Oehninger, Friedrich - Wahrheiten für unsere Tage - Der gegenwärtige Zustand der Kirche
Das kommende Verderben der Kirche hat der HErr voraus verkündet; ebenso seine Apostel. Man denke vor allem an das Unkraut unter dem Weizen. Durch dieses Gleichnis sollen wir uns warnen lassen, dass wir nicht uns den Bösen anpassen oder akkommodieren, in der eitlen Hoffnung, sie zu bekehren. Es sind nun einmal, belehrt uns der HErr, in der sichtbaren Kirche zweierlei Samen, deren einer eine Mission vom Sohne Gottes, der andere eine Mission vom Teufel hat, und diese zwei werden niemals ausgesöhnt. Das Unkraut, die Kinder des Bösen, sind Werkzeuge des Feindes, um die Christenheit zu entchristlichen und anzuklagen, Ärgernisse, Anstöße, Verführung und Gesetzlosigkeit zu pflanzen, und dann nach solcher Verfälschung, Entstellung und Verunreinigung des Christentums ihm abzujagen. „Falsche Propheten“ hat der HErr angekündigt; von ihnen sagte T. Beck: Man redet schön von ihnen, weil sie selbst schön reden. Vor „Heuchlern“ warnte der HErr, die innerlich nicht haben und sind, als was sie sich äußerlich darstellen. „Das Verherren der Geistlichen ist viel schlimmer als das Verbauern“ (Beck). - Falsches Prophetentum und Heuchelei zeigen sich in allen möglichen Formen und Sphären, sowohl bei Menschen von kaltem Verstand als bei solchen von exaltiertem Gefühl. Hierzu gehören die Schwärmer. Schwärmerei äfft die Salbung des Geistes nach. Sie ist fleischlicher Sinn in geistlicher Form. Die Phantasie vertritt die Salbung. Aber die Verwechslung geht nicht auf die Länge. Mittel gegen die Schwärmerei sind besonders das Festhalten am geschriebenen Worte und der Gehorsam gegen Menschen, die Gott über uns gesetzt hat. -
St. Paulus lehrt in Apost. 20, 29 ff., dass nach dem Hinscheiden der Apostel großes Verderben in die Kirche kommen werde. Das wird bestätigt durch folgende Worte des ersten christlichen Kirchenhistorikers, Hegesippus, der im zweiten Jahrhundert schrieb. „So lange die Apostel da waren, war die Kirche eine reine Jungfrau ohne Makel, und es wurden jene bösen Menschen von ihr fern gehalten, die im Finstern schleichend schon damals danach trachteten, die heilige Ordnung des Evangeliums vom Heil zu verderben. Nachdem aber die heilige Apostelschar ihre ruhmvolle Laufbahn vollendet hatte und nachdem auch das Geschlecht vergangen war, das gewürdigt worden, aus ihrem Munde die Worte der göttlichen Wahrheit zu vernehmen, da fing auch der Irrtum an, sein Haupt zu erheben, der, von der Irrgläubigkeit gepredigt, nun, da kein Apostel mehr vorhanden war, offen seine Lüge der Verkündigung der Wahrheit entgegenstellen durfte.“
Die Zeiten der Kirche nach der Hinwegnahme der Apostel erinnerte teils an die Zustände der Richterzeit, wovon es heißt: Jeder tat, was recht war in seinen eigenen Augen (Richt. 21,25), teils an das Verlangen Israels, einen König zu haben, der vor ihren Augen hergehe, wie alle Heiden haben. Im christlichen Kaisertum Constantins und später im Papsttum glaubten die Bischöfe und das Volk das Haupt gefunden zu haben, das der Anarchie ein Ende machen sollte. Und dieser verfrühte, weltliche Ersatz des wahren göttlichen Kirchenregimentes hat später zur Spaltung der Einen Kirche geführt, über die ein Apostel Paulus wieder klagen müsste „Ist Christus zerteilt?“ (1. Kor. 1). Wie seiner Zeit bei Israel, so war auch bei der Kirchenspaltung göttliche Fügung und menschliche Verschuldung beisammen, vergl. 2. Chronika 10,15. Ein falscher Subjektivismus kam auf der einen Seite auf und eine starre Einheit auf der andern. Wie die Gefangenschaft zuerst im nördlichen Reiche Jerobeams und seiner Nachfolger, die die Verbindung mit dem Altar und Priestertum in Jerusalem gelöst hatten, sich vollzog, so vollzog sich die Säkularisation der geistlichen Güter mehr oder weniger zuerst im Protestantismus; die Schätze des Hauses Gottes wanderten nach Babel. Weltliche Fürsten maßten sich Bischofsgewalt in der Kirche an, und ein Publikum samt Behörden, denen alle kirchliche Qualifikation abging, machten Kirchenordnungen und bestellten die geistlichen Hirten. Mehr und mehr drängte sich bloße Kultur in die Kirche, um die Stelle des Kultus einzunehmen, - eine Entwicklung, die nach Röm. 1 im alten Heidentum ihren Vorgang gefunden hatte. Damit hängt der Verfall aller Kirchenzucht zusammen, welchen Verfall man auf reformierter Seite gewagt hat, theoretisch zu rechtfertigen. Sehr unreformiert! Die Reformatoren haben über die Kirchenzucht anders gedacht als die Väter und Jünger der Neuzeit. Calvin schrieb an einen Pastor, der Mitglied der böhmischen Brüderkirche war: „Ich gratuliere euch zu eurer Disziplin. Mit großer Betrübnis verlangen wir nach ihr und können auf keine Weise zu ihr gelangen. Dieser Umstand macht, dass ich oft zage und weniger genau meinen Beruf verfolge. Ich würde verzweifeln, wenn mir nicht beifiele, dass die Erbauung der Kirche allezeit ein Werk Gottes ist, das Er durch seine Kraft ausführen wird. Ich werde aber unsre Gemeinde erst dann wahrhaft gegründet erachten, wenn sie durch dies Band der Kirchendisziplin wird zusammengefügt sein.“ Ähnlich sprach sich 1556 Peter Martyr aus: „Es ist ein großer Schaden und sicher Verderben der Kirche, wenn ihr der Nerv der Kirchenzucht abgeht. Sicherlich ist diese ein Teil der christlichen Religion selbst, da sie mit so vielem Fleiß in den Evangelien und apostolischen Briefen behandelt wird.“ - Wie früh schon der Mangel an Kirchenzucht schlimme Folgen hatte, sogar in Wittenberg selbst, zeigen Luthers desperate Haltung und Äußerungen über sein Werk am Ende desselben. Die böhmisch-mährischen Brüder fanden bei ihrem Besuche in Wittenberg, wo sie über die Möglichkeit und Tunlichkeit eines Anschlusses an die Lutherische Reformation forschen wollten, multum scientiae, parvum conscientiae (viel Wissen, zu wenig Gewissen). - Die Zustände in der Neuzeit sind allmählig noch viel schlimmer geworden, und längst schon haben sich die Folgen der kirchlichen Entartung auf dem Boden des sittlich-sozialen Lebens eingestellt. Was vor Zeiten für das Reich Gottes geopfert wurde, das verschlingt jetzt das Wirtshaus. In den rheinischen Strafanstalten sind drei Viertel der Gefangenen darin in Folge von Branntwein und Wirtshausleben. In Baden beträgt die Summe, die vertrunken wird, neunzigmal mehr als die Grundsteuer. Ein Drittel der Irren, wenn nicht weit mehr, sind es vom Trunke. Meist sind die Wirtshäuser Schuld an den ungeheuren Ausgaben für Arme, für Zuchthäuser und Irrenhäuser. Und all' dem hat ein blinder Liberalismus Tür und Tor geöffnet, der der Autorität Christi in der Kirche sich nicht beugt. Auch der Mangel an individueller Seelsorge kommt als Ursache in Betracht. St. Paulus ermahnte einen Jeden Einzelnen und lehrte nicht nur öffentlich, sondern auch privatim in den Häusern. Apostg. 20.
Kann die Bildung unzähliger Vereine über den Verfall kirchlicher Ordnung trösten und beruhigen? Nicht nur Männer des Katheders wie Professor Beck haben sich sehr gegen die moderne Vieltuerei und den wirren Arbeitsdrang auf religiösem Gebiete ausgesprochen, sondern auch Männer wie der erfahrene Büchsel. Man lese nur in seinem „Berliner Amtsleben“ (1886) die Seiten 79. 80. 82. 84. 87. 98. 100. 102 127. - „An die Stelle der Gemeinde sind die Vereine getreten, die ich fern zu halten suchte; sie sind ein Zeichen des Verfalls.“ Über die Unnatur des Liberalismus siehe S. 106 f. 129 ff.
Auch die großen Anstalten der Rettung Verwahrloster und Bergung Unglücklicher sind, wenn auch zum Teil aus christlichem Liebestrieb hervorgegangen, anderseits ein Krankheitssympton unserer Zeit, weil durch sie die furchtbare Zunahme des Übels konstatiert wird. Agnes Jones, die so viel für solche Unglückliche in edelster Aufopferung getan hat, sagt doch auch: „Ich komme mehr und mehr zur Überzeugung, dass die großen Anstalten ein Verderben für ihre Bewohner sind; schon unter den Kindern sind die ruchlosesten Sünden bekannt.“
Wenn die römischen Katholiken sich rühmen, bei ihnen stehe es in mancher Hinsicht besser, so hängt dies, soweit es wahr ist, damit zusammen, dass die heutige römisch-katholische Kirche ebenso gut wie die protestantische aus der Reformationszeit stammt. Wie die letztere die Kirche der Reformation ist, so ist jene die Kirche der sogenannten Gegenreformation. Dieser Gegenreformation ist, neben dem vielen Guten, das sie notwendigerweise dem protestantischen Gegner entgegensetzen musste, doch auch sehr der Stempel des Jesuitismus mit allen seinen moralischen Ungeheuerlichkeiten und Ärgernissen aufgedrückt. Den Jesuitismus kennzeichnen besonders zwei Charakterzüge, welche teils seinen großen Einfluss, teils wieder den Hass der Menschheit gegen ihn erklären, zwei Züge, die vor Gott gleich verwerflich sind. Der berühmte Pascal hat sie seiner Zeit bloß gestellt. „Die Jesuiten haben eine so gute Meinung von sich, dass sie als nötig zum Heil der Religion halten, dass ihr Einfluss überall hin reicht; und weil die strengen christlichen Grundsätze den meisten Menschen nicht gefallen, so haben sie auch eine laxere Moral und laxe Kasuisten neben einigen strengen.“ Das gibt Aetineaux Joly, ein Freund der Jesuiten, selbst zu (in seiner Geschichte der Gesellschaft Jesu, 1845. 4, 49), indem er die Jesuiten gegen Pascal so in Schutz nimmt. „Pascal schrieb in den schwierigsten Fragen mit dem Zauber einer heiteren Satire und der Strenge der festesten Grundsätze Er fand die Kunst, die Menschen zur Annahme einer Lehre zu bringen, die weder mit ihrem Geschmack, noch mit ihren Sitten stimmte. Er setzte Strenge gegen Milde. Er machte Gott unzugänglich, um die Jesuiten unmöglich zu machen, die Jesuiten, die versucht hatten, eine Übereinstimmung der unendlichen Vollkommenheit mit den Lastern der Menschheit zuwege zu bringen, und nur suchten, die Religion zu popularisieren, indem sie einige Punkte der Moral nach den Gefühlen der Welt einrichteten. Die Welt hatte von Beginn des Christentums an über die Strenge gewisser Vorschriften geklagt; die Jesuiten kamen diesen Klagen entgegen.“ - Wie ungleich, fügen wir bei, sind hierin die Jesuiten dem Heiligen Paulus, der in Röm. 12 schreibt: Reformamini et nolite conformari huic saeculo (Gestaltet euch um, lasst euch reformieren und werdet nicht dieser Welt gleich))! Dieser weltliche, popularitätssüchtige Zug fehlt auch am Bilde des modernen Rom nicht. Dem gegenüber tut wahre Reformation von oben Not. (Über die Argumente gegen eine Reinigung der Kirche siehe Armstrong, Sermons, S. 432 f.) „Auf nach Bethel! muss unsre Losung wieder werden; baut dem HErrn einen Altar und tut von euch die fremden Götter, reinigt euch und wechselt eure Kleider“ (1. Mose 35,1-5). Zu einer wahren göttlichen Reformation der Kirche gehört Reinigung der Herzen, Reinigung der Lehre, Reinigung des Wandels und Reinigung des Gottesdienstes, - nicht eines ohne das andere. - Wo kirchlicher Fanatismus, intolerante Verwerfung christlicher Brüder ist, die doch getauft sind und an Christus glauben, da ist weder von wahrer Reformation noch Gegenreformation zu reden. Solche unchristliche Ausschließung aber findet sich im jetzigen römischen System so gut wie bei einer Menge von Sekten und zeigt, dass man dort zum wahren echten Katholizismus sich noch nicht erhoben hat. Der Syllabus, Satz 17, verbietet, Hoffnung zu hegen, dass auch jene, die nicht römische Katholiken sind, die ewige Seligkeit erlangen. - Allerdings geben die Katholiken zu, (so die katholische schweizerische Kirchenzeitung), dass, wenn sie das Existenzrecht des Protestantismus nicht anerkennen, so folge daraus keine persönliche Verdammung der Nichtkatholiken. kann doch deren Seligwerden unmöglich in dem, worin ihr Glauben vom katholischen abweicht, begründet sein, so doch in dem, worin er mit dem alleinseligmachenden Glauben übereinstimmt. Merkt man nicht, dass hiermit zugegeben ist, dass das Seligwerden nicht in dem spezifisch römischen Glauben begründet ist?
So wenig als vom römischen System kommt das Heil von der protestantischen Freiheit und Vielrednerei. Ein kompetenter Kenner und Beurteiler dieser Dinge war gewiss Martensen. Am 23. April 1878 schrieb er an Dorner: „Alles kirchlich Geschäftliche in dieser Zeit, alles Administrative, wo man abhängig ist von andern, die mit dem Zeitgeist schwimmen, ist unfruchtbar. Die Synoden und Konferenzen mögen ihr Gutes oder besser ihre Notwendigkeit haben, sind aber in vielen Beziehungen eine wahre Zeitvergeudung, ein Schöpfen ins Fass der Danaiden. Man muss deshalb so wenig Teil daran nehmen wie möglich.“
Mag der gegenwärtige Zustand der Kirche nach dem Maßstab des Heiligtums gemessen (der freilich den Meisten abhanden gekommen ist), noch so traurig sein, - die Kirche kann nicht zu Grunde gehen; zu Grunde gehen nur die Teile, die von dem inneren Grund der Kirche abfallen. Als göttlicher Bau hat die Kirche die Verheißung der Unzerstörbarkeit, und es ist ihr, ehe der Tag des Menschensohnes kommt, Reinigung, Bereitung, Einigung verheißen von oben. Freiheit der Kirche! das ist jetzt die Losung der verschiedensten Parteien und es herrscht überall das Gefühl, zu solcher Freiheit gehöre auch die Befreiung von den weltlichen ungeistlichen Fesseln der Verstaatlichung. Theodorich der Große sagte: Wir können keine Religion gebieten, weil Niemand gezwungen werden kann, etwas wider seinen Willen zu glauben. Aber das ist nur das Eine. Das andere, ohne das die Kirche nie sich selbst und ihrem Berufe ganz zurückgegeben wird, besteht in der völligen Rückkehr zur Herrschaft und Leitung Christi, des Lebendigen und gegenwärtigen Hauptes der Kirche, womit Verzicht auf alle menschliche Kirchenmacherei und Kirchenwählerei verbunden ist. (Kingsley sagt mit Rücksicht darauf: Ein Kind kann nicht seine Mutter wählen). Keine Befreiung von falscher Autorität ohne Rückkehr zur wahren! - Und erst bei solcher Rückkehr zum Einen Haupt und Zentrum der Kirche kommt auch die wieder erwachte Unionsrichtung, die mit Luther betet: „Gib deinem Volk einerlei Sinn auf Erd“ zu ihrem Ziel. (Siehe: Döllinger, die Wiedervereinigung der Kirchen.) Die auf diesem Wege voran sind, o lasst sie uns nicht bestreiten! Wie schrecklich blind, sagte Pfarrer Ludwig - wer auf den Vortrab schießen kann!