Quandt, Carl Wilhelm Emil - Die zweite Bitte.

Quandt, Carl Wilhelm Emil - Die zweite Bitte.

Dein Reich komme.

In der Stadt Leipzig lebte zur Zeit des dreißigjährigen Krieges ein rechtsgelehrter Mann Namens Christian Schürer. Er war nicht blos ein guter Jurist, sondern auch ein guter Christ. Er war ein gottinniger Mann. Derselbe nahm einst in seinen Nachtgedanken, da er nicht schlafen konnte, das Vaterunser vor sich und überlegte bei sich selber, welche von den sieben Bitten für die beste und vornehmste zu halten sei. Es erschienen ihm aber alle sieben Bitten als Glieder einer goldenen Kette, da eins fest an dem andern hängt und keines von den andern kann gesondert werden. Doch die zweite Bitte, in der wir um die Zukunft des Reiches Gottes anhalten, funkelte ihm am goldigsten, und er erwählte sie auch in der Folge zu seinem Leichentext.

Der alte Leipziger Rechtsgelehrte hat Recht. Die Bitte: „Dein Reich komme!“ ist die glänzendste und schönste Perle an der Schnur der sieben Bitten. Wohl sitzt ihr das Glänzende und Schöne nicht äußerlich. Sie ist die kürzeste aller Bitten, sie besteht nur aus drei schlichten Worten. Das Große sitzt dieser Bitte innerlich. Was die drei Worte erflehen, ist das Größeste, das Süßeste, das Herrlichste, was ein Mensch von seinem Gott für sich und die Welt erbitten kann.

Auf das Reich Gottes geht diese Bitte. So reiht sie sich trefflich an die erste Bitte, die auf den Namen, d. i. auf die geoffenbarte Person Gottes sich bezog. Wenn man am Throne seines irdischen Königs gute Wünsche für sein persönliches Wohl niedergelegt hat, so, knüpfen sich daran von selber die guten Wünsche für das Gedeihen seines Reiches, denn mit der Person des Fürsten ist ja sein Reich auf das Engste verbunden. Was aber irdischen Majestäten recht ist, ist der höchsten Majestät im Himmel billig. Darum weist unser gottmenschliche Vorbeter seine Jünger au, nachdem sie gebetet haben: „Geheiliget werde Dein Name!“ zu beten: „Dein Reich komme!“

Es giebt aber der Reiche Gottes gar viele. Unser Gott ist ein König, der. auf seinem Haupte viele Kronen trägt, ein Souverain, in dessen Händen die Hügel des Regimentes über viele, über alle Gebiete liegen. Welchem dieser Reiche gilt die zweite Bitte?

Unser Gott ist ein König der Geister, Jehovah Zebaoth, der Herr der Heerschaaren. Es giebt im Herzpunkte der unermessenen Welt ein seliges, harmonisches Reich voller Thronen und Herrschaften, Fürsten und Gewaltigen im Licht, Erzengel und Engel, die Gotte dienen ohne Aufhören; und es giebt ferne davon ein Sibirien der verbannten Geister, ein unseliges, disharmonisches Reich voller Fürsten des Abfalls und Gewaltigen der Finsternis, die behalten sind zum Gericht des großen Tages mit ewigen Banden. Diese beiden Geisterreiche sind nicht gemeint mit dem Reich der zweiten Bitte.

Unser Gott ist auch ein König der stummen Creator. Sonne, Mond und Sterne folgen dem Winke seiner Augen; in seiner Hand ist, was die Erde bringt, und die Höhen der Erde sind auch sein. Sein ist auch das Meer und er hat es gemacht; er sitzet auf Cherubim, darum reget sich die Welt. Spricht er: „Bis Hieher und nicht weiter!“ so legen sich die stolzesten Wellen; beliebt es ihm, die Erde reinzufegen, thun sich die Fenster des Himmels auf und brechen die Gründe der Beste auf und die Fluth vertilget alles Fleisch. Das ist das große Reich der Natur mit seinen Millionen und aber Millionen von Provinzen. Das ist auch nicht das Reich der zweiten Bitte.

Unser Gott ist auch ein König der Könige dieser Erde. Denn die Könige dieser Welt haben von Ihm ihre Gewalt zu Lehn empfangen und sind Ihm verantwortlich. Der Höchste hat Gewalt über der Menschen Königreiche und giebt sie, wem er will. Alle Reiche dieser Welt sind seine Reiche, stehen unter seiner Oberhoheit. Diese Reiche sind auch nicht gemeint in der zweiten Bitte.

Es giebt aber außer den Geisterreichen, den Naturreichen und den Weltreichen noch ein anderes Reich Gottes, das so viel höher ist als jene, so viel der Himmel höher ist, als die Erde. Das ist das Reich des Vaters, der im Himmel ist, das er hat unter seinen Kindern auf Erden, die seinen Namen heiligen. Dieses Liebesreich gründete Gott am Anfang der Tage, da er die Menschen schuf nach seinem Bilde und gab ihm eine Gehülfin, die um ihn sei, und ein Stück Himmel auf der Erde, das Paradies, darin er lebte. Gott hatte viele Unterthanen im weiten All der Welt, aber hier hatte er Kinder, die ihn als Vater erkannten, anerkannten und bekannten. Seine Füße rauschten durch dies Reich Abends, wenn der Tag kühle geworden war; und mit seiner Gottesstimme redete er hier mit seinen Kindern, wie ein Freund mit seinem Freunde redet. Dieses Reich Gottes ging verloren durch den Sündenfall; durch die Sünde ward uns das Reich genommen, da Fried' und Freude lacht. Gott der Herr trieb den sündigen Menschen aus diesem seligen Reiche Gottes auf Erden in das Reich dieser Welt, und lagerte vor das verschlossene Reich den Cherub mit einem bloßen, hauenden Schwert.

Was in den Liedern und Sagen aller Völker von Erinnerungen lebt an ein verschwundenes goldenes Zeitalter im Morgenroth der Weltgeschichte, das sind Andenken an das schöne Reich Gottes im Anfang der Tage. Was uns die heilige Schrift berichtet vom Garten Eden mit seiner Lust und Wonne - Hinweisungen sind es auf dasselbe Reich der heiligen Kinder Gottes im Anfang.

In der heiligen Schrift aber erinnerte Gott die Menschheit nicht nur an das genommene Reich Gottes am Anfang der Tage, sondern er verhieß auch, es sollte wiederkommen in der Fülle der Tage in dem andern Adam, der wieder gut machen würde durch seinen Gehorsam bis zum Tode am Kreuz, was der erste Adam schlecht gemacht durch seinen Ungehorsam wider Gott. Und Gott verhieß dies Reich nicht nur, er bahnte es auch an durch den alten Bund des Gesetzes, das ein Zuchtmeister war auf Christum, und bildete es vor in dem Reiche Israel. Und als die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz gethan, auf daß er die, so unter dem Gesetze waren, erlösete, daß wir die Kindschaft empfingen. In Jesu Christo, dem Sohne Gottes und der Jungfrau, war das Reich Gottes von Neuem da auf Erden, denn Gott hatte auf dieser armen Erde wieder ein heiliges, makelloses Kind, das zu ihm: Abba, lieber Vater! sprechen konnte und das seinen Vaternamen verklärte auf Erden. In Jesu Christo brach das goldne Zeitalter von Neuem an; in Jesu Christo lebte das Paradies auf Erden von Neuem auf; in Jesu Christo war das Reich Gottes auf Erden, das im Anfang der Tage gegründet und im Lauf der Tage durch die Sünde verloren war, wieder in handgreifliche Wirklichkeit getreten. Wieder that sich der Himmel auf über der Erde, wie weiland, und Gottes Stimme sprach: Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Darum hob Jesus an zu predigen das Evangelium vom Reiche Gottes und zu zeugen: Die Zeit ist erfüllet und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Das Reich Gottes ist mitten unter euch!

Es hat einmal ein französischer Herrscher gesagt: Der Staat bin ich! Mit viel größerem Rechte konnte Christus Jesus von sich sagen: Das Reich Gottes bin ich! Aber er wollte das Reich Gottes nicht allein bleiben, er war vielmehr dazu in die Welt gekommen, daß das Reich Gottes einen verlorenen Sünder nach dem andern in sich aufnehme, daß dem großen Könige in diesem seinem heimeligsten Reiche Kinder geboren würden, wie der Thau aus der Morgenröthe. Darum gab er sein unschuldiges Leben in den Tod zur Sühne für die Sünden der Menschen und vollendete mit Einem Opfer in Ewigkeit, die da geheiliget werden; darum sandte er, auferweckt und gen Himmel gefahren und auch nach seiner Menschheit mit der Herrlichkeit verklärt, die er nach seiner Gottheit hatte bei dem Vater, ehe denn die Welt war, seinen und des Vaters heiligen Geist, daß er die Sünder hineinrufe in die durch Ihn erfundene ewige Erlösung, daß er sie sammle um Ihn, daß er sie erleuchte und heilige in Ihm, auf daß also Christus Jesus und in Ihm das Reich Gottes getragen werde von Herz zu Herz über die weite Erde als ein Reich von Kindern Gottes auf Erden, die den Namen des Vaters heiligen.

Dein Reich komme! lehrt Jesus beten. Dieses Reich meint er in der zweiten Bitte, das Reich Gottes unter den Menschen in Jesu Christo durch den heiligen Geist. Wenn der himmlische Vater uns seinen heiligen Geist giebt, daß wir seinem heiligen Worte durch seine Gnade glauben und göttlich leben hier zeitlich und dort ewiglich, dann ist das Reich Gottes unter uns und in uns. Nun kommt Gottes Reich wohl ohne unser Gebet von ihm selbst; aus lauter väterlicher, göttlicher Güte hat Gott seinen Sohn gesandt; aus souverainer Gnade hat der Sohn den Tröster, den heiligen Geist gesandt; aus selbstständigem Erbarmen hat der heilige Geist die heilige christliche Kirche gegründet und ihr zur Spende und Bewahrung Wort und Sacrament gegeben, daß durch dieselben fort und fort ein heiliger Same erzeugt werde von Kindern Gottes auf Erden, die durch Jesum Christ den Namen des Vaters heiligen. So kommt Gottes Reich wohl ohne unser Gebet von ihm selber; aber wir bitten in diesem Gebet, daß es auch zu uns komme.

Zu uns komme Dein Reich, so beten wir in der zweiten Bitte, und hat dabei ein Jeder zunächst an sich selber zu denken:

„Zeuch Du in mein Herz hinein,
o Du großer Ehrenkönig,
laß mich Deine Wohnung sein;
bin ich armer Mensch zu wenig,
ei, so soll's mein Reichthum sein, \ wenn Du bei mir ziehest ein.“

Es ist kein Widerspruch, innerhalb der christlichen Kirche zu leben, wiedergeboren durch die heilige Taufe aus Wasser und Geist und Jesum Christum im Herzen tragend, wie geschrieben steht: „So viele euer getauft sind, die haben Christum angezogen“ - und doch zu bitten: „Jesu, komm doch selbst zu mir mit Deinem Reiche! Dein Reich komme zu mir!“ Denn wenn auch das Reich Gottes durch Sacrament und Wort im gläubigsten Herzensgrunde gegründet ist, so geht doch der alte Adam mit uns, bis wir sterben; und so viel alter Adam in uns ist, so viel Raum ist dem neuen Adam, dem Herrn Jesus, und damit auch dem Reiche Gottes noch versperrt. Es ist das Menschenherz, so klein es ist, ein großes, weites Haus mit vielen Zimmern, Kammern und Kämmerchen. Sind wir getauft und glauben wir an den Herrn Jesum Christum, so ist damit das Mittelzimmer des Herzens dem großen Gotte eingeräumt, daß Niemand darf drin wohnen, als Jesus allein, daß Niemand darin herrschen und regieren darf, als der Herr und Er allein:

„In meines Herzens Grunde
Dein Nam', Herr Christ, allein,
funkelt all' Zeit und Stunde,
deß kann ich fröhlich sein!“

Aber in den andern Zimmern des Herzens - ach, hier wohnt vielleicht die Sorge und dort der Geiz nach eitler Ehre; in dieser Kammer vielleicht der Eigensinn, in jenem Kämmerchen vielleicht die Scheelsucht. Aber vor Gott gilt kein halbirtes Leben, Gott krönet kein getheiltes Herz. Wie nöthig, wie wichtig ist da die Bitte: „Dein Reich komme, komme zu mir! Herr Jesu, sprenge die Schlösser; treibe aus allen Zimmern und Kammern meines Herzens die bösen Miether aus; richte Dich wohnlich ein auch in den Hinterstuben meiner Seele, bis alle Räume meines inwendigen Menschen ein einziges großes Bethaus sind, ein einziges großes Heiligthum, darinnen Du nach Deiner Lust schalten und walten kannst!“ Wo Jesus wohnt nicht blos im Gemüthe, auch im Verstande, nicht blos auf der Zunge, auch in der Hand; wo Jesus wohnt im ganzen Menschen, wo nicht der Mensch mehr lebt, sondern Christus lebet in ihm: da ist das Reich Gottes im Menschen zum völligen Durchbruch gekommen; da gilt es in voller, seliger Wahrheit: „Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum wir leben oder wir sterben, so sind wir des Herrn!“ Aber wer ist, der solches in vollem Sinne von sich aussagen könnte? Es trifft bei allen Heil'gen ein, sieht man erst in ihr Buch hinein, daß sie voll vieler Sünde sein! Darum gilt es zu beten, um der Ehre Gottes und um des eignen Heiles willen brünstig zu beten: Dein Reich komme zu uns und vor Allem zu mir!

Zu uns komme Dein Reich! Der Blick erweitert sich und geht vom Herzen des Betenden auf sein Haus. So Jemand seine Hausgenossen nicht versorgt, der ist ärger als ein Heide. Schwer ist's oft für den Vater, die Mutter, die Hausgenossen leiblich zu versorgen, noch schwerer, sie geistlich zu versorgen. Manche Eltern können sich matt und müde predigen, ihre Kinder bleiben dennoch ferne dem Reiche Gottes. Manche Herrschaften gehn mit dem besten Beispiel im Glauben voran und ziehen doch ihr Gesinde nicht hinterdrein. So sind die Häuser rar, „wo aller Herzen Gott entgegenschlagen, und aller Augen freudig auf Ihn sehn.“ Wie kommt das Reich Gottes, das Reich, „da Fried' und Freude lacht“, wie kommt es in unsre Häuser, In unsre Kinder und Anverwandten und Gesinde? Wenn wir fleißiger die zweite Bitte beten, wenn wir keinen Abend schlafen gehn, ohne mit festem Blick auf unser ganzes Haus und alle seine Glieder bis auf den Säugling in der Wiege zu flehen: Dein Reich komme! Denn was die Liebe flehet, ist ein Korn in Gottes Herz gesäet; die Wirkung der zweiten Bitte als Fürbitte für die Unsrigen ist so groß, als die Wirkung eines Körnleins, das man in die Erde streut und das aufgeht und in Aehren schießt. Dafür bietet die Geschichte der Christenheit aus alter und neuer Zeit Beweise genug. Die gottselige Mutter Monica im fünften Jahrhundert hatte ihren Sohn Augustinus auferzogen in der Zucht und Vermahnung zum Herrn, aber umsonst, der Sohn lebte dahin ohne Gerechtigkeit, ohne Friede und Freude im heiligen Geist. Monica aber hielt an am Gebet und betete ohne Unterlaß mit vielen Thronen zu Gott, er möge doch sein heiliges Reich in die Seele ihres Sohnes kommen lassen, und weinte um ihren unbekehrten Sohn mehr, als andre Mütter um den leiblichen Tod ihrer Kinder trauern. Da sagte ihr einst ein Bischof: Sei getrost, Monica; ein Sohn so vieler Thränen und Gebete kann nicht verloren gehn. Und - zwölf Jahre hatte sie die zweite Bitte für ihren Sohn gebetet, da schlug die Stunde der Erhörung; ihr Sohn wurde bekehrt, und die fromme Mutter pries die Gnade des Herrn. Der fromme Gottesmann Spener hatte einen Sohn, der trotz aller väterlicher Mahnungen sein Herz an die Welt und ihre Lust verkauft hatte. Spener flehete Tag aus Tag ein zum Herrn, er möge den Sohn lieber früher von der Welt nehmen und nur sein Reich in Jesu Christo zu ihm kommen lassen. Der Herr erhörte dies Gebet. Der Sohn fiel in eine tödtliche Krankheit und bekehrte sich auf dem Sterbebette zur Freude und zum Dank des Vaters. Dein Reich komme! - wer seine Hausgenossen geistlich treu versorgen will, der bete diese Bitte fleißig.

Zu uns komme Dein Reich! - Wie man für Herz und Haus das betet, so soll man's auch beten für das ganze Volk. Aller Patriotismus ohne dies Gebet ist weihelos und haltlos. Unser Volk hat das Christenthum, denn es hat Wort und Sacrament in der christlichen Kirche; aber nur Wenige unseres Volks haben das Reich Gottes, nur Wenige haben die Kindschaft durch Jesum Christum und was daraus folgt: Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist. Darum so rauschend und so glänzend das Leben dieser Zeit von außen erscheint, inwendig in den Herzen unseres Volkes wohnen zumeist die Leere und der Jammer, der Zweifel und die Furcht. Wer sorgsam unser Volk betrachtet, wird Verzagtheit auf Millionen Stirnen wahrnehmen und wird mitten unter den Ausbrüchen gellenden Gelächters einen Mark und Bein durchdringenden Klageton tiefen, namenlosen Wehs durchhören. Unser Geschlecht ist krank, viel kränker als man meint.

„Der Eine denkt, er hat's ergriffen,
und was er hat, ist nichts, als Gold;
der will die ganze Welt umschiffen,
nichts als ein Name wird sein Sold.
Der greift nach einem Siegerkranze
und der nach einem Lorbeerzweig,
und so wird nach verschiednem Glanze
getäuscht ein Jeder - keiner reich!“

Ist denn keine Salbe in Gilead? Ist denn kein Arzt vorhanden? Ei freilich, Jesus ist da und sein Reich ist da! Ihr Patrioten, betet es nur schön in die Herzen unseres Volks hinein! Es wird ja in unseren Tagen von den Gläubigen viel Samariterdienst an unserm Volke gethan, um seine Wunden zu heilen; es werden Rettungshäuser gebaut und Krankenhäuser, Asyle für Gefallene und Herbergen zur Heimath; es werden Kirchen und Kapellen errichtet; es werden Bibeln und Tractate verbreitet. Gesegnet sei diese Arbeit, aber daß nur über dem Arbeiten für das Volk nicht das Gebet, das Reichsgebet für das Volk vergessen werde! Daß heilige Herzen und Hände sich Tag für Tag zum Himmel erheben, möchten für unser Volk, und die ganze Betgemeine der Gläubigen anhalten möchte am Flehen: Dein Reich komme zu unserm Volke!

Wenn aber schon unser christliches Volk, das im Schooße der heiligen Kirche lebt, dieser Reichsbitte als Fürbitte dringend bedarf, um wie viel mehr ist es nöthig, die zweite Bitte zu beten für jene Völker, denen seit Jahrtausenden kein Evangelium erschienen, kein gnadenreicher Morgenstern, für jene Völker, die noch in Finsterniß und Schatten des Todes sitzen - und nicht minder für jenes eine arme Volk, das den Sohn Gottes gekreuzigt und sein Blut über sich gerufen hat und irret nun seit achtzehn Jahrhunderten umher in der weiten Welt ohne Heiligthum und ohne Frieden! Ja, für Israel und die Völker der Heiden haben wir die zweite Bitte sonderlich zu beten, daß Gottes Reich komme zu seinen verlorensten Kindern, daß Gottes Wort recht schnell laufe, bis kein Ort der Erde mehr ohne seinen Glanz und Schein sei. Man muß es ja unserer Zeit zum Ruhme nachsagen, sie thut mehr für die Mission, als die letzten Jahrhunderte gethan; aber daß unter den Missionschristen viel Vergeßlichkeit, Lauheit und Trägheit gerade im Beten herrscht, läßt sich dabei nicht wegleugnen. Es thut noth, immer wieder und wieder zu erinnern, daß die Mission ohne Gebet weniger als nichts ist, aber mit dem Gebete eine Großmacht, der ein Reich der Erde nach dem andern sich unterwerfen muß. Man betet ja wohl die zweite Bitte für die Heiden und Juden jeden Sonntag in der Kirche: „Segne nach Deiner Verheißung die Predigt des Evangeliums zur Ausbreitung Deines Reiches auch unter Heiden und Juden und laß Dir den Dienst Deiner Knechte an diesem Werke der heiligen Mission wohlgefallen.“ Aber das Missionsgebet soll nicht blos eine Glocke im Glockenthurme sein, die nur Sonntags geläutet wird, sondern eine Glocke im Herzen, die da läutet ohne Unterlaß. So zu beten hat ein armer Steinklopfer in London verstanden und hat auch die Frucht davon genossen. Er sah einst bei seiner mühsamen Arbeit einen fremden schwarzen Mann, welcher von einem Hügel aus die Riesenstadt betrachtete. Er wunderte sich lange, was der Neger eigentlich vorhabe, bis dieser ihn in gutem Englisch fragte, was denn der große Bau dort in der Ferne sei. Der Steinklopfer rückte seinen Schirm weg, mit dem er die Augen gegen die Steinsplitter schützte, und sagte: „Das ist die Paulskirche“ und nennt ihm dann auch die Namen der andern hervorragenden Gebäude. Endlich sagt der Afrikaner: „Ja, das ist eine große, schöne Stadt; aber doch ist die Stadt Gottes unbeschreiblich schöner. Ich meine das himmlische Jerusalem, das hoffentlich Ihr und ich einst sehen werden.“ Ei, rief der Steinklopfer, wißt Ihr denn etwas von diesen Dingen? „Freilich, war die Antwort, Missionare sind zu uns gekommen und haben uns Jesum Christum kennen gelehrt, und jetzt bin ich hier, um mich selbst zum Dienst am Evangelio unter meinen schwarzen Brüdern vorzubereiten.“ Da wirft der Steinklopfer seinen Hammer weg, springt über den Weg auf den Afrikaner zu, drückt ihm die Hand und ruft jubelnd aus: „So seid Ihr denn Einer von denen, für die ich schon zwanzig Jahre lang gebetet habe. Denn ich habe nie einen Pfennig in die Missionsbüchse gelegt, ohne jedesmal dabei zu seufzen: Dein Reich komme zu den Heiden!“ Zu uns komme Dein Reich! Ist es zu kühn, diese Bitte über Herz und Haus, über das Volk und die Völker hinaus auszudehnen auch auf die uns umgebende, schweigende Creatur, auf unsre vernunftlosen irdischen Lebensgenossen? Nein, denn die Creatur der Erde ist der Eitelkeit unterworfen ohne ihren Willen, um des Menschen willen, der sie unterworfen und durch seinen Sündenfall mit in das Verderben gezogen hat. Nun sehnet sie sich mit uns und ängstet sich und möchte frei werden von dem Dienst des vergänglichen Wesens; „es geht ein allgemeines Weinen, so weit die stillen Sterne scheinen, durch alle Adern der Natur.“ Aber die Creatur soll einmal wieder frei werden und an ihrem Theile mitgenießen die herrliche Freiheit der Kinder Gottes, wenn erschienen ist, was wir sein werden, wenn der Herr die Gefangenen Zions ganz, auch dem Leibe nach, erlöset hat und wir auf der neuen Erde unter dem neuen Himmel sein werden wie die Träumenden. Mit dieser Verheißung unter den Füßen dürfen, müssen wir die zweite Bitte auch für die seufzende Creatur mitbeten und flehen: Dein Reich komme auch zur Erfüllung des ängstlichen Harrens der Creatur!

Welch' eine Bitte, die zweite Bitte, die Reichsbitte! Mit gutem Grund haben die alten Väter diese Bitte die selige Bitte genannt. Denn das Reich Gottes ist das Seligsein armer Sünder durch das Blut des Lammes. Man könnte die zweite Bitte aber auch ebenso gut die Missionsbitte nennen. Sie fleht die Seligkeit hinein in Herz und Haus, so ist sie die Bitte der innersten Mission. Sie fleht die Seligkeit hinein in unser christliches und doch von Christo so sehr abgewandtes Volk, so ist sie die Bitte der inneren Mission. Sie sieht die Seligkeit hinein in Israel und die Völker, so ist sie die Bitte der äußeren Mission. Sie sieht das Paradies zurück auf die ganze von Dornen und Disteln durchwucherte Erde, so ist sie die Bitte der ökumenischen Mission, der Weltmission. Mit dieser Bitte schließt die Bibel ab, mit dieser Bitte schließe einst unser Leben ab: Amen, ja komm, Herr Jesu! Er aber wird kommen in Majestät und Glanz, und die ganze Erde wird das Reich Gottes sein, Er hat's versprochen. O des Tags der Herrlichkeit! Jesus Christus - Du die Sonne, und auf Erden weit und breit Licht und Wahrheit, Fried' und Wonne! Mach' dich auf und werde Licht! Jesus hält, was Er verspricht! Amen.

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