Quandt, Carl Wilhelm Emil - Die fünfte Bitte.

Quandt, Carl Wilhelm Emil - Die fünfte Bitte.

Und vergieb uns unsre Schuld, als wir vergeben unsern Schuldigern.

Der Mensch lebt nicht vom Brod allein. Denn nur den Leib nährt das Brod, der Mensch aber besteht aus Leib und Seele, und die Seele ist sein köstlicheres Theil. So kann denn auch dem betenden, für sein eignes Wohl betenden Menschen die Brodbitte allein nicht genügen. Oder wem sie genügte - es giebt ja auch wohl Solche, die kein anderes Gebet kennen und üben, als das Gebet um Brod -, der hätte noch nie erkannt, welch' ein edler Gast im Zelte seines Leibes wohnt, welch' ein vornehmer Geist aus den Fenstern seiner Augen schaut. Wer diesen Geist in sich gefunden hat, wer die unsterbliche Seele in der Hütte seines Leibes wohnend erkannt hat, dem ist's zu wenig, nur für des Leibes Nahrung und Nothdurft zu flehen; viel mächtiger als die Bedürfnisse seines sterblichen Leibes treiben ihn die Bedürfnisse seiner unsterblichen Seele ins Gebet.

Das weiß Christus Jesus, der gottmenschliche Gebetsmeister wohl, denn er weiß Alles, was sich in der Menschenbrust bewegt und regt. Darum fügt er zu der Einen Vaterunserbitte für das Wohl des Leibes drei Schlußbitten für das Heil der Seele und lehrt seine Jünger beten: „Und vergieb uns unsre Schuld, als wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung. Sondern erlöse uns von dem Uebel.“

Aber sind das nicht wunderliche Bitten, diese drei letzten Bitten? Wie kommt uns das, daß Sündenvergebung, Bewahrung vor Versuchung, Erlösung vom Uebel die drei höchsten, die drei einzigen Güter sein sollen, die wir von Gott für unsere Seele erbitten? Giebt es nicht tausend andere Güter mit hellerem Namen, die für die Menschenseele wünschenswerth und erquicklich sind? Soll traute Liebe im Schooße der Familie, soll süße Lust im Kreise lieber Freunde, soll Kunst und Wissenschaft, soll das ganze, schöne, rauschende Geleite des Lebens unter dieser Sonne - soll das Alles dem, der für seine Seele Gutes erfleht, gleichgültig sein? Ein Gleichniß mag diese Fragen lösen. Hinter Kerkergittern sitzt der Gefangene; schmückt seine Zelle ihm mit Rosen und Immortellen, deckt seine Tafel mit den köstlichsten Speisen; holt gefeierte Sänger herein, laßt sie die Harfen schlagen und die wonnevollsten Lieder singen -: nein, das ist es nicht, was sein Herz verlangt, Freiheit, Freiheit will er haben. Freiheit, Freiheit - das ist auch das Eine, was die Seele wünscht und was ihr noth thut, und gegen das alles Andre eine Hand voller Sand ist, Freiheit wünscht sie: Freiheit von den Sünden der Vergangenheit - darum lehrt der Heiland beten: Vergieb uns unsre Schuld, Freiheit von den Sünden der Gegenwart und Zukunft - darum lehrt der Heiland beten: Führe uns nicht in Versuchung; Freiheit von allen Folgen der Sünde - darum lehrt der Heiland beten: Erlöse uns vom Uebel.

Und vergieb uns unsre Schuld, als wir vergeben unsern Schuldigern - so lautet die erste von den drei Vaterunserbitten, die der Seele Freiheit erflehn. Sie ist die Bitte um Freiheit von den Sünden der Vergangenheit. Sie ist eine Buß- und Beichtbitte, denn sie setzt Erkenntniß der Schuld voraus; sie ist eine Glaubensbitte, denn sie ist bedingt durch die Hingabe des Herzens an die Vergebung Gottes in Christo; sie ist eine Heiligungsbitte, denn sie fordert von denen, denen Erbarmung widerfahren ist, daß sie auch Erbarmung widerfahren lassen.

Die fünfte Bitte ist vor allen Dingen eine Buß- und Beichtbitte. Vergieb uns unsre Schuld! Es ist klar, wer das beten will, muß von vorn herein seine Schuld erkennen und fühlen. Die heilige Schrift lehrt uns auf allen ihren Blättern, daß wir alle miteinander arme Sünder sind, daß unsre Sünden riesengroße Schulden sind, daß diese unsre Schulden aus unsern eignen Mitteln unbezahlbar sind. „Es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder“, so spricht die Schrift Röm. 3. und sonst an unzähligen Stellen. „Unsre Schuld ist groß bis an den Himmel“, so lehrt sie Esra 9. und sonst an vielen Orten. „Kann doch ein Bruder Niemand erlösen, noch Gott Jemand versöhnen; denn es kostet zu viel, ihre Seele zu erlösen, daß er's muß lassen anstehen ewiglich“, so predigt sie im 49. Psalm und sonst.

Gegen die erste dieser drei Schriftwahrheiten, daß wir alle Sünder sind, zu opponiren, kann im Ernste kaum Jemandem in den Sinn kommen. Denn wenn wirklich Einer ein so irrendes Gewissen hätte, daß er von sich selbst träumte, ohne Fehl und Makel zu sein, so braucht er blos einmal an der Wand zu horchen und zu belauschen, was seine besten Freunde und Bekannten von ihm sagen, um inne zu werden, wie viel an ihm fehlerhaft ist. Daß es keinen Menschen giebt, an dem nicht andre Menschen etwas auszusetzen hätten, ist der schlagendste Beweis für den geistlichen Aussatz aller Menschen, für die von der heiligen Schrift behauptete, von Geschlecht zu Geschlecht sich forterbende allgemeine Sündhaftigkeit. Nur von vereinzelten sonderbaren Schwärmern ist je zuweilen der Satz aufgestellt worden: Der Mensch ist von Natur gut - aber alle practischen Leute, ob mit, ob ohne Glauben, haben über diesen Satz immer als über eine graue Theorie traurig gelächelt. Vor hundert Jahren hatte der Pädagog Sulzer die Direktion der Schulen in Schlesien. Derselbe wurde einst von Friedrich dem Großen über den Befund der Schulen gefragt und antwortete: „Seitdem wir auf dem Rousseau'schen Grundsatz fortgebaut haben, daß der Mensch von Natur gut ist, fängt es an, besser zu werden.“ Darauf antwortete der große König: „Ach, mein lieber Sulzer, Sie kennen nur nicht das vermaledeite Geschlecht, zu dem wir gehören.“

So sehr aber das auch im Allgemeinen von Allen zugegeben wird, daß wir zu einem vermaledeiten Geschlechte gehören, so stößt doch die andre Schriftwahrheit, daß unsre Sünden Schulden sind, die zum Himmel schreien, bei den meisten Menschen auf den heftigsten Widerspruch.

„Es schlägt des Menschen Fehl ihm selten in's Gesicht,
Er weiß die eigne Schuld partheisch zu verstecken,“

Mit allerlei Mänteln und Mäntelchen sucht der natürliche Mensch seine Schuld zu bedecken (die älteste Kunst der sündigen Menschen ist das Flechten der Feigenblätter); selbst Zuchthäusler schieben ihre Sünde eher auf alles Mögliche, auf schlechte Erziehung, auf widriges Schicksal u. s. w., als auf sich selbst. Die Leute sind rar, die aus der Tiefe ihres geängsteten Herzens unter dem Drucke des Schuldgefühles seufzen, wie weiland der große Augustinermönch in Erfurt: „O meine Sünde, Sünde, Sünde!“ Der gewöhnliche Weg nun, die Menschen von ihrer Schuld und von der Größe ihrer Schuld zu überführen, ist der, daß man sie auf den Berg Sinai führt, daß man ihnen das Gesetz predigt und die Hölle heiß macht und ihnen zeigt, wie sie von allen heiligen zehn Geboten Gottes in Wahrheit keines gehalten, die meisten selbst im buchstäblichen Sinne schnöde übertreten haben. Aber viel lauter und eindringlicher als der Berg Sinai zeugt der Berg Golgatha mit seinem Kreuze von unsrer Schuld. Von dem ungeheuren Preise einer Arznei schließt man nothwendig auf die furchtbare Größe der Krankheit. Gottes Sohn mußte sterben für uns, sterben am Holze des Fluchs, um uns zu erlösen; wie tief, wie verheerend muß das Gift der Sünde der Menschheit und mir Menschenkind in Mark und Bein gedrungen sein, daß nur der Missethätertod des Sohnes Gottes dagegen helfen konnte! Zum Fürsprecher beim Vater trat für die gefallenen Menschen der ewige Sohn in's Mittel, sobald Eva die Frucht von dem lustigen Baume gebrochen. Aber das war nicht genug. Er ließ sich herab, als der Engel des Herrn den Vätern im alten Bund zu erscheinen, auch das war nicht genug. Er erniedrigte sich also, daß er in der Fülle der Zeiten Himmel, Ewigkeit und Seligkeit verließ und allem Fleisch im Fleische erschien - es war noch immer zu wenig. Er ging umher als Prophet ohne Gleichen und predigte Worte des Lebens, wie sie nie gehört waren auf dieser armen Erde, und that Wunder der Liebe, wie sie nie gesehen waren unter der Sonne - es war nicht ausreichend. Er ließ sich fangen, er ließ sich binden, er ließ sich anspeien, er ließ sich lästern - es war nicht genug. Da ließ er sich auf's Haupt die Dornenkrone setzen, da ließ er seinen Leib mit heiligen fünf Wunden aus Fluchholz auf Golgatha, fesseln, da gab er sich hinein, er der von allen Menschen Verlassene, auch in die Nacht der Gottverlassenheit und gab sein ganzes Leben in den ganzen Tod: das erst war genug! Erst mit seinem Tode am Kreuz hat er Juden und Griechen, Männer und Weiber, Knechte und Freie, Kranke und Gesunde erlöst von ihren Sünden und die Feindschaft getödtet durch sich selbst, daß wir durch Ihn einen Zugang haben zum Vater. Ach, wollet ihr nun noch sprechen: Jeder Mensch hat seine Fehler und Mängel!? Wahrlich, das ist nicht genug. Oder wollt ihr sagen: Blos die Zuchthäusler sind arme Sünder!? Wahrlich, das ist nicht genug. Von dem ungeheuren Preise der Arznei sollen wir auf die furchtbare Größe der Krankheit aller Menschen schließen und allererst vor dem Kreuze bekennen: Herr, ich habe gemißhandelt, ja mich drückt der Sünden Last! Könnt' ein Mensch den Sand gleich zählen an dem weiten Mittelmeer, dennoch würd' es ihm wohl fehlen, daß er meiner Sünden Heer, daß er alle mein Gebrechen sollte wissen auszusprechen!

Der Gang nach Golgatha schlägt denn auch am sichersten alle widerstrebenden Gedanken nieder, die sich das stolze Menschenherz macht gegenüber der dritten Schriftwahrheit, daß die Menschheit sich nicht selber von ihrer Schuld erlösen kann. Man schicke nur die Werkheiligen und Selbstgerechten, das ganze Heer derer, die die Seligkeit erwerben, nicht ererben wollen, man schicke sie nur unter Christi heiliges Kreuz. Wer Angesichts des Hauptes voll Blut und Wunden nicht seine hochmüthigen Gedanken an Rettung und Erlösung durch eigene Vernunft und Kraft in's Wasser der Buße fallen läßt, dem treibt sie sonst nicht Wort, noch Wunder aus. Denn der beste Beweis, daß wir unsre Schuld nicht tilgen können, ist der, daß sie der Sohn Gottes mit seinem theuerbaren Blute hat tilgen müssen. „Seele, geh' nach Golgatha, setz' dich unter Jesu Kreuze und bedenke, was dich da für ein Trieb zur Buße reize. Willst du unempfindlich sein, o so bist du mehr als Stein!“ -

Vergieb uns unsre Schuld, so lehrt der Mittler beten. Wir haben unsre Sünde erkannt, wir fühlen sie als Schuld, wir sind mit Schrecken inne, daß wir die Schuld nicht tilgen können. So sind wir doch dadurch allein noch nicht wohlgeschickt, die fünfte Bitte zu beten. Die bloße Erkenntniß der Sünde führt nicht zum Gebete: Vergieb uns! sondern führt zur Verzweiflung. Judas Ischarioth, da er sprach: „Ich habe übel gethan, daß ich unschuldig Blut verrathen habe“, erkannte seine Sünde auch, fühlte sie als Schuld, ward mit Schrecken inne, daß er die Schuld nicht tilgen könne. Aber seine Hände falteten sich nicht zur fünften Bitte, seine Lippen stammelten, kein: Vater, vergieb. Die Centnerschwere seiner Schuld erdrückte ihn, so ging er hin und erhängte sich selbst.

Vergieb uns unsre Schuld! Um Vergebung beten kann nur, wer an die Vergebung Gottes in Christo glaubt. So ist die fünfte Bitte nicht blos eine Buß- und Beichtbitte, sondern auch eine Glaubensbitte.

Das größte weltgeschichtliche Beispiel, wie sich die Menschenseele aus den Tiefen der Buße zu den Höhen des Glaubens durchringt, ist jener Augustinermönch von Erfurt, ist der deutsche Reformator Dr. Martin Luther. Seine Sündenschuld mit dem ganzen, dürren Ernste erfassend, dessen ein deutsches Gemüth fähig ist, mattete er seinen Leib ab mit Fasten, Kasteien und Wachen, hielt täglich Messen und rief in jeder Messe drei Patrone an; aber je weiter er auf diesem Wege fortging, desto weniger konnte er sein Gewissen vor dem Stecken des Treibers befriedigen, desto mehr wurde er erschreckt und den dunklen Abgründen des Mißglaubens und der Verzweiflung nahe geführt. Da wies ihn ein alter Klosterbruder, dessen Luther nachmals und noch in seinen spätesten Jahren zum öfteren mit Dank und Ehren gedachte, auf den hohen Artikel des christlichen Glaubensbekenntnisses: Ich glaube an eine Vergebung der Sünden und legte ihm diesen Artikel kräftig also aus: Es sei nicht genug, im Allgemeinen zu glauben, daß Etlichen vergeben werde, wie auch die Teufel glauben, daß dem David und Petrus vergeben sei, sondern das sei Gottes Wille, daß jeglicher glaube, daß ihm persönlich vergeben wird. Durch diese Rede wurde Luther nicht blos gestärkt, sondern auch auf den Satz gewiesen, den der Apostel so oft einschärft: Wir werden durch den Glauben gerecht; und indem er durch tägliches Gebet den Glauben in sich erweckte, bekam er nicht nur für sich selbst die Freudigkeit, an die Vergebung seiner Sünden im Blute Jesu Christi zu glauben, sondern auch den Muth, diesen Glauben an die Vergebung der Schuld in Christi Jesu laut und kühn in die Welt hinein zu predigen, und ward so das auserwählte Rüstzeug, durch welches Gott die Kirche der Reformation gründete, deren Wahlspruch ist: Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid, damit kann ich vor Gott besteh'n, wenn ich zum Himmel werd' eingehn.

In diese Grundlehre der evangelischen Kirche von der Vergebung der Sünden im Blute des Lammes Gottes gilt es sich täglich immer tiefer zu versenken, so wird die Bitte: Vergieb uns unsre Schuld immer wahrer, immer brünstiger, immer himmelandringender, immer erhörlicher aus unsern Herzen aufsteigen. Aller Kleinmuth, aller Zweifel, alle Einwürfe des mäkelnden Verstandes werden in den Wunden Christi auf ewig begraben. Auf der Schädelstätte vor Jerusalem wird man des Beides inne, sowohl daß bei uns ist der Sünden viel, als auch daß bei Gott ist viel mehr Gnade. Man ergreift etwa zuerst schüchtern nur den Mittler am Saume seines Kleides, aber unter dem Beten wächst der Muth, man wirft sich endlich ganz in seine Arme, und betet, von ihm allmächtig getragen: Vater, vergieb uns durch Deinen lieben Sohn, der unsre Sünde am Holze des Fluches gesühnt hat! Und der den Sohn um unsrer Sünden willen dahingegeben und um unsrer Gerechtigkeit willen auferweckt hat, vergiebt um seinetwillen allen Sündern ihre Schuld, die in Jesu Namen um Vergebung bitten, also daß sie fröhlich jauchzen können:

„Ich hatte nichts als Zorn verdienet
und soll bei Gott in Gnaden sein;
Gott hat mich mit sich selbst versühnet
und macht durchs Blut des Sohns mich rein.
Nun weiß ich das und bin erfreut
und rühme die Barmherzigkeit.^

Aber wenn nun Gott die Vergebungsbitte in Gnaden um seines Sohnes willen erhört, und er erhört sie immer, wo die Hand der Buße und die Hand des Glaubens sich faltend in einander legen, ist es dann noch noth, diese Bitte wieder und immer wieder zu beten? Gewiß, das tägliche Anhalten an der fünften Bitte ist ebenso noth, als das tägliche Anhalten an der vierten Bitte; denn nicht umsonst sind die vierte und die fünfte Bitte durch das Wörtchen und verbunden, nicht umsonst läßt der Herr das „Gieb und vergieb“ die Jünger in Einem Athem sagen. Zuvörderst ist die tägliche Wiederholung der Vergebungsbitte darum nothwendig, weil wir nicht für uns allein beten, sondern für die ganze Gemeinschaft der Familie, des Volks, der Menschheit, in der wir stehen. Ist auch dem einzelnen gläubigen Beter seine Schuld vergeben, so lebt er doch unter Tausenden und Millionen, die noch mit unvergebnen Sünden dahinleben; für sie soll er täglich mit eintreten und beten, nicht: Vergieb mir, sondern: Vergieb uns unsre Schuld. Hiob trat mit diesem Vergebungsgebet für seine Kinder ein; wenn sie wohllebten, opferte er Brandopfer nach ihrer aller Zahl; denn er gedachte: Meine Söhne möchten gesündigt haben. Der Herr selbst aber trat mit diesem Gebet sogar für seine Feinde ein, und während sie unter seinem Kreuze ihn höhnten und lästerten, betete er: Vater, vergieb ihnen; denn sie wissen nicht, was sie thun. So soll der Christ täglich für Freunde und Feinde beten, daß Gott ihnen ihre Sünde nicht anrechne; und ach, ist es wohl je so nöthig gewesen, für die Gesammtheit um Vergebung zu bitten, als in dieser Zeit des Abfalls und der Empörung gegen Gott?

Sodann aber ist die tägliche Wiederholung der Vergebungsbitte auch nothwendig um unsrer selbst willen. Denn ob Gott der Herr auch unser Flehn und Seufzen um Gnade bis gestern Abend erhört habe und unser Leben bis zum letzten Sonnenuntergang reingewaschen sei von aller Schuld durch des Lammes Blut, jeder Einzelne hat seit dem letzten Vaterunser schon wieder so viel Sündiges gedacht, geredet und gethan, daß wir ohne neue Vergebung für heute arme, verlorne Leute wären. Auch dem Gläubigsten klebt so viel Sünde an, daß vierundzwanzig Stunden ohne göttliche Vergebung genug und übergenug wären, ihn dem ewigen Verderben zuzuführen. Es ist wohl gesagt worden, Gott habe den Gläubigen mehr Sünde zu vergeben, als den Ungläubigen; das ist mehr geistreich, als wahr. Aber das ist wahr und bleibt wahr, daß so lange wir im Leibe dieses Todes wallen, so lange auch der alte Adam mit uns geht, der sich täglich in Schwächen, Fehlern, Sündenschulden bei uns zu erkennen giebt. Darum ist uns denn Vergebung für. unsre Seele tagtäglich ebenso noth, als das liebe Brod für unsern Leib; und so müssen um unser selbst willen die Seufzer „gieb und vergieb“ täglich bei uns zusammen sein. „Wir bitten in diesem Gebet, spricht Luther in der Catechismuserklärung, daß der Vater im Himmel nicht ansehen wolle unsre Sünde und um derselben willen solche Bitten nicht versagen; denn wir sind der keines werth, das wir bitten, haben's auch nicht verdienet, sondern er wolle uns Alles aus Gnaden geben; denn wir täglich viel sündigen und wohl eitel Strafe verdienen.“ Die tägliche Sünde treibt uns täglich in die Buße und täglich in den Glauben, und dieser Bußglaube legt uns täglich das Gebet auf die Lippen: Vergieb uns unsre Schuld!

Bei alledem aber ist die fünfte Bitte nichts weniger als ein Ruhepolster für die Sünder, wie leichtsinnige oder böswillige Menschen sie wohl angesehn haben, als könne man getrosten Muthes immer fortsündigen, da auf ein kurzes: „Herr, vergieb uns!“ auch die blutrotheste Sünde schneeweiß würde. Nein, so kann die Vergebungsbitte schon deswegen nicht gemeint sein, weil sie eine Bußbitte ist und innerliche Erkenntniß der Schuld zur Voraussetzung hat; wie könnte der Mensch, dem seine sündenvolle Vergangenheit Schrecken erregt, muthwillens zur alten Schuld neue häufen? Und auch deswegen kann die Vergebungsbitte nimmermehr dem Leichtsinn zu Gute kommen, weil sie eine Glaubensbitte ist und Hingabe an Gott in Jesu Christo zur Voraussetzung hat; wie könnte der Mensch, der sich in Gottes heilige Hände gelegt, muthwillens ein so großes Uebel thun und gegen Gott sündigen, den er anbetet? Es kommt aber endlich noch hinzu, daß die fünfte Bitte eine sehr ernste Clausel hat, die da lautet: als (so steht im Catechismus) oder wie (so steht in der Bibel) wir vergeben unsern Schuldigern. Durch diese Clausel, die sowohl das zuversichtliche Gefühl der Versöhnung, als auch das Gelübde der Versöhnlichkeit ausdrückt, steht die fünfte Bitte zugleich ausdrücklich als Heiligungsbitte da, die alle leichtsinnige Lust zur Sünde ebenso wenig verträgt, als das Feuer Wasser verträgt.

„Als wir vergeben unsern Schuldigern“ - dieser Zusatz zur fünften Bitte will nicht das Erbarmen Gottes über arme Sünder in Christo Jesu verkleinern, sondern vergrößern. Er will nicht das Maaß sein für Gottes Erbarmen, als ob Gott gerade so und in derselben kümmerlichen Weise dem Menschen vergäbe, wie der Mensch dem Menschen vergiebt; er will auch nicht der Grund sein für Gottes Erbarmen, als ob Gott dem Menschen vergäbe, weil der Mensch dem Menschen vergiebt; sondern er ist ein einfacher Ausdruck der Folge der göttlichen Vergebung und besagt: Gottes Erbarmen in Jesu Christo ist so groß, daß es nicht nur dem bußgläubigen betenden Sünder die Sünde vergiebt, sondern auch ihm zugleich eine solche Liebe einpflanzt, daß nun auch er selber seinen Mitsündern vergiebt. Von Natur hat der Mensch eine solche Liebe nicht. Der natürliche Mensch ist mehr oder minder empfindlich, nachtragend, unversöhnlich und sprüht Flammen und Feuer, wenn sein kleines Ich angetastet wird. Sobald aber die Vergebungsgnade Gottes ausgegossen ist in das Herz eines Sünders, wird dasselbe Herz durchdrungen von dem sanftmüthigen Sinne vergebender Liebe; denn wenn es stark vom Himmel regnet, so laufen die Tonnen unter dem Dache über. St. Stephanus, als ein Mann voll Glaubens an die Vergebung der Sünden in Jesu Christo, konnte sterbend auch im Sinne Jesu Christi seinen Mördern vergeben und beten: Herr, behalte ihnen die Sünde nicht! Und wie St. Stephanus, so ist jeder rechte, gottbegnadigte Christ wie jener Sandelbaum im Morgenlande, der die Axt, die ihn umhaut, noch mit Wohlgeruch umduftet. Darum auch Dr. Luther, im Versenken in die Erbarmung Gottes in Jesu Christo, die uns Alles vergiebt, seine Erklärung der fünften Bitte mit den Worten schließt: „So wollen wir zwar d. i. in Wahrheit auch wiederum herzlich vergeben und gerne wohlthun denen, die sich an uns versündigen.“ Ist aber sanftmüthige, vergebende Liebe die Folge der göttlichen Vergebung, so ist sie damit zugleich ein Kennzeichen derselben, ein Wahrzeichen, daß uns selber Erbarmung widerfahren ist. Wem das Gefühl der Versöhnlichkeit fehlt, der darf und kann sich auch seinerseits nicht der vergebenden Liebe Gottes getrosten. Ein mittelalterlicher Ritter lebte mit einem seiner Nächsten in Fehde und Zwietracht und hatte ihn bitter gekränkt. Er fragte einen Priester, ob Gott ihm diese Sünde vergeben könne, und der Priester antwortete: Nein. Da wandte er sich an einen andern Priester und dieser sagte ihm, freilich könne und wolle Gott ihm vergeben, und mahnte ihn dann, er möge nun auch hingehn und den Beleidigten um Vergebung bitten. Das aber war dem Ritter zu hart und zu groß, und er ging davon. Der Priester aber rief ihm nach, er habe sich sehr in seiner Antwort geirrt, der erste Priester sei klüger gewesen; denn bei solchem verhärteten Seelenzustande sei allerdings auf Vergebung von Gottes Seite nicht von ferne zu hoffen. Versöhnlicher Sinn hängt mit dem vergebenden Erbarmen Gottes so innig zusammen wie die Blüthe mit dem Baume; wer ihn nicht hat, kann auch die Zuversicht der eignen Schuldvergebung nicht haben; aber wer den Sinn der Liebe hat, der darf es fröhlich rühmen, daß seine Liebe ein Tropfen ist am Eimer, aus dem Gottes vergebende Liebe in Strömen über ihn geflossen ist.

Andrerseits hat der Zusatz „als wir vergeben unsern Schuldigern“ denn auch einen stärken Stachel an sich, der den, der Gott um Vergebung bittet und dem an der göttlichen Vergebung etwas gelegen ist, mächtig in die Versöhnlichkeit treibt; und in diesem Sinne mag man den Schluß der fünften Bitte auch als Gelübde der Versöhnlichkeit fassen. Und schleicht sich je in unbewachten Augenblicken in unser wunderliches Herz wieder Unversöhnlichkeit ein, so sollen wir uns flugs des Gelübdes erinnern, daß wir versprochen haben und täglich versprechen, unsern Schuldigern zu vergeben; solche Erinnerung wird, wo der Glaube nicht ganz erstorben ist, die schlafende Liebe wieder erwecken. Eine schöne Geschichte aus dem christlichen Alterthum bietet einen Belag dafür. Der Bischof Johannes in Alexandrien war fortwährend bemüht, den Frieden in seiner Gemeinde zu erhalten und entstandene Zerwürfnisse wieder zu beseitigen. Nur ein einziger hochgestellter Mann wollte sich nicht zur Versöhnung herbeilassen. Da führte ihn der Bischof in eine Kirche und betete mit ihm laut das Vaterunser. Als es aber zur zweiten Hälfte der fünften Bitte kam, schwieg er und ließ den Unversöhnlichen das Wort: „Wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ allein sprechen. Und diese sechs Wörter, welche von allen Wänden und Säulen der leeren Kirche wiederhallten, drangen so unwiderstehlich und schneidend in das Herz des Verstockten und Verhärteten, daß er weinend dem Bischof zu Füßen fiel und sich von Herzen mit seinem Feind versöhnte. Das Urtheil, das er über sich selbst fällte, hatte seine Hartnäckigkeit gebrochen.

Wir scheiden von der fünften Bitte, nachdem wir sie erkannt haben als die aus täglicher Buße und täglichem Glauben geborne Lebensbitte um Sündenvergebung, die Liebe und Versöhnlichkeit zum täglichen Gefolge hat. Wir gedenken nur noch kurz der weitverbreiteten Annahme, der Heiland habe zwar alle andern Bitten selbst mitbeten können, diese fünfte Bitte aber habe er nur lehren, nicht aber beten können. Wir achten, gerade diese Bitte habe der Heiland am allerbrünstigsten gebetet. Wohl war Er für seine Person ohne Schuld, und Niemand konnte ihn einer Sünde zeihen; „vergieb mir meine Schuld,“ so hätte er allerdings nicht beten können. Aber so lautet die fünfte Bitte auch gar nicht, sondern sie. lautet: „Vergieb uns unsre Schuld!“ Sollte nun der, der unsre Schuld getragen, sonst müßten wir verzagen, unsre Schuld nicht auch betend getragen haben? Ei, das Kreuz Jesu Christi auf Golgatha ist nichts mehr und nichts minder als das verkörperte, glühendste Gebet des Stellvertreters der schuldigen Menschheit: „Vater, vergieb uns unsre Schuld!“ und die Auferweckung des Gekreuzigten von den Todten ist das großartigste, thatsächlichste göttliche Amen auf diese Bitte. Amen.

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