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Rappard, Dora - Schatten des Todes

Rappard, Dora - Schatten des Todes

Abba, mein Vater, es ist dir alles möglich, überhebe mich dieses Kelches; doch nicht was ich will, sondern was du willst.

Mark. 14, 36

Wenn die Schatten des Todes auf unser Haus fallen, wenn die Menschen, mit denen alle Fasern unseres Wesens in Liebe verbunden sind, von unserer Seite genommen werden, und es uns scheint, das Herz müsse brechen vor namenlosem Weh, dann suchen wir einen Ort, wo wir uns verbergen können mit unserm Schmerz. So flieht das verwundete Reh in das tiefste Dickicht des Waldes, um dort, von allen Augen ungesehen, seine Qualen zu erdulden oder sein Leben auszuhauchen.

Wir kennen auch einen Zufluchtsort, eine tief verborgene Stätte, dahin wir eilen können, wenn die Pfeile des Allmächtigen uns getroffen haben, und die verwundete Seele Deckung sucht, sogar vor sich selbst. Es ist das Herz Jesu. Er, der jetzt in der Herrlichkeit des Vaters thront, weiss was Leiden ist. Sehen wir im Geiste nach Gethsemane. Dort, unter den dunkeln Olivenbäumen, ist der stärkste Schmerz empfunden, der wunderbarste Kampf ausgefochten worden, den je ein Menschenherz gekannt hat. Dort hat Christus in den Tagen seines Fleisches Gebet und Flehen mit starkem Geschrei und Tränen geopfert zu dem, der ihm von dem Tode konnte aushelfen; und ist auch erhört worden, darum dass er Gott in Ehren hatte. Und wiewohl er Gottes Sohn war, hat er doch in dem, was er litte, Gehorsam gelernt (Hebr. 5, 7.8).

Dorthin fliehe, o leidende Seele! Dort wirst du Linderung finden für deinen schmerz. Dort ist der Balsam aus Gilead, der deine Wunden heilen kann. Dort bleibe verborgen bei deinem Erbarmer.

Ein Dreifaches ist es, was dir Trost und Hilfe geben kann. Es tritt dir entgegen

Jesu tiefes Leiden.

Dass er gelitten hat, macht ihn zu einem barmherzigen Hohepriester, der uns versteht in unserem Leid. Wie ergreifend ist in den oben angeführten Worten die Schilderung seines Kampfes! Er hat Gebet und Flehen mit starkem Geschrei und Tränen geopfert zu Gott. Wie menschlich wahr berührt es, wenn wir ihn zu seinen Jüngern sagen hören: „Meine Seele ist betrübt bis in den Tod; bleibet hier und wachet mit mir!“ Oder wenn die Evangelisten erzählen: „Er fing an zu trauern und zu zagen. Und es kam, dass er mit dem Tode rang und betete heftiger. Es ward aber sein Schweiss wie Blutstropfen, die fielen auf die Erde.“ Schauet doch und sehet, ob irgend ein Schmerz sei wie sein Schmerz! Er ist schon im prophetischen Wort genannt: ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut.

Solch einen Helfer brauchen wir, wenn uns das Wasser über die Seele geht. Solch einem dürfen wir, laut oder stumm, den Schmerz klagen, der uns zerreisst. Vor ihm dürfen wir weinen. Zu seinen Füssen dürfen wir liegen. Er ist barmherzig und ein Erbarmer (Jak. 5, 11). Er versteht uns, weil er selbst das Schwerste durchgemacht hat. Und was diesem Leiden den höchsten Wert verleit ist

Jesu rettende Liebe.

Denn dieses namenlose Leiden hat er getragen aus Liebe zu uns. Er hätte ja bleiben können in der Herrlichkeit seines Himmels, umgeben von den Lobgesängen seiner Heerscharen. Aber die Liebe liess es ihm nicht zu. Die Liebe des Vaters gab den eingeborenen Sohn dahin, und die Liebe des Sohnes trieb ihn freiwillig in unser Elend, um die von Ewigkeit her erkorene Braut zu retten aus ihrer Knechtschaft Schande, und sie zu seinem Eigentum zu erwerben. Das ist das Geheimnis von Gethsemane. Dem Gotteshelden bangte nicht vor dem leiblichen Tode, dem er in jener Nacht entgegenging. Aber er bebte zurück vor dem Gericht, das er auf sich zu laden im Begriffe war, vor der Berührung mit Unreinheit und Gottverlassenheit, die ihm bevorstand, vor dem Fluch, den er auf sich nehmen musste, wenn er die unter dem Fluch schmachtende Menschenwelt befreien wollte. Er bebte zurück, aber die Liebe überwand.

Oh Liebe, Liebe, du bist stark!

Und diese Liebe sucht auch dich, armes Herz, in deiner Trauer. Irdische Liebe ist dir, wenigsten sichtbarlich, genommen. Aber ewige Liebe ist auf dich, gerade auf dich gerichtet. Nicht nur dein Leid will er dir tragen helfen; deine Sünde will er von dir nehmen, wenn du sie ihm nur bringen willst. Sollte das nicht einen lichten Schimmer fallen lassen in deine finstere Nacht? Der Hohepriester, der gelitten hat und gestorben ist und jetzt ewiglich bleibt kraft seines unauslöschlichen Lebens, er trägt auch dich auf seinem Herzen. Gerade der Schmerz, der dich betroffen hat, soll dazu dienen, dass du diese Botschaft vernimmst und glaubst.

Und endlich, was uns in jenem heiligen Vorgang von Gethsemane als wunderbares Heilmittel entgegenleuchtet ist

Jesu völlige Ergebung.

„Abba, es ist dir alles möglich. Enthebe mich dieses Kelches!“ Das war der bewegliche Inhalt des Gebets, das er mit starkem Geschrei und Tränen vor Gott brachte. Mit der Anrede appellierte er gleichsam an das zärtliche Vaterherz, das ihm allezeit offen stand. Die Bitte aber offenbart uns die Heftigkeit seines Leidens. Er muss es kund tun vor den Ohren des Herrn. Aber nun ist es, als ob er sich selbst korrigieren, oder doch ergänzen wollte, wenn er alsbald beifügt: „Doch nicht was ich will, sondern was du willst!“

In dieser Bitte, die bei Jesus nicht ein blosses Wort, sondern eine vollendete Tat war, sehen wir schon den Sieg. Er ward erhört. Er konnte so beten, wie es mit dem ewigen Leibesratschluss Gottes übereinstimmte. Und wir sehen es auch in der unmittelbaren Folge, wie er, als ein Held, Kraft angezogen hat und den Häschern entgegentreten konnte mit dem majestätischen: „Ich bin es! Suchet ihr aber mich, so lasset diese gehen“.

Dieses von ganzem Herzen kommende: „Abba, nicht was ich will, sondern was du willst!“ ist der einzige Weg zur Überwindung des Leides, ein schmaler, dem Fleisch unmöglicher, aber ein überaus seliger Weg. Diese Bitte ist der Wunderstein, den die Alten vergeblich suchten, der Eisen in Gold zu verwandeln vermag, zermalmenden Schmerz in stille Ergebung, Bitterkeit in süssen Frieden, Verlust in Gewinn.

Eine Mutter war durch den Tod ihres heissgeliebten Sohnes so betrübt und niedergedrückt, dass es manchen Tag in ihrem Gemüt aussah wie dunkle Nacht. Kein Trostwort wollte haften, kein Licht wollte scheinen. Da eines Tages mahnte eine Stimme in ihrem Innern sie an das Wort des Gottessohnes, das er zu seinem erhabenen Vater sprach, als er vor Grundlegung der Welt es übernahm, den Ratschluss seiner Liebe auszuführen: „Deinen Willen, mein Gott, tue ich gerne“ (Psalm 40. 9). Wie der milde Strahl eines Sternes aus hoher Himmelsferne drang das Wort in das Herz der leidenden Mutter. Gerne! Also nicht nur blinde Unterwerfung, weil ich nicht anders kann, sondern willige Ergebung, weil Gottes Wille das Beste ist, das ist der Weg zum Frieden, so musste sie sich sagen. Der Lichtstrahl war noch so blass und schien so unerreichbar, dass sie es kaum zu fassen wagte. Aber je mehr sie sich dem Lichte öffnete, desto heller ward es in ihr und um sie her, und das Sternlein ward zur Sonne, und die Klarheit von Gottes Angesicht konnte wieder leuchten in das herz seines Kindes. Der grosse Schmerz war noch da, aber die Bitterkeit war fort, und in dem Herzen war mehr Raum geworden für Gott.

„Das Wort: , Nicht Gottes Wille, sondern mein Wille soll geschehen’, hat das Paradies einst in eine Wüste verwandelt“, sagt ein Gottesmann. „Das Wort: ‚Vater, nicht was ich will, sondern was du willst’, vermag die Wüste in ein Paradies zu verwandeln“.

Was in den Stunden des grössten des grössten irdischen Schmerzes gilt, bewährt sich auch in den tausendfachen Nöten und Leiden unseres Lebens. Und je mehr wir uns täglich üben, in dieser demütig gläubigen Gesinnung zu wandeln, desto schneller und sicherer werden wir auch dann, wenn die grossen Trübsalswellen über uns fluten, den festen Boden gewinnen und unerschüttert bleiben in Gottes Frieden.

Quelle: Rappard-Gobat, Dora - Durch Leiden zur Herrlichkeit

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