von der Recke, Elisa - Selbstprüfung.
Wer bin ich, und was soll ich sein? Diese beiden Fragen sollte jeder Mensch, wie eine heilige Mahnung, immer im Herzen tragen; sie können sich nicht oft genug wiederholen! Der Mensch ist ein Pilger auf Erden; durch mehr und minder bequeme Wanderstellen, durch mehr und minder wüste oder raue Gegenden zieht sich der Weg seines Lebens fort. Da ist ihm nun aufgegeben, vorwärts und rückwärts zu schauen: rückwärts, um zu sehen, wo er strauchelte; vorwärts, um die gefährlichen und verdächtigen Stellen auszuspähen, und das Straucheln zu vermeiden. Auch seitwärts sollen wir blicken auf den Nebenpilger, um ihm eine hilfreiche Hand zu reichen, wenn er deren bedarf.
Es ist wohl gut, dass der Wechsel der Jahre, Monate, Wochen und Tage den fortlaufenden Strom der Zeit in gewisse Abschnitte teilt, auf dass sie Ruhepunkte seien, Stellen des Stillstehens, des Besinnens und der Selbstprüfung! Jeder dieser Punkte beschließt eine alte und beginnt eine neue Laufbahn: an der Ausgangspforte der einen, wie vor der Eingangspforte der andern, stehe die doppelte Frage: Was bin ich, und was soll ich sein? Wohl dürfte der Rückblick in die Vergangenheit uns manchen Vorwurf, manche Demütigung eintragen; denn da bemerken wir die Spuren der Geistesträgheit, des Mangels an rüstiger Wachsamkeit und alle jene Selbsttäuschungen des Wahns, die im Kampf des Lebens unsern Feinden den Sieg verschaffen!
Wer sind unsre Feinde? Unsere Verwöhnungen, unsre Fehler! Wie leicht werden wir von diesen überlistet und überrascht! Unzufriedenheit, Missmut, Ungeduld überwältigten mich, wo Dank gegen Gott, Glaubensfestigkeit und Mut meine gebeugte Seele härten aufrichten können und sollen. Da sehe ich Stellen mit meinen Tränen benetzt, und daneben erblicke ich das größte Vorbild der Gottesergebenheit, welches Christus uns aufgestellt hat; ein Vorbild jenes hohen Mutes, der, wenn Leiden und Widerwärtigkeiten das Leben. erschüttern, des Himmels sich zu bemächtigen weiß und seiner heiligen Ruhe. Aber trotz dieses erhabenen Vorbildes meines Heilandes sind diese Tränen geflossen! sind sie nicht Zeugen meiner Ungeduld, der Ungeduld, die meinen Blick, wenn nicht ablenkte, doch verdunkelte, um das lehrreiche Vorbild des göttlichen Lehrers der Menschen, der da sprach: „Vater, dein Wille geschehe!“ recht innig zu Herzen zu nehmen? Wenn mich im Eifer gegen das Unrecht, die Leidenschaft fortriss, überhörte ich dann nicht oft die Stimme der Sanftmut, die da spricht: „Vater, vergib ihnen!“ Wenn ich Menschenherzen wankend und unstet gegen mich fand, wie beugte das so oft und tief meine Seele darnieder! Und wenn ich diese Schwachheit erkannte, und in dieser mir eine Warnungssäule für die Zukunft errichtet hatte, übersah ich nicht zu oft an solchen Marksteinen des Lebens die Denkschrift: „Vergib uns unsre Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern?“ Und wenn eine lange Reihe leidensvoller Tage vorübergingen au meinem verwundeten Herzen; haben diese mir nicht oft die sanfteren glücklicheren Tage verdeckt, die aus eben der Vaterhand kamen, welche die trüben mir zuwandte? Durch beide sprach die ewige Liebe ernste und freundliche Worte zu meiner Belehrung; beide waren gleich notwendig und wohltätig in dieser Vorbereitungsschule zu einem höheren Leben.
Wer bin ich, und was soll ich sein? Diese Selbstprüfung, dies Zurückschauen, wozu jene Fragen auffordern, möge immer uns demütigen, es erhebt uns auch wieder! Es kräftigt uns, auf der Hut zu sein gegen die Fehltritte, die wir begingen. Vermeidung der Sünde, die nur bewirkt Vergebung! Sobald wir unsre Fehler ablegen, dann nur können wir uns der hohen Verheißung erfreuen, die Du o ewiger Gott der Liebe durch Christum uns mitgeteilt hast, durch diesen Deinen heiligen Gesandten, unsern Erlöser von Wahn und Sünde, der uns den Weg zur Seligkeit wandeln lehrte. Dieser Heilige sprach zu den reuigen Sündern: „Die Sünden sind euch vergeben; zieht hin in Frieden! nur sündigt fortan nicht mehr!“
Herr meines Lebens! so sei denn immerdar die Kraft Deines Geistes mit mir! auf dass ich in fruchttragender Gottesfurcht stets vor Dir, Allwissender, wandeln möge!