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Raymund von Sabunde - Zitate

Raymund von Sabunde - Zitate

Weil alle Dinge in Gott ihren Ursprung haben und von ihm getragen werden, so erkennt und sieht er auch alle in seinem eignen Wesen, wie in einem unendlichen Spiegel. Er gewahrt und zählt den ganzen Sand des Meeres, alle Tropfen des Wassers, alle Theile der Erde und was auf und in ihr ist, alle Sterne des Himmels, alle Tage, alle Stunden, alle Augenblicke, welche vergingen, noch sind und sein werden; er kennt alle Kräuter und ihre Kräfte, alle Bäume und ihre Blätter, alle Saamenkörner, alle Vögel, Fische und vierfüßigen Thiers, alle Menschen, so viel ihrer gelebt haben, leben und noch leben werden. Er weiß ihre Gedanken, ihre Anschläge, ihre Wünsche, ihre Worte und Werke zu gleicher Zeit und nichts bleibt ihm verborgen. So ist nun das Wissen Gottes unendlich, unbegreiflich und unausdenkbar.


Die ganze sichtbare Welt gleicht einer Leiter, auf der wir zur Erkenntnis unsrer selbst und zur Erkenntniß Gottes hinansteigen sollen. Alles, was da ist, hat entweder bloßes Dasein, oder Dasein und Leben, oder Dasein, Leben und Sinn, oder Dasein, Leben Sinn und Verstand. Der ersten Stufe gehören die Elemente: Erde, Wasser, Luft und Feuer, die verschiedenen Metalle, die Edelsteine mit ihrer Pracht und alle Sterne des Himmels an. Auf der zweiten steht das Pflanzenreich, das wiederum in Kräuter und Bäume von der mannigfaltigsten Art zerfällt. Sie bewegen sich rückwärts und vorwärts, aufwärts und abwärts, ziehen ihre Nahrung selbst aus dem Boden, zeugen Saamen und Früchte. Die dritte Stufe nehmen alle Thiere ein, mögen sie auf der Erde, im Wasser oder in der Luft leben, mögen sie gehen, kriechen, fliegen oder schwimmen. Einige davon haben bloß Gefühl, andere Gefühl und Gedächtniß, die meisten Gefühl, Gedächtniß und Gehör. Auf der vierten Stufe steht endlich der Mensch, der alle Vollkommenheiten der niedern Kreaturen in sich vereint und darum in Brüderschaft und Freundschaft mit ihnen steht, überdieß aber Verstand und freien Willen besitzt, so daß nichts Größeres in der Welt gefunden wird. Wer hat nun diese merkwürdige Stufenleiter hingestellt? Einer, der über alle Stufen steht, ein höheres und zwar einiges Wesen muß allen Kreaturen ihr Maaß und ihre Ordnung angewiesen haben. Derselbe Meister und Künstler hat die Baume über die Elemente, die Thiere über die Bäume, die Menschen über die Thiere gestellt; derselbe Herr erhält auch Alles und macht, daß jegliches Geschöpf in seinem Stand und an seiner Stelle verbleibt. Auch du, o Mensch, hast, was du hast, von ihm empfangen, auch du gehörst nicht dir selber, sondern dem an, deß alle Dinge sind, der sie und dich gemacht hat.


Alle Kreatur ruft dir zu: empfange und bezahle; empfange die Wohlthat, bezahle die Schuld! Der Himmel spricht: Ich schaffe dir das Tageslicht, daß du wachen, die Finsterniß der Nacht, daß du schlafen und ruhen magst; ich bringe zu deiner Erholung die Annehmlichkeit des Frühlings, die Hitze des Sommers, die Fülle des Herbstes, die Kälte des Winters; ich mache die Nächte bald lang, bald kurz, damit der Wechsel dich vor Ueberdruß bewahre und die Ordnung dir zur Lust gereiche. Die Luft spricht: Ich theile dir den Lebensodem mit und stelle alle Arten von Vögeln zu deinem Dienste. Das Wasser sagt: Ich gebe dir zu trinken, reinige deine Flecken, befruchte das Trockne und Dürre und schenke dir eine Menge von verschiedenen Fischen. Die Erde spricht: Ich trage dich, ich nähre dich, kräftige dich mit Brod, erfreue dich mit Wein, labe dich durch mancherlei Früchte, fülle deinen Tisch mit mancherlei Thieren. Die ganze Welt sagt: Siehe, wie hat dich der geliebt, der mich dir zum Dienste gestellt hat; denn ich bin um deinetwillen geschaffen, damit auch du dem dienen mögest, der mich um deinet- und seinetwillen geschaffen hat. Empfindest du nun die Größe solcher Wohlthat, so bezahle den gebührenden Dank!


Auf zwiefache Weise tröstet Gott den Menschen: durch die Kreaturen und durch seine Worte; aber die Worte müssen uns mehr gelten, da sie aus dem Munde Gottes gehen, und die Kreaturen aus nichts geschaffen sind. Gleichwie die Braut sich inniger an des Bräutigams Stimme, als an seinen Geschenken erfreut, wie der Unterthan es höher achtet, wenn er, Worte seines Monarchen zu vernehmen, gewürdigt wird, als wenn er eine bloße Gabe von ihm empfängt, und wie dem guten Sohne eine Unterhaltung mit dem Vater lieber ist, als eine Unterstützung von ihm; so muß der Mensch die Worte seines Gottes höher achten, als die Kreaturen, die ihm nur zum Unterpfands und Dienste gegeben sind.


Aus einem kleinen Samenkorn erwächst ein großer Baum, der zuletzt mit vielen Früchten prangt; jede einzelne Frucht enthält aber in sich wiederum Stoff zu unendlich vielen neuen Bäumen und Früchten. So ist es mit der Liebe zu Gott, deren Frucht Freude ist, die sich einstmals ins Unendliche vervielfältigen wird. Denn die Liebe wird sich dann auf Alle erstrecken, die Gott liebt, und die Freude Aller über ihr ungemessenes Glück wird sich in jedem Einzelnen vereinen. Nun bedenke man es, welche große und herrliche Früchte man sammelt, wenn man die Gottesliebe in sich zur Herrschaft kommen läßt. Gerade umgekehrt hält es sich mit der Selbstliebe, die eine Wurzel alles Nebels ist. Denn wo man nach seinem eignen Willen lebt, da sucht man Freude ohne und außer Gott. Eine solche Freude aber trägt im Verborgenen in sich das schrecklichste Gift, den furchtbarsten Tod, weil sie eine Feindschaft und Verachtung des Schöpfers ist. Sie ist unsicher, unstät und mit einer geheimen Bangigkeit verbunden, und mit dem Tode hört, sie ganz auf. Denn da wird einer solchen Seele Alles genommen, was sie liebte; sie verliert die eigene Ehre, den eigenen Ruhm und alle sinnlichen Genüsse. Und von der Wand des Leibes losgetrennt, hinter der sie sich bisher vor sich selber versteckt hatte, erkennt sie immerdar, was sie hätte sein sollen, und was sie durch ihre Schuld geworden ist. Da fängt sie sich denn an zu hassen, und aus dem Hasse gegen sich selbst entspringt der Haß gegen Gott, der ihr das Dasein gegeben. Sie wünscht erbittert, daß Er nicht sein möchte, damit auch sie nicht wäre. Aber nicht bloß sich und Gott, auch alle andere Kreaturen haßt sie, weil sie Gottes sind. Und da sie nun weder sich, noch Gott, noch die Kreaturen vertilgen kann, so übersteigt ihr Elend alle Grenzen. Nimmer kann sie ruhn, nimmer zu denken aufhören, und .das Gedächtniß ihrer Sünde gießt immerfort Oel auf das Feuer ihres Jammers, das in alle Ewigkeit brennt.


Quelle: Galle, Friedrich - Geistliche Stimmen aus dem Mittelalter

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