Oertzen, Jasper von - Aus der ersten Gnadauer Begrüßungsansprache

Oertzen, Jasper von - Aus der ersten Gnadauer Begrüßungsansprache

Im Herrn Jesu zum ewigen Leben berufene Bruder und Freunde!

Wir kommen eben aus unseren heimatlichen Gemeinden aus allen Teilen unseres deutschen Vaterlandes hier zusammen. Wir kommen vom heiligen Pfingstfest her. Gestern und vorgestern trennten uns vielleicht noch Hunderte von Meilen, wir standen in der Gemeinde, wo wir zu wirken und zu arbeiten hatten, und da haben wir wohl alle betende Hände aufgehoben um die Gabe des Heiligen Geistes. Und nun ist es mir und, wie ich aus vieler Munde gehört habe, auch Ihnen ein Großes, daß wir so, noch unter dem Pfingstfest stehend, hier einige Tage in der Stille zusammen sein können in brüderlicher Gemeinschaft, um womöglich den Segen, den wir in den legten Tagen empfangen haben, festzuhalten, zu vertiefen und besser uns anzueignen. Mir steht es fest, daß das erhöhte Haupt seiner Gemeinde auf Erden, unser teurer Herr und Heiland, seine Freude an diesem Beisammensein hat; es ist mir dies unzweifelhaft gewiß und versiegelt worden, und daher geht meine Bitte bei der ersten Begrüßung hier an die lieben Brüder vor allen Dingen dahin, daß wir doch diese beiden Tage, die vor uns liegen und die der Herr uns bereitet hat, an denen er bereit ist, uns ferner zu segnen, doch ja auskaufen und sie nicht verderben.

Wir, die wir hier zusammengekommen sind, sind alle davon durchdrungen, daß große Notsttände in der ganzen Christenheit, in der ganzen evangelischen Kirche und in unserem ganzen deutschen Volk vorhanden sind und daß die Hilfe allein vom Herrn kommen kann.

Ach, wenn doch in diesen Tagen wir danach ringen möchten, aus der Wahrheit zu sein, vor allem gegen uns selbst recht wahr zu sein. Wir reden so oft in unferen Tagen, wo wir so gesegnete Versammlungen haben: „Das waren einmal schöne, das waren gesegnete Tage!“ Wo ist denn dieser Segen? Es ist wahr, daß es schöne und gesegnete Versammlungen waren. Ja, ganz gewiß, von Seiten Gottes sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten Tausende von Versammlungen reich gesegnet worden, aber von unserer Seite ist dieser Segen nicht in der Weise festgehalten und verwertet worden, wie wir es hätten tun sollen. Daher lassen sie mich diese Bitte, diese Mahnung in aller Bescheidenheit vor den Brüdern aussprechen: „Lassen sie uns ja recht vorsichtig wandeln, damit der Segen in Wahrheit unser Eigentum werde.“ Das ist es, was ich auf dem Herzen habe, wenn ich heute abend zuerst sie herzlich an diesem Orte begrüße.

Verantwortung

Wie spricht sich ein Hirte von Gottes Gnaden, wie Löhe doch sicherlich einer war, über die Gemeinschaftsbildung aus: Er sagt: „Mir graut vor den Seelengefahren, in welchen sich die vereinzelten Jünger Jesu unter den siegreichen Massen der Gegner befinden und befinden müssen, in denen sie auch notleiden und untergehen werden, wenn sie sich nicht brüderlich zusammenschließen. Ja, mich jammern die armen Schafe Christi, die so häufig gerade deswegen, weil sie Schafe Christi sind, von ihren Hirten vernachlässigt, bemißtraut und ungerecht behandelt werden, und zwar nicht bloß von unchristlichen Hirten, sondern auch von solchen, die christlich sein wollen und sind, die sich aber mit den verschrieenen Heiligen ihrer Gemeinde nicht zusammentun mögen, an- und vorgeblich, weil sie die Mehrzahl nicht vor den Kopf stoßen wollen, sich die Wirksamkeit unter denselben nicht verderben mögen, in Wahrheit aber, weil sie die Mehrzahl und die Finsternis doch mehr lieben als die armen gebrechlichen Pietistenhaufen und deren wehende Fahne mit den fünf leuchtenden Wunden. Was sollen denn die zerstreuten, die mißachteten und durch tägliche Erfahrung der Mißachtung in die Gefahr der Verbitterung und Ungerechtigkeit versetzten, hirtenlosen Schafe tun? Sollen sie untergehen unter den Massen? Diesen und dem Feinde der Seligkeit zu Gefallen? Warum sollen sie denn nicht lieber gegenüber dem drohenden Verderben sich vereinigen und sich durch gegenseitige Zucht, Gemeinschaft und Opfer lebendig und kräftig erhalten und geschickt machen, ein Salz und Licht ihres Landes zu sein?

Lassen Sie mich schließen mit dem Hinweis auf ein Diktum des Kirchenlehrers Sohm: „Das 19. Jahrhundert ward mit einer Frage geboren, mit der Frage: Kannst du wiederherstellen, was zerstört ist? Kannst du der in ihrem innersten erschütterten Gesellschaft die feste Grundlage, kannst du ihr den welterlösenden und welterhaltenden Glauben, den christlichen Glauben wieder geben? Je nach der Antwort auf diese Frage wird das Schicksal unseres Jahrhunderts sein.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/o/oertzen/aus_der_ersten_gnadauer_begruessungsansprache.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain