen Strudel weltlicher Lust zu stürzen. Erst als mitten in einem prunkenden Fest einer ihrer Anbeter, vom plötzlichen Tod erreicht, vor ihren Augen zu Boden sank, fand sie, um mich ihres eigenen Ausdrucks zu bedienen, „Buße zu Gott“; und bald darauf durch die Verbindung mit herrnhutischen Christen auch jene glühende „Liebe zu Jesus“, welche fortan der Herzschlag ihres ganzen Lebens und Treibens war. Zunächst verkündigte sie mit dem gewöhnlichen, in der Regel vorzeitigen und eben darum sehr bald erlahmenden Eifer der Neubekehrten ihrer Umgebung den Heiland der Sünder durch Wort und Tat. Doch hatte sie keine Ruhe im engern Kreis, sondern wir finden bei ihr bereits die moderne Wanderlust in ausgesprochenster Weise. War sie vor ihrer Bekehrung der Schöngeistern und den Genüssen nach gereist, so zog sie jetzt, völlig nach der Art neuester Reiseprediger, durch halb Europa, um zu werben, aber nicht für eine Kirche oder Sekte, sondern für eine interkonfessionelle Liebe zu Jesus, der uns zuerst geliebt, und zu den Brüdern, die er uns in reiner, selbstloser Weise lieben gelehrt. Ihre mystische Glaubensrichtung fand im Verkehr mit dem Propheten des himmlischen Heimwehs, dem edlen Jung-Stilling, reichliche Nahrung. Bei ihm und bei dem Heiligen der protestantischen Kirche, bei Oberlin, der durch sein praktisches Christentum das Steinthal aus einer Wüste in einen Garten verwandelt hatte, wurde die Krüdener in ihrer Hingebung an die Ärmsten nur bestärkt. Und so finden wir sie denn in den letzten zehn Jahren ihres Lebens als eine selbstlose Dienerin Jesu unter Hoch und Niedrig. Den Armen, Kranken und Gefangenen spendet sie mit beredtem Mund und (was wohl noch wirksamer war) mit offener Hand den Trost des Evangeliums, den Weisen dieser Welt öffnet sie die Augen über die tiefsten Geheimnisse der göttlichen Liebe, den Königen der Welt sagt sie, dass Alles nichts sei ohne den König der Könige. Verspottet, verleumdet, verfolgt, wird sie von der Polizei wie ein Wild von einem Land ins andere gehegt, aber dennoch nicht müde, mitten in der „Wüste der Zivilisation“, wie sie ihre Zeit nannte, Buße zu predigen, Heil zu verkündigen den Gläubigen und das Wehe zu rufen über die Ungläubigen. Von dem Allem nur einige Beispiele!

Als Kaiser Alexander I. von Russland auf dem Zug nach Frankreich 1815 nach Heilbronn kam, wusste sich die Baronin, die ja sein Landeskind war, Zutritt zu ihm zu verschaffen. Die Unterredung, welche sie mit ihm hatte, machte auf den durch die großen Ereignisse jener Tage ohnehin in gehobene Stimmung versetzten Monarchen einen so tiefen Eindruck, dass er die Krüdener aufforderte, ihn zu begleiten. Und als sie dann in Paris in ihrem zum Betsaal eingerichteten Salon Erbauungsstunden eröffnete, war er mit der Bibel in der Hand ihr täglicher Gast. In den Besprechungen, die er damals mit ihr als der Beraterin seines Gewissens hielt, reifte der Entschluss in ihm, die Fürsten Europas zu einem Bund aufzufordern, mit dem Zweck, sie wollten als eine große christliche Familie, abgesehen vom Zwiespalt der Kirchen, das Gesetz des Christentums zum höchsten Gesetz des Völkerlebens machen. Die Krüdener war es, die diesem immerhin großartigen Projekt den Namen „der heiligen Allianz“ beilegte. Unter ihrem Einfluss entstand auch der Aufruf dazu, der mit solchem Feuer die Heiligung der Welt und Politik verlangte, dass alle Welt zur Begeisterung fortgerissen wurde. Außer dem römischen Papst und dem türkischen Sultan, welche in der europäischen Politik jeweilen Arm in Arm gehen, lehnte nur als würdiger Dritter außer des Bundes, Georg, das berühmte Scheusal von England, den Beitritt ab. Im Verlauf ihrer geschichtlichen Erscheinung erwies sich „die heilige Allianz“ als eine nicht durchführbare Utopie. Betrachten wir sie dagegen als Theorie, so können wir Goethe begreifen, der in den Gesprächen mit Eckermann erklärte, es sei nie etwas Größeres und für die Menschheit Wohltätigeres erfunden worden. Jedenfalls dürfen wir dem Manifest eines heiligen Gottesfriedens der Fürsten und Völker, wie es Alexander, inspiriert von der Krüdener, erließ, den Wert der ewigen Wahrheit und Weissagung nicht absprechen. Und in diesem Sinn ist die „heilige Allianz“ ein Ehrendenkmal für die Baronin. Übrigens teilte diese bei aller Begeisterung für Alexander, den sie im Gegensatz zu dem schwarzen Antichristen Napoleon den weißen Friedensengel nannte, dennoch ihres Kaisers hochfliegende Hoffnungen nicht, sondern wies immer wieder auf eine bevorstehende Läuterung durch ernste Gerichte hin.

Als Alexander nach Russland zurückkehrte, begleitete sie ihn nicht, sondern wandte sich nach Basel, wo ihre Versammlungen großes Aufsehen erregten. Da, wohin die Damen heutigen Tages aus ganz anderen Beweggründen wallfahrten, im wilden Mann1), lauschte zu Anfang des Jahres 1817 eine große Menge von Leuten aus der sogenannten besseren Gesellschaft den Worten der frommen Baronin wie einem Orakel. Spittler gründete mit ihr die hiesige Traktatgesellschaft. Doch geht die Lebensbeschreibung, die wir von Planter besitzen, leider nur bis 1812, so dass wir nichts Näheres über die Beziehungen der beiden seltenen Menschen erfahren. Ein anderer hervorragender Mann des damaligen Basel, der Professor Lachenal, der Zeitlebens eine Vorliebe für erleuchtete Damen hatte und später auch die Versammlungen einer Miss Blackwell begünstigte, gab damals um der Krüdener willen seinem Lehrstuhl der Philosophie, seiner Bücherweisheit, seinen Familienverbindungen den Abschied, um als ihr ständiger Begleiter an den Bestrebungen der Baronin Teil zu nehmen. Dagegen trat auf der Kanzel zu St. Theodor der Hauptpfarrer Johann Jakob Fäsch als Verkündiger der gesunden Gotteslehre mit dem ihm eigenen Pathos, „im Namen Jehovahs“ dem überspannten Frauenzimmer energisch entgegen, und der hiesige Vorkämpfer des politischen und kirchlichen Liberalismus, der bekannte Staatsrat Ochs, säuberte die Stadt von diesem „ausländischen Gewächs“ durch polizeiliche Ausweisung. Freilich war wenig damit geholfen; denn die Baronin schlug ihr Zelt unmittelbar vor den Toren Basels im „Grenzacher Hörnlein“ auf. Auch dieser Ort, der jetzt nur zu materiellem Genuss aufgesucht wird, wurde durch ihre Anwesenheit zu einem Sammelplatz strebsamer Geister. Doch kamen auch andere Gäste in großen Scharen. Es war damals teure Zeit, ja eigentliche Hungersnot. Und da zeigte denn die Krüdener, dass Selbstverleugnung bei ihr nicht Phrase, sondern Tat und Wahrheit sei. Die überspannte Ausländerin opferte mehr für die Armen der Gegend als alle die aufgeklärten geistlichen und weltlichen Herren der Stadt Basel miteinander. Tag und Nacht war sie tätig; ihr Vermögen, ihre letzten Juwelen, ihre Gesundheit opferte sie mit Freuden. Als ein Engel der Rettung und ein Bote des Friedens wurde sie verehrt, und das ernste oder milde Wort, das sie der leiblichen Gabe beifügte, fand guten Eingang. Tausende hat sie vor leiblichem, Hunderte vor geistlichem Hungertod bewahrt. Ihrer unermüdlichen Liebestätigkeit und Liebespredigt fielen die rohesten Herzen zu, ihre Sanftmut, ihre Demut, ihre Anmut machten selbst auf die Häscher, von denen sie überall verfolgt wurde, den tiefsten Eindruck. Kein Wunder, dass sie sich selbst für eine Prophetin hielt und ihren Absonderlichkeiten großen Wert beilegte. Sie verwarf alle bestehenden Konfessionen, dagegen verlangte sie von ihren Anhängern doch auch wieder äußerliche Erkennungszeichen: das Gebet sollte nur kniend verrichtet, unter Christen nur der schöne, noch heute unter katholischen Priestern übliche Gruß ausgewechselt werden, wobei auf die Anrede: „Gelobt sei Jesus Christus“, geantwortet wird: „in Ewigkeit, Amen“. Vor den Kreuzen am Weg sollte man niederknien. Doch darf man wahrlich zu einem so großartigen Wirken, wie es Juliane von Krüdener entfaltet hat, solche Kleinigkeiten stillschweigend in den Kauf nehmen, um so mehr, als die Verschiedenartigsten ihrer Zeitgenossen, ein Kaiser Alexander, ein Pestalozzi, ein Spittler, ein David Spleiß darüber wegsahen. Übrigens wurde sie nicht wegen dieser Schrullen oder wegen ihrer schwärmerischen Lehren, sondern wegen des Zuströmens der Armen an keinem Ort lang geduldet. Die argwöhnische Polizei der metternichschen Reaktion fürchtete, die großartige Wohltätigkeit dieser Frau könnte sozialistischen Umsturztheorien Vorschub leisten. So wurde sie 1818, von einer Grenze zur anderen durch Gendarmen begleitet, buchstäblich auf dem Schub in ihre Heimat befördert. Dort begnügte sie sich in der Tat eine Zeitlang damit, in der Stille auf einen kleinen Kreis einzuwirken. Als dann aber Griechenlands Erhebung erfolgte; da konnte sie nicht länger an sich halten. Als Prophetin wollte sie abermals ihren „gotterkornen“ Kaiser Alexander zu großen Taten entflammen, indem sie bei den Diplomaten Russlands laut über die Untätigkeit dessen klagte, dem die Vorsehung die Befreiung Griechenlands, diese, wie sie meinte, wichtigste Angelegenheit des Reiches Gottes, in die Hände gelegt habe. Allein der Kaiser hatte nicht wie seine ehemalige Freundin das Feuer jugendlicher Begeisterung bis ins Alter bewahrt, sondern war ein fügsames Werkzeug der reaktionären Politik des österreichischen Reichskanzlers geworden. In einem freundlichen, aber entschiedenen, eigenhändigen Brief hieß er die Baronin schweigen und gehen. Sie schwieg und ging, doch knickte diese Enttäuschung ihre letzte Kraft. Ai Weihnachtstag des Jahres 1824 starb sie mit dem demütigen Bekenntnis, dass sie oft für die Stimme Gottes gehalten habe, was nur die Frucht ihrer Einbildung und ihres Stolzes gewesen sei, aber auch mit dem Trost des Glaubens: „was ich Gutes getan habe, das wird bleiben; was ich übel getan, das wird Gottes Barmherzigkeit austilgen.“

In der Schweiz hinterließ ihr Aufenthalt im Allgemeinen nur segensreiche Spuren. Hier in Basel, wo ihr Bild noch in manchem alten Haus zu finden ist, muss namentlich auch die Gründung der Armenanstalt von Beuggen zu einem großen Teil auf den gewaltigen Eindruck zurückgeführt werden, den ihre grenzenlose Wohltätigkeit hinterlassen. Aus den ostschweizerischen Kreisen, in denen sie Eingang gefunden, ist u. A. die geistreiche Anna Schlatter hervorgegangen, die dann freilich in ihrer bürgerlichen Weise ungleich milder und stiller gewirkt hat als die schon durch ihre vornehme Geburt großartig angelegte Russin. Auf Anna Schlatter, welche übrigens mehr zu „den Stillen im Land“ gehört, können wir hier nicht näher eingehen. Das Wesen dieser geistig und geistlich hervorragenden Frau lässt sich am Besten aus ihren Briefen erkennen, welche Dr. Zahn unter dem Titel „Frauenbriefe“, leider nur ohne die nötige Sichtung, veröffentlicht hat.

In der Ostschweiz hatte die Erscheinung der Krüdener auch eine schreckliche Nachwirkung. In der Nähe von Schaffhausen, im zürcherischen Dörflein Wildenspuch, lebte eine von Kindheit an zu Visionen geneigte junge Tochter, Margaretha Peter. Dieselbe lernte im Herbst 1817 die Frau von Krüdener kennen, welche sich nach ihrer Vertreibung von Grenzach einige Zeit in dem ebenfalls bei Schaffhausen gelegenen Dorf Lotstetten aufhielt. Von dem Beispiel der Krüdener begeistert, fing nun Margaretha an sich einzubilden, auch sie sei zur Reisepredigerin und, als die Krüdener vertrieben worden, sie sei zur Fortsetzung ihres Werkes berufen. Allmählich ging sie so weit, sich für ein Wesen zu halten, in dem der Sohn Gottes auf ganz besondere Weise Wohnung genommen habe. Und zuletzt erklärte sie im März 1823, dass zu wiederholter Besiegung des aufs Neue mächtig gewordenen Teufels der Opfertod Christi zum zweiten Mal an ihr und ihrer Schwester vollzogen werden müsse. Sie selbst schlug ihre Schwester tot und ließ sich dann von einer Freundin förmlich kreuzigen. Mit der größten Standhaftigkeit und unter der Versicherung, dass sie durchaus keinen Schmerz empfinde, ließ sie, auf ihr Bett ausgestreckt, sich Hände, Füße, Ellbogen und Brust auf Holzblöcke festnageln. Sie starb, während man ihr ein Messer in den Kopf trieb, unter dem Ruf: „Freut euch mit mir, Gott im Himmel freut sich auch mit Euch!“ Mit Recht ließ die Regierung von Zürich, nachdem die Beteiligten, darunter Margarethas eigener Vater, vom Malefizgericht zu schwerer Zuchthausstrafe waren verurteilt worden, die Stätte dieser Gräuelszenen niederreißen und verordnete, dass nie mehr ein Haus dort dürfe gebaut werden.

Zur gleichen Zeit, wo an der armen Margaretha von Wildenspuch solch arge Verirrung vom wahren Christentum und ein solch heilloses Verkennen dessen, was Gott von den Menschen verlangt, zu Tage trat, lebten und wirkten zwei edle Frauen, die auf gänzlich verschiedenem Boden aufgewachsen und in durchaus ungleicher gesellschaftlicher Stellung doch Beide, den Willen Gottes richtig auffassend, die Selbsthingabe im Sinn Christi übten und als leuchtende Vorbilder Bahn brachen für die innere Mission des 19. Jahrhunderts: Elisabeth Fry, durch welche die Buße und der Trost des Evangeliums in tausend Kerker gedrungen ist, und Amalie Sieveking, deren Lebensarbeit unzähligen Frauenvereinen zur Armen- und Krankenpflege das Dasein gegeben und eben damit unzählige Tränen getrocknet hat.

Elisabeth Gurney, geb. zu Norwich den 21. Mai 1780, gehörte einer milden englischen Quäkerfamilie an. Die Eltern zogen sich zwar nicht von den heiteren Genüssen der Geselligkeit zurück, strebten aber doch ernstlich danach, in der Freude an den irdischen Gütern die ewigen nicht zu verlieren und den Sinn dafür bei ihren Kindern rege zu erhalten. So kam es, dass Elisabeth, ein durch Schönheit, Anmut und Talente ausgezeichnetes junges Mädchen, in dessen Leben viele Tage nur eben von Musik, Geselligkeit, kühnem Reiten, Theaterbesuchen und Tanzen ausgefüllt waren, und dessen pikante, von feinem Witz gewürzte Unterhaltung von den jungen Männern der Gesellschaft mit besonderer Vorliebe gesucht wurde, schon in ihrem 17. Jahr doch in ihr Tagebuch schreiben konnte: „ich habe in mir und Anderen Manches gesehen, was früher meiner Wahrnehmung entging, dennoch habe ich nicht versucht, mich zu besseren. Ich habe meinen Leidenschaften nachgegeben und ihnen gestattet, mich zu beherrschen. Meine Fehler waren mir wohl bekannt, ohne dass ich mich bemühte, sie abzulegen. Ich muss den Schmeichlern mein Ohr verschließen, darf bei den Kindern die Geduld nicht verlieren, nicht ohne Grund widersprechen, nicht maulen, wenn man mit meinen Schwestern zufrieden ist und mit mir nicht; ich darf nicht übertreiben, was. ich so gern tue; ich darf nicht den Putz frönen; ich muss jedem guten Eindruck Raum geben und jeden schlechten bekämpfen. Hätte ich nur Ausdauer, so könnte ich Alles tun, was ich wünsche; doch den Versuch will ich machen.“ Allein die redlichen Versuche misslangen. Elisabeth konnte es, bei aller ernsten Selbsterkenntnis und bei dem aufrichtigsten Streben, den Kummer Anderer zu lindern, zu keiner nachhaltigen Gottseligkeit bringen, bis ein eifriger Prediger ihrer Gemeinde sie auf ihren Grundfehler, die Zwiespältigkeit ihres Herzens, aufmerksam machte und anregte, ihr Leben ungeteilt dem Dienst Gottes zu weihen. Von Stund an war sie eine Andere. Nicht mehr um in Selbstgefälligkeit schwelgen zu können, sondern um wirklich Gott wohl zu gefallen und seines Friedens sich getrösten zu dürfen, betätigte sie sich jetzt für die Armen und Kranken. Auch errichtete sie im Haus ihres Vaters eine Schule und erprobte dabei ihre ungewöhnliche pädagogische Begabung, indem es ihr ohne alle Mithilfe gelang, eine Zahl von 70 Kindern zu regieren und zu unterrichten. Ihre Heirat mit dem reichen Londoner Handelsherrn Joseph Fry, einem Quäker von der strengsten Observanz, begünstigte den Sieg über ihre früheren Gewohnheiten. Dabei ist es uns zum Voraus eine Bürgschaft für die Solidität ihrer Umwandlung, wenn wir sehen, dass sie nicht, von augenblicklichem Enthusiasmus hingerissen, dem ernsten Quäkertum sich in die Arme wirft, sondern dass sich in ihrem Gewissen und Willen eine langsame, aber sichere Klärung vollzieht. Schritt für Schritt entsagt sie den früher für edel gehaltenen Genüssen; nach und nach gibt sie ihren Kleidern den schlichten Schnitt des Quäkeranzuges und zuletzt versteckt sie auch das reiche blonde Haar in der eng anschließenden Mütze. Mit kostbarer Naivität gesteht die junge Frau, das Du, mit dem der Quäker Hohe und Niedere als Brüder anredet, sei ihr Anfangs so schwer geworden, dass sie sich zuweilen der Begegnung eines alten Bekannten durch schleunige Flucht entzogen habe. Auch die ihr frühe schon zuerkannte, bei den Quäkern an Mann und Weib hochgeschätzte Gabe der geistlichen Beredsamkeit wollte sie lange nicht ausüben. Als sie aber an zwei Sterbebetten, beim Tod ihres Vaters und beim Hinschied eines besonders hoffnungsvollen ihrer elf Kinder die Erfahrung gemacht hatte, dass ihr wirklich ohne Besinnen und Schwanken die Gabe überwältigender Rede verliehen sei, zögerte sie nicht länger, dieselbe auch da anzuwenden, wohin ein besonderer Zug der Liebe sie schon öfter geführt: in der Weiberabteilung der Gefängnisse von Newgate. Schon öfter hatte Elisabeth seit 1813 dieses sogenannte Straf- und Korrektionshaus betreten, einmal auch hatte sie mit den verwahrlosten Geschöpfen gebetet, und die Elenden waren auf ihre Knie niedergesunken und hatten nichts als leises Schluchzen hören lassen. Allein, sei es, dass der Schmutz, die Stickluft und die entmenschten Sitten, von welchen sie sich dort umgeben sah, sie zurückschreckten, sei es, dass sie an dem Erfolg einer Tätigkeit unter dem Abschaum ihres Geschlechtes verzweifelte, erst vom Dez. 1816 an finden wir sie in eigentlich reformatorischer Wirksamkeit an jenen Orten. Sie traf in dem engen Raum von wenigen Gemächern 300 Frauen mit ihren Kindern in einem Zustand physischen und moralischen Elendes, den die lebhafteste Phantasie nicht übler hätte ausdenken können. Um die wilde Horde halbnackter, brüllender, fluchender, spielender, raufender, singender, tanzender und allerlei schändliche Szenen aufführender Weiber, welche eher reißenden Tieren als Menschen ähnlich sahen, anzufassen, verlangte Elisabeth, dass man sie mit denselben allein lassen solle. Allgemeines Staunen! Solches Zutrauen hatte diesen Hyänen noch keine ihres Geschlechtes bewiesen. Die Stille, die eintrat, benutzte Elisabeth sofort, um an dasjenige Gefühl zu appellieren, das auch bei dem gesunkensten Weib empfänglich ist: an die Mutterliebe. Und der Vorschlag, für die Kinder im Gefängnis eine Schule zu errichten, wurde mit Freudentränen aufgenommen. Zunächst sollten nur die Gefangenen unter 25 Jahren Unterricht erhalten, und zwar benutzte Elisabeth als ihre Gehilfin dabei ein wegen Diebstahls ebenfalls im Gefängnis sitzendes junges Mädchen. Doch drängten sich bald auch ältere Sträflinge heran, so dass Mrs. Fry die Aufgabe nicht mehr ohne weitere Hilfe bemeistern konnte. Im April 1817 gründete sie mit 11 andern Quäkerinnen und der Gattin des Anstaltsgeistlichen eine Gesellschaft mit dem Zweck: „für Bekleidung, Unterricht und Beschäftigung der zu Newgate in Haft gehaltenen Frauen zu sorgen, dieselben mit der heiligen Schrift bekannt zu machen und sie so viel als möglich an Ordnung, Nüchternheit und Fleiß zu gewöhnen, damit sie während ihrer Gefangenschaft gelehrig und friedsam würden und dieselbe als achtbare Menschen verlassen könnten.“

Von diesem Moment an gehörte ein großer Teil der Zeit und Kraft von Elisabeth den Gefangenen; und doch hatte sie daneben als Gattin und als Mutter von 9 Kindern (zwei waren gestorben) Pflichten, welche einer andern Frau genügend erschienen wären, sich von jeder Tätigkeit für das öffentliche Wohl fernzuhalten. Freilich erlaubte ihr der Reichtum ihres Mannes, für manche häusliche Besorgung fremde Kräfte in Anspruch zu nehmen; auch ist das zu beachten, dass das Quäkertum überhaupt die Gemeindeinteressen den Familienrücksichten überordnet. Zudem besaß Mrs. Fry ein ungewöhnliches Organisationstalent, und dieses kam nicht nur ihrer öffentlichen Tätigkeit, sondern auch ihrem Hauswesen zu gut, wo sie mit raschem Blick alles Nötige erkannte und mit sicherer Hand anordnete. Übrigens traten auch Fälle ein, wo die pflichttreue Mutter um eines kranken Kindes willen in den Gefängnissen einmal nur das Allernötigste besorgte und dann ohne Rast heimeilte.

Welche Arbeitslast sie als Vorsteherin des neuen Gefängnisvereins zu bewältigen hatte, ersehen wir am besten aus dem ersten Bericht, den sie über den Erfolg ihres Verfahrens dem erstaunten Unterhaus Großbritanniens vorlegte: 20,000 Bekleidungsgegenstände hatten beschafft werden müssen. Dem nämlichen Bericht entnehmen wir mit Interesse die Notiz, dass Mrs. Fry es war, die zum ersten Mal den Versuch eines sogenannten konfessionslosen Religionsunterrichts wagte, indem sie in der Gefängnisschule sich auf die Lehren Jesu beschränkte, ohne die Auffassung irgend einer Kirche oder Sekte hineinzutragen. Die Stimme der Überzeugung aber, mit der sie diese Lehren vortrug, machte ihren einfachen, dogmenfreien Unterricht so ergreifend und wohltuend, dass die armen Unmündigen mit Zärtlichkeit an ihrem Mund hingen. Als bald nach der Eröffnung ihrer Tätigkeit ein vornehmer Engländer die Anstalt besuchte, war er eigentlich betroffen von der Veränderung, und Elisabeth selbst verwunderte sich, als nach Jahresfrist von jenen 20.000 gelieferten Kleidungsstücken bloß 3 vermisst wurden, und das an dem gleichen Ort, an dem der Aufseher ihr bei dem ersten Besuch ihre Uhr vor der Tür glaubte abnehmen zu müssen!

Da viele der in Newgate Eingeschlossenen zur Deportation nach den englischen Kolonien verurteilt wurden, so sorgte Mrs. Fry auch dafür, dass die Früchte ihrer Einwirkung während der Überfahrt nicht verloren gingen. Sie veranlasste die Verurteilten, sich Aufseher zu wählen und denselben für die Zeit der Reise Gehorsam zu geloben. Auch verschaffte sie ihnen Bibeln und andere gute Lektüre für die Sonntage und Material zu Arbeiten für die Werktage; dies Letztere mit der ausdrücklichen Bestimmung, dass die betreffenden Arbeiten von denen, die sie verfertigt hätten, in der Kolonie zu ihrem eigenen Vorteil verkauft werden dürften. War ein Deportationsschiff zur Abfahrt bereit, so begab sie sich noch an Bord, kniete mit sämtlichen Gefangenen auf dem Verdeck nieder und flehte den, der allein Wachstum zu menschlichem Säen und Begießen geben kann, um seinen Segen an für das Werk christlicher Liebe. Selten wurde der Wink, der darin auch für das rohe Matrosenvolk lag, unbeachtet gelassen. Die verurteilten Weiber aber folgten dem Boot, das ihre treueste Freundin ans Land zurückbrachte, so lange als möglich mit tränenden Augen.

Doch beschränkte Elisabeth ihre Tätigkeit nicht auf die weiblichen Gefangenen von Newgate, sie zog die Verbesserung des Loses aller Sträflinge und namentlich aller jugendlichen Verbrecher in den Kreis ihrer Bestrebungen. Und weiter gründete sie Bibliotheken für die vielen in der Einsamkeit und Eintönigkeit ihres Berufs an ihrer Seele vielfach Schaden Nehmenden, für die Schiffleute, für die Schafhirten, für die Küstenwächter. Ihre Liebe hörte wirklich nimmer auf und war stets von jenem früher erwähnten Grundsatz getragen: Die Liebe zur Seele ist die Seele der Liebe.

Diese staunenswerte Tätigkeit hatte nun aber zur natürlichen Folge, dass Mrs. Fry mit der Zeit nicht nur in ihrem engern Vaterland eine Autorität, sondern geradezu eine europäische Berühmtheit wurde. Und dazu trug ohne Zweifel ihre äußere Erscheinung ein Wesentliches bei. Gewiss würde ihre Hingebung auch dann, schon der Kuriosität wegen, Anerkennung und Bewunderung gefunden haben, wenn sie bucklicht und unbeholfen gewesen wäre und wie Moses eine schwere Zunge gehabt hätte. Nun sie aber schön und anmutig, beredt und schlagfertig, gewandt und lebhaft war, so wurde sie förmlich Mode, und es galt sowohl in England als auf dem Kontinent für fashionabel, eine Unterredung mit ihr gehabt oder doch einem ihrer Vorträge in den Gefängnissen von Newgate beigewohnt zu haben. Ihre Reisen, die sich bis in die Schweiz erstreckten, und auf denen sie überall die Gefängnisse besuchte, gestalteten sich zu Triumphzügen, nicht nur für ihre edlen Bestrebungen, sondern auch für ihre liebenswürdige Person. Und da sie mit zunehmenden Jahren immer liebevoller auch von Andersdenkenden und Andersgläubigen urteilte, so wurde ihr Einfluss ein universeller. Die auf dem Gebiet der inneren Mission hervorragendsten Männer Deutschlands, Bunsen, Wichern, Fliedner, schämten sich nicht, bei Elisabeth Fry in die Schule zu gehen. Selbst König Friedrich Wilhelm IV. und seine edle Gemahlin, die im Trieb der inneren Mission unermüdliche Königin Elisabeth, bereiteten der englischen Kaufmannsfrau zu Berlin den liebevollsten Empfang und statteten ihr ungesäumt in Newgate einen ehrenvollen Gegenbesuch ab, wobei sie sich aufs Eingehendste von ihr über die betreffenden Einrichtungen unterrichten ließen.

Alle diese Huldigungen aber verdarben Elisabeth Fry nicht. Ihre eigene, oft geäußerte Besorgnis, der Beifall der Menschen könnte ihr zu lieb werden und könnte die reine Lust, Gott zu dienen, in ihrem Herzen beeinträchtigen, ging nicht in Erfüllung. Auch hielt sie Gott durch ernste Erlebnisse im engern Kreise: den Verlust ihres Vermögens, den Tod geliebter Kinder und Kindeskinder, bis zuletzt in seiner Schule. Fern von aller Selbstgerechtigkeit und pharisäischer Sicherheit sah sie dem Tod, als dessen Vorboten sich einstellten, mit einer gewissen, übrigens vielen energischen Menschen eigenen Bangigkeit entgegen. Die letzten Worte, die man am 13. Oktober 1845 von ihren erblassenden Lippen vernahm, war die Bitte: „O mein geliebter HErr, hilf deiner Dienerin und bewahre sie!“ Und ähnlich hat ja auch Vinet sein tatenreiches Leben beschlossen, nicht mit einem siegesfrohen Glaubenswort, sondern mit der demütigen Bitte: „Seigneur, aie pitié de moi!“

Eine ganz andere Physiognomie als das Leben dieser kinderreichen Tochter Albions trägt das Bild des deutschen Fräuleins, des Ideals einer alten Jungfer, auf welche mit bestem Recht im Hinblick auf Tausende von Kindermüttern das Wort des Propheten angewendet werden kann: „Die Einsame hat mehr Kinder, als die den Mann hat“ (Jes. 54,1). Doch finden wir auch bei ihr einen großen Kontrast zwischen der Jugend und der späteren Entwicklung: einer freudelosen Kindheit folgt ein seliges Alter, auf nüchternem Verstandesboden entwickelt sich ein reiches Gemütsleben, und an die Stelle trübsinniger Verschlossenheit und Vereinsamung tritt ein mächtiges Wirken auf immer weitere Kreise.

Amalie Wilhelmine Sieveking wurde geboren zu Hamburg im Jahre 1794. In ihrer angesehenen Familie war seit langem Tatkraft und Selbstbewusstsein, daneben aber auch ein vollkommener Rationalismus zu Hause. Frühe verwaist und ohne irgendwelche empfehlenswerte äußere Eigenschaft, ließ sich das Kind, welches übrigens durchaus keinen Mangel leiden musste, von dem Gefühl beherrschen: Niemand hat mich lieb, kein Mensch nennt mich: „liebes Malchen“. Zur jungen Tochter herangewachsen, fand sich Amalie von den kleinen häuslichen Pflichten, der Lektüre, der Handarbeit und der Geselligkeit nicht befriedigt. Sie sehnte sich nach einem bestimmten, Geist und Herz befriedigenden Beruf, und ihre Liebe zu Kindern ließ sie diesen finden. Zunächst unterrichtete sie bloß Eine Schülerin, ein im gleichen Haus wohnendes Töchterlein. Allmählich aber wurde ihr Talent bekannt, und als sie 19 Jahre alt war, zählte sie schon eine sechsköpfige Schule, dabei blühte ihr Herz so auf in Liebe, dass sie sich nicht entschließen konnte, von den Eltern ihrer Schülerinnen eine Bezahlung anzunehmen, sondern im Gegenteil neben ihrer eigenen Schule, welche aus den gebildeten Ständen stets neuen Zuwachs erhielt, auch noch bei einer Armenschule mitwirkte. Mitten in jenen ersten Anfängen selbstständigen Wirkens wurden ihr auch durch den seligen Heimgang eines heißgeliebten Bruders die Augen für das Eine Notwendige geöffnet, für den Frieden mit Gott durch Jesum Christum. Und von nun an hieß es bei ihr: „Alle Erziehung, die nicht vorzugsweise darauf ausgeht, dass dem Kind dieser Glaube das Leben des Lebens werde, ist nichts als elendes Flick- und Pfuschwerk!“. Mit ganz anderer Freudigkeit als bisher erteilte sie jetzt den Religionsunterricht in ihrer Schule, und auch ein anderer, schon früher gefasster Plan tauchte nun mit neuer Lebendigkeit in ihr auf.

Es hatte sie nämlich schon in ihrer frühen Jugend der Gedanke oft beschäftigt, ob nicht die evangelische Kirche die Pflicht hätte, dem katholischen Institut der barmherzigen Schwestern etwas Ähnliches gegenüber zu stellen, und in ihrem dunkeln Trieb, sie müsse ein großes Werk vollbringen, hatte ihr dies Ziel lange vor Augen geschwebt. Damals war ihre Schule in den Vordergrund getreten. Aber jetzt, wo nicht mehr der natürliche Tatendrang, sondern der göttliche Trieb der Liebe sie beseelte, prüfte sie den Gedanken aufs Neue, legte ihn auch einigen Freunden vor, die als Genossen desselben liebenden Glaubens ihr als zuverlässige Berater erschienen: Gossner, Wichern und Neander. Trotzdem diese zustimmten, würde sie doch aus natürlicher Schüchternheit und auch aus zarter Rücksicht auf die greise Pflegemutter, der sie sich zunächst zu dienender Liebe verpflichtet fühlte, nicht gewagt haben, zur Ausführung zu schreiten, wenn nicht ein besonderes Ereignis eingetreten wäre. Es war im Sommer 1831, da erschien in Hamburg die Cholera, und mit ihr als unvermeidlicher Begleiter ein panischer Schrecken. Niemand wollte in den Dienst des für die Cholerakranken errichteten St. Enricus-Hospitals treten. Ohne Zögern stellte sich Amalie Sieveking, begleitet von den Segenswünschen ihrer Pflegemutter, den Behörden zur Verfügung. Viele schüttelten zwar den Kopf und namentlich die Ärzte zweifelten sehr daran, ob die „Schwärmerin“ den Anstrengungen des Wachens und der ekelhaften Pflege werde gewachsen sein. Bald aber zeigte es sich, dass die Kraft ihrer Selbstverleugnung die Abhärtung der geübtesten Krankenwärterin übertreffe. Sie wurde zur Vorsteherin des gesamten Pflegepersonals ernannt. Doch verbat sie sich alle Vorteile besserer Beköstigung, die man ihr anerbot, und zwar durchaus nicht, um sich selbst zu kasteien, sondern um durch das Beispiel der Entbehrung ihre Untergebenen für die Beschwerden ihres Berufs desto williger zu machen.

Dennoch ward es ihr nicht vergönnt, aus dieser glänzenden Prüfung ihrer eigenen Tüchtigkeit auch mit dem Entschluss hervorzugehen, dass ihr geliebtes Ideal: die Gründung einer protestantischen barmherzigen Schwesterschaft, nun verwirklicht werden könne, sondern im Gegenteil mit der Überzeugung, dass es ihr nicht beschieden sei, gerade in dieser Weise sich um das christliche Gemeindeleben verdient zu machen. Sie hatte bei ihrem Eintritt in das Cholerahospital durch öffentliche Blätter die Aufforderung ergehen lassen, dass während der Dauer der Seuche andere Frauen sich mit ihr zu freiwilligem Dienst verbinden möchten, aber keine Meldung war eingegangen. Diesen Misserfolg sah sie als einen Wink an, dass sie, obgleich schweren Herzens, ihr Ziel beschränken müsse. Und so gründete sie 1832 einen Verein von Frauen, welche sich zu häufigem, regelmäßigem Besuch der armen Kranken in ihrer Wohnung verpflichteten. Dieser Verein fand sofort großen Anklang. Zahlreiche tätige Mitglieder stellten sich ein und sorgten unter Amaliens Leitung in den Kammern der armen Kranken für leibliche und geistliche Nahrung, Ordnung und Reinlichkeit. Andere erboten sich, an bestimmten Tagen für die Armen zu kochen, ein wohlhabender Schlächter schickte eine Anweisung auf wöchentlich 4 Pfund Fleisch, und bald sah Amaliens Wohnung einem Magazin von Bettwerk und Kleidern gleich. Es ging nicht lange, so konnte ein Kinderspital mit 30 Betten errichtet und eine Anzahl Wohnungen für arme Familien erbaut werden. Und ehe sie sichs versah, war Amalie Sieveking das Zentrum mehrerer hundert Zweigvereine, die Beraterin von Gründungen ähnlicher Art wie die ihrige in ganz Deutschland, ja in halb Europa. Daneben blieb sie ihrem ursprünglichen Beruf der Kindererziehung treu, ja sie betrachtete denselben bis zuletzt als ihren schönsten und lieblichsten.

Welchen Grad von Arbeitskraft sie entwickeln musste, um diesem vielseitigen Berufsleben genügen zu können, das wird uns durch einen Blick auf ihre Tagesordnung anschaulich gemacht. Sie selbst berichtet einer Freundin: „Am Dienstag stehe ich um 1/2 5 Uhr auf und habe dann bis gegen 6 Uhr für die Kinder zu arbeiten. Das Frühstück wird bei der Arbeit eingenommen. Um 6 Uhr gehe ich von dem Landhaus zur Stadt und komme etwa ein Viertel nach 7 im Stadthaus an. Hier warten schon Viele auf mich, bisweilen wohl 20 und darüber, die mich zu sprechen wünschen. Das dauert in der Regel bis 1/2 9, wo ich dann nach unserm Haus gehe, die eingegangenen Briefe durchsehe, Einiges für den Unterricht vorbereite und auch, wenn es die Zeit erlaubt, noch einen Gang für die Armen, zum Arzt, in die Apotheke oder zu den Armen selbst mache. Um 10 Uhr kommen meine Kleinen zu mir und bleiben bis gegen 1 Uhr. Von 1/2 3-1/2 4 erteile ich Religionsunterricht in der Armenschule. Die Zeit von 1/2 4-5 Uhr ist entweder durch Gänge oder schriftliche Arbeiten für den Verein ausgefüllt. Im 5 Uhr versammeln sich bei mir einige frühere Schülerinnen, und ich halte mit ihnen erst eine förmliche Bibelstunde, nachher trinken wir zusammen Tee und unterhalten uns; zuletzt pflege ich noch eine sie interessierende Mitteilung aus dem Gebiet der Literatur zu machen. Um 8 Uhr gehen sie auseinander. Inzwischen sind bei mir die Berichte über die von den Damen des Vereins gemachten Armenbesuche eingelaufen. Diese Berichte, weit über 100 an der Zahl, müssen nun von mir durchgesehen werden. Diese Arbeit beschäftigt mich, so lange ich mich wach erhalten kann, doch beendigen kann ich sie vor Schlafengehen nie. Am Mittwoch Morgen wird um 1/2 5 aufgestanden und dann sogleich ans Korrigieren der mir von den Kindern gelieferten Arbeiten gegangen. Ein Viertel nach 7 Uhr wieder nach dem Stadthaus, um den Armen Audienz zu geben. Von 1/2 9-12 Schule; von 12-3 Uhr Arbeit für den Verein; 3-5 Uhr wöchentliche Versammlung des Vereins im Stadthaus; 5-6 Uhr Religionsunterricht armer, der Schule entlassener Kinder. Nachdem ich diese um 6 Uhr entlassen, habe ich bis gegen 9 Uhr Armenbesuche zu machen. Dann aber pflege ich für die letzte Stunde dieses Tages zu guten Freunden zu gehen, um in ihrer Gesellschaft und Unterhaltung mich ein wenig abzuspannen.“ In ähnlicher Weise beschreibt Amalie, die bald von ganz Hamburg nur „Malchen“ genannt wurde, die Arbeiten des Donnerstag und des Freitag. „Du findest,“ fährt sie fort, „in dein Bericht dieser Tage keine Zeit zum Mittagessen erwähnt, und die nehme ich mir auch wirklich nicht. Zwischendurch wird etwas Butterbrot, dabei vielleicht etwas kaltes Fleisch oder ein hartgekochtes Ei, gewöhnlich nur im Stehen, genossen. Das finde ich für mich vollkommen ausreichend. Auch an den drei Tagen, die ich ruhig hier außen in Othmarsen zubringe, bin ich in den Stunden, da ich mich nicht bei der Mutter befinde, mit Vorbereitungen für den Unterricht, Korrespondenz u. dgl. so vollauf beschäftigt, dass ich, obgleich in der Regel immer schon um 5 Uhr bei der Arbeit, doch manchen Tag nicht dazu komme, einen Fuß in den Garten zu setzen.“

Es war ihr vergönnt, schon im Jahre 1836 auch ihren ursprünglichen Gedanken eines förmlichen Ordens von Pflegerinnen durch die Gründung der Diakonissen-Anstalt in Kaiserswerth verwirklicht zu sehen. Auch die verwandten Bestrebungen der opferfreudigen Miss Florence Nightingale während des Krimkrieges 1855 begleitete sie mit freudiger Teilnahme. Als ihr eigener Verein im Mai 1857 sein 25jähriges Jubiläum feierte, war sie schon eine gebrochene Kraft, doch legte sie in ihrer einfach ergreifenden Weise nochmals Zeugnis ab des Glaubens und der Hoffnung, darauf sich ihr Liebeswerk erbaut und darauf es allein Bestand haben könne. Und ihr stilles Tagewerk setzte sie bis zum Winter 1858 fort; schleichend, erschöpft, oft so müde, dass sie auf den steinernen Stufen vor den Häusern ausruhen musste, ging sie der Armut nach und scheute für ihre kranke Brust weder die steilsten Treppen, noch die feuchtesten Keller. Als sie schließlich nicht mehr konnte, durfte sie auf dem Krankenlager ernten, was sie gesät hatte. Eine ihrer Armen war ihre Pflegerin; Schülerinnen und Freundinnen sorgten dafür, dass ein immer erneuter Frühling von Blumen ihr Krankenzimmer schmückte. Doch konnte auch die treuste Liebe ihr die schwersten Leiden nicht ersparen. Mit den bezeichnenden Worten: „ach HErr, ich kann nicht mehr,“ hauchte sie am 1. April 1859 ihre Seele aus. Ich erinnere mich noch lebhaft, welche Bewegung auch durch unsere Stadt Basel ging, als es hieß, diese Vorkämpferin der Armen- und Krankenpflege habe ihren Lauf vollendet, und als man erfuhr, wie sie auch durch die Anordnungen für ihr Begräbnis den Armen einen Liebesdienst habe erweisen wollen. Weil in Hamburg den armen Sterbenden die Vorstellung des Todes dadurch besonders verdüstert wurde, dass sie in schmucklosem, flachem Sarg in früher Morgenstunde hinausgetragen wurden, befahl Amalie Sieveking, man solle auch sie „arm“ begraben. Und so geschah es. Auf der Armenleichenbahre wurde in einem schmucklosen Sarg die große Armenfreundin von den gewöhnlichen Armenträgern zu der Familiengruft der Sieveking gebracht.

Solch zarte persönliche Liebe, wie sie uns aus dem Leben der edlen Amalie Sieveking entgegenstrahlt, haben auch seither noch viele Frauen in dieser oder jener Weise geübt. Welch unermessliche Dienste an Kranken- und Sterbebetten und auf anderen Gebieten der christlichen Liebestätigkeit haben allein schon nicht Alle, aber doch Viele der 4000 bisher aus den verschiedenen Diakonissen-Anstalten hervorgegangenen Schwestern dem Reich Gottes geleistet. Auch in anderen Stellungen haben Frauen unseres Jahrhunderts eine reichgesegnete Wirksamkeit entfaltet. Wie manche Pfarrfrau hat in der Gemeinde ihres Mannes durch ihre Samariter-Dienste reichere Früchte hervorgebracht als der Prediger selbst mit seinem pharisäischen Formalismus. Und wie oft ist einem ausgezeichneten Mann Gottes das Wirken auf weite Kreise wesentlicher erleichtert worden durch den Frieden, den die verständnisinnige Liebe seiner Frau in seine Seele gesenkt hatte. Blättern Sie z. B. im Leben Vinets, so wird Ihnen fast auf jeder Seite jene eminent liebenswürdige Frau entgegentreten, welche erst lange Jahre nach ihrem Manne und ihren Kindern sterben durfte und dennoch bis ins höchste Alter die Krone ihrer Jugend, die Anmut echten christlichen Liebreizes behielt. Auf dem Angesicht der freundlichen Matrone, die sich mit berechtigtem Stolz nie anders als „Veuve Vinet“ unterschrieb, war das Leuchten der ersten Liebe noch unverwischt zu erkennen. Ein Blick genügte, um zu sehen: diese Frau hat die innerste Mission, die es für ein weibliches Leben gibt, vollständig erfüllt, sie hat Glück und Behagen, Segen und Frieden verbreitet in ihrem Haus.

Für diesen göttlichen Beruf des weiblichen Geschlechts Junge und Alte anzuwerben, das haben sich in unserm Jahrhundert manche Schriftstellerinnen zur schönen Aufgabe gemacht. Diese gehören wahrlich auch zu den Arbeiterinnen der inneren Mission. Mit aller Anstrengung des Geistes haben edle Frauen die Schmach zu tilgen gesucht, welche eine frivole weibliche Büchermacherei auf ihr Geschlecht gehäuft. Von den Vielen, die hier zu nennen wären, will ich nur an Eine erinnern, bei welcher Wahrheit und Dichtung, Leben und Schriftstellerei in seltener Harmonie standen, an Ottilie Wildermuth, eine der besten und wohl auch die Bekannteste der deutschen Schriftstellerinnen.

Ottilie Nooschütz, geb. 1817, gest. 1877 als viel betrauerte Gattin des Tübinger Professors David Wildermuth, hat vor Allem eine schöne Jugendzeit gehabt. Sie sagt selbst in ihren Jugenderinnerungen, ihr sei es nicht gegangen wie jenem armen Tagelöhner, der zu erzählen pflegte, wie er nach seiner Geburt die Augen aufgemacht und die rußige Stube mit den trübseligen Leuten drin gesehen habe, da sei sein erster Gedanke gewesen: „holah, da bist lez abgstiegen.“ Ihre trefflichen Eltern handelten bei der Erziehung nach dem guten Grundsatz: „viel gewehrt macht viel verkehrt.“ Alles mögliche Nützliche musste die Tochter lernen, im Übrigen aber ließ man ihr die harmlose Freude der Jugend, die nicht nur schöne Erinnerungen zurücklässt, sondern Einem für sein ganzes Leben ein freundliches Gepräge gibt. Und wer in späteren Jahren in dem Haus der Vollendeten deren hochbetagte und doch allezeit muntere und geistesfrische Mutter gesehen hat, der weiß, woher unsere reichbegabte Freundin ihre gesunden, gutschwäbischen, frommen und fröhlichen Lebensanschauungen geerbt hatte. Dass diese auch in Leid und Krankheit stets ungetrübt blieben, ist natürlich nicht zum Mindesten dem Umstand zuzuschreiben, dass ihr als Gattin und Mutter ein glückliches und gesegnetes Los beschieden war. Auf ihren ganzen höchst einfachen Lebensweg wandte sie den Spruch an: „der HErr hat alles wohl gemacht.“

Damit hat sie zugleich selbst die Grundfarbe ihrer zahlreichen Schriften angegeben. Ihr war mit ihrer ganzen Schriftstellerei bloß darum zu tun, die höchste Freude zu bereiten, die man Anderen bereiten kann, ihnen nämlich zu zeigen, wie man mit Gottes Hilfe seine Verhältnisse zu glücklichen gestalten könne. In diesem Fach war die selige Wildermuth mit ihren prächtig erzählten „Geschichten“ und ihren lebenswarm gemalten „Bildern“ eine wahre Lehrmeisterin. Bald leistet sie an einem traurigen Beispiel den besten Beweis, wie töricht es ist, dem lieben Gott aus der Schule zu laufen, sich selbst und Anderen durch unfügsames, selbstisches Wesen das Leben zu verbittern; bald führt sie mit warmer Hand an ein bescheidenes Plätzchen, in ein Witwenstübchen, zu einer alten Jungfer oder in ein geldarmes, aber kinderreiches Pfarrhaus, um zu zeigen, dass stiller Glaube und stille Liebe auch das engste Haus zu einem freundlichen Asyl für seine Bewohner und für seine Besucher machen können. Und was die berühmte Schriftstellerin als Ideal, sei es in höherem oder tieferem Ton, hier ergötzlich, dort ergreifend in die weite Welt hinausgeschrieben hat, das hat die schlichte Hausfrau in der kleinen Welt ihrer eigenen Häuslichkeit mit seltenem Geschick verwirklicht.

Lebhaft bin ich an das Wildermuthsche Haus erinnert worden, als ich in einem Aufsatz über die Bedeutung des christlichen Hauses für die innere Mission folgende schöne Beschreibung der wahren Gastfreundschaft las: „Jesus ermahnt, mit Einladungen nicht zu markten, nicht zu geben, damit man wieder empfange, sondern Liebe an den Hilfsbedürftigen zu üben. Krüppel und Lahme finden zwar jetzt ein Gastrecht in dem Staatshaushalt. Doch gibt es noch allerwege Einsame, Fremdlinge und Schutzbedürftige genug, für welche die Einladung in ein gastliches Haus eine Barmherzigkeit ist. Da wohnt der Segen Gottes bei offenen Türen, wo arme alte Seelen den Fluch der Einsamkeit vergessen; wo verkühlte und verknöcherte Herzen sich erinnern, dass sie auch einst Kinder waren und Liebe genossen und darum auch immer noch Liebe schuldig sind; wo Witwen und Waisen merken, dass mit ihrer Häuslichkeit das Heimatsgefühl nicht zu Grab gegangen ist; wo die fremde Jugend das Heimweh nicht nur bekommt, sondern überwindet; wo die Unerfahrenheit belehrt und die Schwachheit freundlich ermutigt wird; wo Recht, Zucht und Wahrheit sich stark fühlen, aber Lüge und Unsauberkeit sich fürchten müssen, wo Jeder aufgenommen wird, als brächte er viel mit, und jeder Abschied nimmt als Einer, der viel empfangen hat. Welche reiche Segensströme können ganz im Stillen aus einem gastlichen Hause fließen, wo man die Eintracht von Christentum und Geselligkeit versteht und vollzieht.“

Um solche Gastfreundschaft ausüben zu können, bedarf es keiner reichen Mittel, sondern nur eben des guten Willens, Anderen zu dienen und ihnen Freude zu bereiten. Wie viel eine einzelne Frau, von diesem Wollen beseelt, erreichen kann, das haben wir Alle an dem Beispiel einer erst vor wenigen Jahren aus unserer Mitte Hinweggenommenen sehen können. Sie wissen wohl Alle, wen ich meine: Trinette Bindschedler, die Gründerin und langjährige Vorsteherin unserer Diakonissenanstalt. Ihr hatte ein schmerzliches Erlebnis in der Jugend das Herz nicht gebrochen, noch viel weniger verengert oder verknöchert. Sieben und zwanzig Jahre lang ist sie den zahlreichen Schwestern eine Mutter im besten Sinne des Wortes, den Kranken Arzt und Pflegerin in Einer Person und Allen, die in den Tagen der Trüb al mit Bitte um Hilfe bei ihr vorsprachen, Trost und Erquickung gewesen. In ihrer ungeheuchelten Demut lag das Geheimnis ihrer Arbeitskraft und ihrer Anziehungskraft. Ihre Demut war der Grund, warum das kleinste Gespräch mit ihr erbaulich war, ohne es sein zu wollen, und warum Niemand sie verließ ohne das Gefühl, etwas empfangen zu haben.

Und so sind wir denn von unserer Kirchengeschichtlichen Reise durch alle Zeiten und durch alle Länder in die Gegenwart und vor die Tore unserer Stadt zurückgekehrt. Wir haben von jenem Schöpfungs-Tage, da es hieß: „ich will dem Manne eine Gehilfin machen“, bis zum heutigen Tag, wo auch den Frauen die Losung der Emanzipation ausgeteilt wird, an den verschiedensten Frauengestalten beobachten können, dass es für die Frau wie für den Mann bei dem Wort Jesu sein Bewenden hat: „es sei denn, dass Jemand von Neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Zutritt zu Gottes Reich und Wert für Gottes Reich hat auch die Frau, nur wenn und nur insoweit sie ihren natürlichen Willen dahingibt und Gottes Willen lässt leben in sich.

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