Rheims, Wilhelm von - Auf den zweiten Sonntag nach Epiphanias.

Rheims, Wilhelm von - Auf den zweiten Sonntag nach Epiphanias.

„Kommt, laßt uns auf den Berg des Herrn gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, daß er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen!“ Ihr Vorsätze und Gedanken, Willensregungen und Gefühle und alles, was in mir ist, kommt, laßt uns auf den Berg gehen, an die Stätte, da der Herr siehet und gesehen wird. Sorgen, Kümmernisse, Aengste, Mühsale, Plagen, Lasten, bleibet ihr hier mit dem Esel des armen Leibes, ich und der Knabe, Vernunft und Erkenntniß, wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen. Ach nur zu bald werden wir wieder zu euch kommen! Denn nur die Liebe der Wahrheit vermöchte uns von euch abzuziehen. Die Wahrheit unserer Liebe hingegen ist nicht mächtig genug, um der Brüder willen euch abzusagen und abzuschwören. Aber mag auch der Zwang, den ihr übt, uns wieder zurück lenken, wir können auf die lieblichen Stunden, von denen wir sprechen, nicht gänzlich verzichten. „Herr Gott Zebaoth, tröste uns, laß leuchten dein Antlitz, je genesen wir.“ Aber ach, o Herr, wie ist es so voreilig, so verwegen, so wider alle Ordnung, so vermessen, so gegen die Aussprüche des Wortes der Wahrheit und deiner Weisheit, mit unreinem Herzen dich, Gott, schauen zu wollen. Dennoch, o Herr, der du allein gut und unser höchstes Gut bist, du Leben unseres Lebens und Licht unserer Seelen, erbarme dich unser um deiner Wüte willen. Deine Güte, o Herr, wenn ich sie recht erwäge, ist der feste Grund meiner Sündenvergebung, meines Glaubens, meiner Gerechtigkeit. Darum, mein Herr und Gott, der du zu meiner Seele in mancherlei Weise sagt: „Ich bin deine Hülfe!“

Rabbuni, guter Meister, du einiger Arzt meiner Augen, der ich begehre, sprich doch zu deinem blinden Bettler: „Was willst du, daß ich dir thun soll?“ Du weißt, was ich will, denn schon gibst du es mir, du gibst, daß aus all seinen Uebertretungen heraus, nachdem es weit von sich gethan alle Hoheit und Schönheit dieser Welt und was es sonst mit Fleischeslust, Augenlust und hoffährtigem Wesen leicht zu beflecken pflegt, mein Herz zu dir spricht: „Ich suche, Herr, dein Antlitz. Verbirg dein Antlitz nicht vor mir und verstoße nicht im Zorn deinen Knecht.“ Freilich bin ich voller Flecken und Makel, o du mein Helfer, von Jugend auf, der du nicht müde wurdest, dich meiner anzunehmen, aber in der Liebe deiner Liebe thue ich also, weil ich sehe, daß ich nicht sehe, und weil du mir Verlangen nach dir, und was dir sonst an mir gefällt, gegeben hat; und schnell verzeihst du dem Blinden, der zu dir heimkehrt und reicht dem die Hand, der dich durch mancherlei Fehltritte beleidigte. Zwar wird in meinem Geiste und Gemüthe die Stimme deines Zeugnisses laut, die mich in Unruhe jetzt und mein ganzes Inneres erschüttert, und die Augen meiner Seele blendet der Blitz deiner Wahrheit, die da bezeugt: „Kein Mensch wird leben, der dich siehet,“ zwar bin ich in Wahrheit noch ganz in Sünden und vermochte nicht mir zu sterben, um dir zu leben; aber auf dein Gebot und durch deine Gnade stehe ich auf dem Felsen des Glaubens, des christlichen Glaubens, an dem Orte, da man fürwahr nahe bei dir ist. Auf diesem Felsen ertrage ich inzwischen geduldig, so gut ich kann, daß deine Rechte meine Augen bedeckt und verhüllt, ja ich umfasse und küsste sie; und so oft ich in Betrachtung versinke und mich sehne, dir hinten nach zu sehen, der du nach mir hinsieht, nehme ich wahr die menschliche Gestalt Christi deines Sohnes, die in Niedrigkeit vorübergeht. Wenn ich freilich näher zu ihm herantrete und gleich dem blutflüssigen Weibe durch heilbringende Berührung auch nur des Saumes an seinem Kleide ihm Genesung für meine arme schwache Seele gleichsam abstehlen will, oder wenn ich wie Thomas, der Mann voll Verlangens, ihn ganz zu sehen und zu berühren verlange, und nicht allein das, sondern wenn ich auch zum Heiligthum seiner Seitenwunde nahen möchte, als zu der Thür, die in die Seite der Arche gesetzt ward, um nicht allein meinen Finger und die ganze Hand hineinzulegen, sondern um selbst ganz hinein und hinzutreten zum Herzen Jesu selbst, zum goldenen Krüglein im Allerheiligsten, in der Bundeslade des Neuen Testaments, das als das Leben der ganzen Menschheit das Manna der Gottheit in sich schließt: so ergeht an mich das erschreckende Wort: „Rühre mich nicht an!“ und das andere aus der Offenbarung: „Draußen sind die Hunde!“ Und wenn ich also durch wohlverdiente Gewissensbisse aus- und hinweggetrieben werde, muß ich nun die Strafen meiner Missethat und Hoffahrt erleiden. Und wiederum ziehe ich mich zurück auf meinen Felsen, als meinen Zufluchtsort voller Stacheln und Dornen der Sünden, und wiederum fasse und wieder küsse ich deine Rechte, die meine Augen bedeckt und verhüllt. Was ich aber flüchtig wahrnahm und sah, hat mein Verlangen nur noch mehr entzückt, und kaum vermag ich geduldig zu erwarten, bis du endlich einmal die verhüllende Hand hinwegnimmt und mich mit erleuchtender Gnade erfüllt, bis ich endlich einmal nach dem Worte deiner Wahrheit, mir erstorben und dir lebendig, mit aufgedecktem Angesicht dein Antlitz zu sehen und durch den Anblick deines Angesichtes in dein Bild verklärt zu werden beginne. O. seliges Antlitz, das den, der es siehet, zu verklären vermag, du erbauest in meinem Herzen dem Gotte Jakobs eine Behausung, du gestaltet. Alles nach dem Bilde, das auf dem Berge gezeigt ward. Auf diesem Berge läßt sich in Wahrheit und mit Fug fingen: „Mein Herz sprach zu dir, es hat dich gesucht mein Antlitz, und ich will auch suchen, Herr, dein Antlitz.“ Also wie ich sagte, es ist eine Gabe deiner Gnade, daß ich in allen Winkeln und Ecken meines Herzens einzig und allein das Verlangen erblicke, dich zu sehen, auf daß alle Enden des Landes, das in mir ist, das Heil des Herrn ihres Gottes sehen, auf daß ich den liebe, sobald ich ihn sehe, den man liebt, sobald man ihn wahrhaft sieht. In der Sehnsucht ihres Verlangens spricht meine Seele: Wer liebt wohl, was er nicht sieht? Kann auch wohl liebenswerth sein, was nicht irgendwie sichtbar ist? Aber da mich nach dir, Herr, verlange, schaue ich allenthalben die sichtbaren Zeichen deiner Liebenswürdigkeit, und Himmel, Erde und alle Kreatur zeigen und weisen mir unaufgefordert eine Menge Dinge, um derer willen du der Liebe und Anbetung werth bist. Je offenbarer und wahrer die deine Liebenswürdigkeit verkünden und bewähren, desto mehr steigern sie mein glühendes Verlangen nach dir. Aber ach, sie bringen mir nicht die vollkommene Süßigkeit und Freude des Genusses, sondern erfüllen nur mit dem quälenden Bewußtsein, daß ich noch auf dem Wege zu dir bin und dich nicht ganz habe. Denn gleichwie meine Opfer ohne mich dir nicht vollkommen gefallen, so gibt die Betrachtung deiner Güter uns zwar süße Erquickung, aber ohne dich keine vollkommene Sättigung.

Es liegt darin für meine Seele eine fortwährende Versuchung; ohn' Unterlaß reinige ich hiervon meinen Geist, und mit Händen und Füßen und mit Aufbietung aller meiner Kräfte strebe ich sammt allem, was deine Güte und Liebenswürdigkeit bezeugt, hinauf zu dir, du höchste Liebe, du höchstes Gut. Aber je stärker ich vorwärts strebe, desto härter werde ich zurückgewiesen, in mich selbst hinein, unter mich selbst hinunter. Wann ich dann mich selbst ansehe, erforsche und richte, so werde ich mir selber zu einer schwierigen, unerquicklichen Räthsel-Frage. Dennoch, o Herr, bin ich durch deine Gnade gewiß geworden, daß das Verlangen des Verlangens nach dir und die Liebe der Liebe zu dir mein ganzes Herz und meine ganze Seele erfüllt. Unter deiner Hülfe bin ich so weit gekommen, daß ich darnach verlange, nach dir zu verlangen, und daß ich es liebe, dich zu lieben. Aber diese Liebe weiß nicht, was sie eigentlich liebt. Denn was soll das heißen, die Liebe lieben, das Verlangen verlangen? Wenn wir etwas lieben, so lieben wir es doch mittelst der Liebe; wornach wir verlangen, darnach verlangen wir doch mittelt des Verlangens. Aber wenn ich die Liebe liebe, so liebe ich vielleicht nicht die Liebe, mittelst derer ich liebe, was ich lieben will, und mittelst derer ich liebe, was irgend ich liebe, sondern mich, der da liebt. Denn meine Seele wird von mir gelobt und geliebt, wenn sie im Herrn ist, während ich sie ohne Zweifel verabscheuen und hassen würde, wenn ich sie anderwärts als im Herrn und in seiner Liebe erfände. Und was sollen wir wohl über das Verlangen sagen? Wollte ich sagen, ich trage Verlangen, darnach Verlangen zu tragen, so trage ich ja bereits Verlangen. Und könnte ich wohl das Verlangen, das nach dir verlanget, gar nicht haben, oder könnte ich ein größeres Verlangen haben, als ich habe? Muß ich sonach an alle dem erkennen, daß die Augen meines Geistes zu schwach und dunkel und blind sind, so bitte ich dich, daß du sie öffnen wollest, nicht also wie die Augen Adams geöffnet wurden, der da sah, daß er nackend war, sondern also, daß ich, o Herr, deine Herrlichkeit sehe, daß ich nicht mehr gedenke meiner Kleinheit und Niedrigkeit, sondern hoch erhöhet werde und in die Umarmung deiner Liebe eile, daß ich dich sehe, daß ich mir sterbe und dir zu leben beginne. Ach, daß mir wohl würde in dir, mir, dem so übel zu Muthe ist in sich selber. So eile doch, Herr, und verziehe nicht. Es hat ja, o Herr, die Gnade deiner Weisheit und die Weisheit deiner Gnade ihre Offenbarungsstätten. Da hinan zum Strome deiner Wollust, zur vollen Freude deiner Liebe steigt man freilich nicht auf dem Wege der Berechnung und Vernunft, oder auf den Stufen der Erörterung und Versuchung. Sondern wem es gegeben ist, weil er in beharrlicher Treue dahin trachtet, der findet sich oft plötzlich dahin versetzt. Aber wenn ich, o Herr, noch selten genug, auch nur etwas von dieser Freude in mir befinde, dann rufe ja schreie ich: Herr, hier ist gut sein, wir wollen hier drei Hütten machen,„ dem Glauben eine, der Hoffnung eine, der Liebe eine. Weiß ich etwa nicht, was ich rede, wenn ich sage: „Hier ist gut sein?“ Aber plötzlich falle ich zu Boden wie todt, und wenn ich wieder um mich blicke, sehe ich nichts und finde, daß ich bin, wo ich vorher war, an einem Orte voller Weh des Herzens und voller Versuchung des Geistes. „Ach, Herr, wie so lange? Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängsten in meinem Herzen? Wie lange doch will der Geist nicht feste Wohnung machen in den Menschen, denn sie sind Fleisch; sondern es kommt und geht und weht der Geist, wo er will. Aber wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, werden wir sein wie die Träumenden; dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. Wehe mir, daß ich bis dahin ein Fremdling bin unter Melech. Ich muß wohnen unter den Hütten Kedars. Es wird meiner Seele bange, bei ihnen zu wohnen.“ Aber inwendig in meinem Herzen antwortet mir deine tröstliche Wahrheit und dein wahrhaftiger Trost: Es gibt eine Liebe, die Verlangen trägt, und eine Liebe, die da genießt. Die Liebe, die voller Verlangen ist, führt einst zum Schauen, das Schauen zum Genießen, das Genießen zur Vollkommenheit der Liebe. Wie danke ich dir, daß du so gnädig bist und neigest dich zum Herzen deines Knechtes, mit ihm zu reden und ihm leise zu antworten auf ein ängstliches Fragen. Ich nehme an und halte fest dies Pfand deines Geistes und auf dies Pfand hin warte ich fröhlich der Erfüllung deiner Verheißung. So will ich denn Verlangen tragen nach der Liebe zu dir und in Liebe pflegen das Verlangen nach dir, und also will ich laufen, daß ich es ergreife, nachdem ich ergriffen bin, daß ich einst in vollkommener Weise dich liebe, du lieber, werther und liebenswürdiger Herr, der du uns zuerst geliebet hat. Aber ist wohl diese vollkommene Liebe zu dir, o Herr, irgendwann und irgendwo zu finden? Besteht nicht die volle Seligkeit der Liebe zu dir darin, daß die Seele, die da dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Quell, also gesättigt, also mit vollem Genügen erfüllt wird, daß sie sprechen muß: Es ist genug. Freilich würde es mich Wunder nehmen, wenn irgendwo irgend Jemand wäre, dem nicht noch etwas fehlte, wenn er spricht: Es ist genug. Wo aber an jenem Genügen noch irgend etwas fehlt, wie kann da von Vollkommenheit die Rede sein? Sonach ist die Vollkommenheit nirgends und niemals zu finden. Und werden wohl auch die Ungerechten, o Herr, dein Reich ererben? Der aber ist ein Ungerechter, der nicht darnach verlangt und sich nicht schuldig fühlt und erkennt, dich so sehr zu lieben, als du überhaupt von der vernünftigen Kreatur geliebt werden kannst. Nun ist gewiß, daß die seligen Schaaren der Seraphim, die nach der Schrift und in Wirklichkeit durch deine unmittelbare Nähe und durch das Licht von deinem Angesicht in helle Gluth versetzt werden, dich mehr lieben, als ein Wesen, das niedriger steht im Himmelreich. Wer aber überhaupt noch ins Himmelreich hineingehört und wäre er der Kleinste darin, der verlangt gewißlich darnach, dich also zu lieben, wie du von irgend welcher anderen Kreatur geliebt werden kannst und mußt. Das ist vielleicht das Geheimniß, in das auch die Engel zu schauen gelüftet. Ein seliges Geschöpf also, das dich mehr liebt, und zwar nicht aus neidischer Eifersucht, das irgendwelche niedrigere Stufe einnimmt, möchte dich auch so lieben, als ein anderes, das dich mehr liebt, und zwar nicht aus neidischer Eifersucht, sondern in guter und frommer Absicht. Falls es nun in der Liebe wächst und falls es sich von Undank und Ungerechtigkeit fern hält, so wird es gerade in dem Grade, als es ihm glückt mit erleuchteten Augen in dein Inneres zu dringen, mit um so süßerer Wonne fühlen und erkennen, einerseits, daß du noch mehr geliebt werden kannst, andererseits, daß es schuldig ist, dich noch mehr, etwa so zu lieben, wie die Cherubim und Seraphim dich lieben. Wer aber verlangt, was er nicht zu erlangen vermag, der ist traurig daran. Da nun im Reiche der Seligkeit die Traurigkeit ein ganz unbekanntes Ding ist, so muß, wer hier etwas verlangt, auch erlangen, was er verlangt. Was sollen wir zu dieser Schlußfolgerung sagen, ja was sollen wir hiezu sagen? O ich beschwöre dich: „Rede, Herr, denn dein Knecht höret.“ Ist es nicht also, daß von all den Großen und Kleinen, die im Reiche Gottes sich finden, jeder einzelne nach seiner Ordnung, Liebe und Liebes-Verlangen hat und doch die Einheit der Liebe nicht gestört wird, so daß kein böser Unterschied entsteht, wenn der, dem es gegeben ist, eine glühendere Liebe trägt? Wer aber eine schwächere Liebe in sich trägt, der sieht ohne Neid das Gute, wo es sich auch finde, er liebt, was er selbst zu besitzen begehrt, und hat gewiß die Liebe, die er an dem liebt, der sie in viel höherem Grade hat. Zweifellos giebt es eine Liebe, welche aus der großartigen Fülle und Eigenthümlichkeit ihrer Güte heraus alle ihre Liebhaber und deren Genossen, alle die an ihr Freude finden und deren Genossen mit der gleichen Gnade erfüllt, wenn auch in ungleichem Grade. Und je reichlicher sie sich in die Herzen ihrer Liebhaber ergießt, desto fähiger macht sie dieselben, die in sich aufzunehmen; sie bringt ihnen eine Sättigung, die frei bleibt von allem Ueberdruß; ja durch die Sättigung mindert sie nicht nur nicht das Verlangen, sondern mehrt es noch, aber befreit es zugleich von aller ängstlichen Sorge. So gibt es denn, wie wir schon sagten, eine Liebe, welche geliebt wird, welche nach der reichen Fülle ihrer Süßigkeit von allen Liebhabern fern hält in der Sättigung den Ueberdruß, im Verlangen die Sorge, im Eifern das Elend des Haffes, weil sie dieselbigen verklärt, wie der Apostel sagt, von einer Klarheit zur andern, auf daß sie im Lichte das Licht sehen und in Liebe die Liebe empfangen. Das ist die lebendige Quelle, die immer fließt und nimmermehr verfließt. Das ist die Herrlichkeit, das sind die reichen Güter im Hause deines glücklichen Liebhabers, daß seinem Verlangen und seiner Liebe der Gegenstand des Verlangens und der Liebe stets nahe ist. Darum, wer da Verlangen trägt, der hat stets Liebe zum Verlangen, und wer da Liebe hat, der trägt stets Verlangen nach der Liebe, und den mit Verlangen und Liebe. Erfüllten lässest du, o Herr, so reichlich zu Theil werden, wonach er verlangt und was er liebt, daß er in seinem Verlangen von keinem ängstlichen Bangen und in seinem Ueberfluß von keinem Ueberdruß geplagt wird. Ich bitte dich, Herr, o sage mir, ob das der ewige Weg ist, von dem Psalmist singt: „Und siehe, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.“ Darum sagt auch dein Apostel, der schon oben sprach: „Nicht, daß ich es schon ergriffen habe, oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen möchte, nachdem ich von Jesu Christe ergriffen bin. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinter ist, und strecke mich zu dem, das da vorne ist; und jage nach dem vorgesteckten Ziel, nach dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung in Christo Jesu. Wie viele nun unser vollkommen sind, die laßt uns also gesinnet sein.“ Darin aber besteht dein Lieben, mit dem du liebst die dich lieben, nach deiner milden Güte, die du gegen dein Geschöpf hast, du gütiger Schöpfer, daß du ihnen das Verlangen, dich zu lieben, einhaucht und die Liebe, die ihnen lieblich macht das Verlangen nach dir und die Liebe zu dir. Denn wenn du uns liebt, so bewegt dich das nicht zu uns hin oder von uns weg. Sondern du bleibst in der Ruhe, du bleibt dir stets ganz gleich, weil dein Sein im Gutsein besteht. Das Gute liegt für dich in dir, aber auch für alle deine Kreatur liegt es in dir. Aber wenn wir dich lieben, so werden wir von dir zu dir hingezogen. Ohne dich zu lieben, können wir wohl noch eine Art traurigen Daseins führen, wir können noch leben, freilich übel genug. Dir aber, der du immer derselbe bleibt, entsteht kein Zuwachs, wenn wir in Liebe dir zufallen, du erleidet keine Abnahme, wenn wir von dir abfallen. Wenn du uns liebt, liebst du uns nur um deinetwillen; will doch das vollkommene Gesetz, das die wahre Gerechtigkeit erfordert, selbst uns nicht verstatten, irgend etwas außer dir zu lieben. Und gewiß ist es der Liebe meines Liebhabers Gottes möglich, dahin zu kommen, daß er weder dich noch sich um seiner selbst willen, sondern sowohl dich als sich allein um deinetwillen liebt. Auf diesem Wege wird er verneuert in dein Bild, nach dem du ihn geschaffen hat, der du aus der Wahrheit deines Wesens und aus dem Wesen deiner Wahrheit heraus, weder dich nur um deiner selbst willen, noch einen Engel, noch einen Menschen als nur um deiner selbst willen, zu lieben vermagst. Wie glücklich, ja über die Maaßen glücklich ist eine Seele, der die Gnade widerfährt, von Gott so ganz hingenommen zu werden, daß sie in Einfalt des Geistes in Gotte nur Gott, nicht ein Stück ihres Sonderbesitzes liebt, daß sie nur in Gott sich selbst liebt und lobt, was Gott lieben und loben muß, nämlich sich selbst, also allein das, was sowohl von Gott dem Schöpfer, als von Gottes Geschöpfen geliebt werden muß. Die Liebe, ich meine Wort und Gefühl, kommt Niemand zu, gebührt auch Niemand, als nur dir allein, du wahrhaftige Liebe, du Herr, der aller Liebe werth ist. Das ist aber der Wille deines Sohnes an uns, das ist ein Gebet für uns zu dir Gott seinem Vater: „Ich will, daß gleichwie wir, ich und du, eins sind, also auch sie in uns eins seien.“ Hierin liegt das Ende, die Vollkommenheit, die Vollendung, hierin der Friede, die Freude im Herrn, die Freude im heiligen Geist, hierin liegt „die Stille im Himmel“ beschlossen. So lange wir freilich in diesem Leben weilen, wird diese Stille des allerseligsten Friedens im Himmel, d. h. in der Seele des Gerechten, die eine Behausung der Weisheit ist, ja wohl je dann und wann einmal genossen, aber nur eine halbe Stunde lang, ja kaum eine halbe Stunde lang. Dennoch möchte ich noch in der Erinnerung daran dir ein Fest feiern. Aber allein in jenem seligen ewigen Leben, von dem es heißt: „Gehe ein zu deines Herren Freude,“ wird der Genuß vollkommen und ewig sein; ja um so seliger, je mehr, nach dem völligen Abthun aller Hinderungen und Hemmungen, die Innigkeit dieser Liebe eine unaufhörliche, ihre Vollkommenheit eine unzerstörbare, ihr Glück ein unantastbares sein wird. O du Liebe, ziehe in uns ein, nimm uns ganz hin. Vor deinem Angesichte müssen bei uns alle die häßlichen Namen schwinden, mit denen Fleischeslust, Augenlust, hoffährtiges Leben dies Gefühl belegen, gleich als ob es aus unreinen Regungen bestände. Wohl muß dies Gefühl, das bei uns Liebe heißt, sich Hochmuth, Genußsucht, Geiz und ähnlich schelten lassen, weil es durch die Krankheiten der von dir und zu dir geschaffenen Seele nur zu oft verderbt wird, während es allein an dir hängen sollte, auch nach dem ihm eingepflanzten Gesetze immer wieder zu dir zurückverlangt und zurücktreibt; bleibt es aber vom Verderben frei und seiner inneren Natur treu, so richtet es sich allein auf dich, o Herr, dem allein Liebe gebührt. Amen.

Quellen: Kessler, Hermann/ Senf, Friedrich - Fromme Betrachtungen aus alten Tagen. Nach der Ordnung des Kirchenjahres

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