Neviandt, Heinrich - Predigt über 4. Mose 21, 4-9

Neviandt, Heinrich - Predigt über 4. Mose 21, 4-9

gehalten zu Elberfeld in der Cholera-Zeit

am 9. October 1859

Im Selbstverlag der freien evangelischen Gemeine.
Gedruckt bei Sam. Lucas in Elberfeld

*Da zogen sie von Hor am Gebirge auf dem Wege vom Schilfmeer, daß sie um der Edomiter Land hinzögen. Und das Volk ward verdrossen auf dem Wege und redete wider Gott und wider Mose: Warum hast du uns aus Egypten geführet, daß wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Brot, noch Wasser hier, und unsere Seele ekelt über dieser losen Speise. Da sandte der HErr feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, daß ein großes Volk in Israel starb. Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, daß wir wider den HErrn und wider dich geredet haben; bitte den HErrn, daß er die Schlangen von uns nehme! Mose bat für das Volk. Da sprach der HErr zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange, und richte sie zum Zeichen auf! Wer gebissen ist und siehet sie an, der soll leben. Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie auf zum Zeichen, und wenn Jemanden eine Schlange biß, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.

Die Geschichte, die in dem verlesenen Schriftwort vor uns liegt, ist, meine lieben Freunde und Brüder, in mehr als einer Beziehung für uns von Bedeutung. Nicht nur, daß dieselbe durch die Schilderung der Heimsuchung, die über das sündige Israel von dem Herrn verhängt wird, in besonderer Weise uns an die Heimsuchung erinnert, die auch über unser Thal hereingebrochen ist; sondern sie enthält zu gleicher Zeit mannichfaltige und tiefe Hindeutungen auf das Universalheilmittel, das in Jesu Christo, dem Gekreuzigten, für Alles, was Schmerz, Leid, Krankheit und Tod heißt, uns geboten ist. Ev. Joh. 3, 14 u. 15 wendet der Herr Jesus selbst diese Geschichte auf seine zukünftige Erhöhung an das Kreuz an. Freilich ist's wahr, daß Israel, als Volk der Wahl und des Bundes, in einem besondern Verhältniß zum Herrn stand, in das weder irgend ein einzelnes Volk unserer Tage, noch die Welt im Allgemeinen eingetreten ist. Und somit liegt eine Anwendung jedenfalls am nächsten, ich meine die Anwendung auf das geistliche Israel. Israels Führungen, Sünden und bittere Erfahrungen werden 1. Cor. 10 ausdrücklich den Kindern Gottes als ernste Mahnung vorgehalten, zum Beweis, daß der Herr in den Ereignissen früherer Tage vor Allem und zunächst zu seinen Schafen spricht, die seine Stimme hören. Ach, es verriethe nicht die rechte Stellung, wenn die Kinder Gottes die Gerichte des Herrn nur als solche betrachten wollten, welche die Welt angehn! Gottlob sind die, die durch den Glauben an Jesum Christum mit Gott versöhnt sind, nicht mehr Kinder des Zorns, sie stehn in Gnaden; denn Gott sieht sie an in dem Geliebten: darum sind auch die Heimsuchungen für sie nicht Gerichte des Zorns, sondern Gnadengerichte. Aber eben als solche sind sie Zuchtmittel in der Hand des Vaters, der will, das wir seine Heiligung erlangen sollen. O, meine Brüder, wie viel gibt's zu richten und zu sichten in unserm innern und äußern Leben, und welches Segens würden wir uns berauben, wenn wir gleichgültig und kalt die ernsten Stimmen Gottes überhören wollten! Laßt uns darum in Israels Sünden unsere eignen erkennen, laßt uns in Israels Beugung und Zufluchtnahme zum Herrn das sehn, was auch uns noth thut! Dann können wir auch versichert sein, daß wir mit demselben Heilmittel, ja mit einem noch weit herrlicheren werden getröstet werden, das Gottes Gnade seinem heimgesuchten Volk spendete. Aber wir wollen den Kreis, dem dieses Wort gilt, nicht beschränken; es redet zu uns Allen, die wir hier sind, auch zu Denen, die dem Herrn noch nicht angehören. Es fordert sie auf, in einen Spiegel zu schauen, der auch ihre Gestalt treffend zeichnet. Es ladet sie ein zu jener seligen Umkehr, wo man sich selbst wegen seiner Sünden verurtheilt, um dann von Gott um Jesu willen freigesprochen zu werden. Segne denn der Herr uns Allen sein Wort!

Israels Sünde wider den Herrn schildert unser Text mit den Worten: „Und das Volk ward verdrossen auf dem Wege und redete wider Gott und wider Mose: Warum hast Du uns aus Egyptenland geführt, daß wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Brot, noch Wasser hier, und unsere Seele ekelt über dieser losen Speise.“

In dem ersten Zuge dieser Schilderung wird uns Israels Zustand im Allgemeinen und nach der innern Seite gezeichnet. Das Weitere zweigt uns die Entfaltung und Aeußerung dieses Zustandes. Die Verdrossenheit, von der hier die Rede ist, ist jene gesteigerte Unzufriedenheit, die nicht sowohl in Traurigkeit und Wehmuth, sondern vielmehr in Erbitterung sich kundgibt über die Lage, in der man sich befindet. Da sucht sich das Herz, in dem Gefühl der Ohnmacht die unbefriedigende Lage zu ändern, dadurch zu rächen, daß es ohne Worte oder mit Worten die vermeintlichen Urheber seines Unglücks, Verhältnisse und Personen, in bitterer Weise anklagt. So finden wir denn auch hier in unserm Text, wie aus der Verdrossenheit des Volks das Murren wider den Herrn und seinen Knecht Mose hervorgeht. Es ist bezeichnend zuerst gesagt, sie redeten wider Gott, damit es am Tage liege, daß alles Murren zunächst gegen den Gott sich richtet, ohne dessen Willen nichts Großes und nichts Kleines geschieht. Israel hat gewiß mehr, als einmal ausdrücklich gegen den Herrn gemurrt; aber der Bericht der heiligen Schrift würde auch dann vollkommen der Wahrheit entsprechen, wenn Israels Worte hier sich nur gegen Mosen gewandt hätten. Das Volk beschwert sich über die Führung Gottes; es verlangt einen reichern sinnlichen Genuß, es äußert sich in schnödem Undank über die Wohlthaten und Gaben seines Gottes. Da haben wir das Bild des traurigen Zustandes Israels, der das Gericht des Herrn herbeizog. Aber gibt's nicht eine tiefere Ursache, aus der diese verschiedenen Erscheinungen sich erklären lassen, aus der jene Verdrossenheit und alles Weitere hervorging? Ach ja! Diese tiefere Ursache ist Israels Unglaube, der es von Gott trennt und damit das arme Volk seinem eignen Willen uns seinen eignen Lüsten preisgibt. Ist das Verhältniß zu Gott gelös't; so ist die Creatur nach einem Gesetz göttlicher Nothwendigkeit an sich selbst dahingegeben und zerfällt auf die Dauer immer mehr mit der Welt und sich selbst, wenn nicht Gottes allmächtige Gnade dazwischentritt.

Doch, meine theuren Freunde, verlassen wir Israel einen Augenblick, um einen Blick in die Welt zu werfen! Ich denke an die in unserer Mitte und draußen, die noch nicht aus Erfahrung den Frieden mit Gott durch den Glauben an den Herrn Jesum kennen. Paßt Israels Bild nicht auf Euch? Kennt Ihr nicht jene geheime Unzufriedenheit, die, wie ein Schatten, Euch durch das ganze Leben folgt, die allerdings in einzelnen Augenblicken, wo vielleicht ein Lieblingswunsch in Erfüllung geht, wie verschwunden erscheint, aber nur zu bald, oft bei den geringsten Veranlassungen wiederkehrt? Habt Ihr nicht schon mehr, als einmal jene Verbitterung gefühlt, die Euer Herz, wenn ihr es Euch gestehen wollt, in Flammen setzte, Eure Leidenschaften aufregte und Euren Lippen eine Fluth von Worten entlockte, die man nicht bei Euch hätte vermuthen sollen? Bestehen nicht viele von Euren Gesprächen in Beschwerden über dies und das in Eurem Leben, in Euren Verhältnissen, in Eurer Umgebung, was Euch unangenehm und widrig ist, was, wie Ihr meint, den Frieden Euch raubt oder trübt? Ihr müßtet Andere sein, als andere Menschen, sonst ist es so, wie ich eben gesagt habe. Ob hoch oder niedrig, arm oder reich, gebildet oder ungebildet, alt oder jung, das macht hier keinen Unterschied.

Und gegen wen richtet sich Eure Unzufriedenheit, Euer Unwille? Im Grunde gegen Niemanden anders, als gegen Gott selbst, der auch Euer Leben so und nicht anders geordnet hat. Doch Ihr kennt, ich weiß es, wenn Ihr die Hand auf's Herz legt, auch jenes direkte, unverhüllte Murren wider Gott, jenes Hadern über seine Führungen, wo man meint, ein besseres Loos verdient zu haben, als man empfangen hat, wo das Herz redet wider Gott und in seiner Auflehnung gegen den souveränen Herrn Himmels und der Erde ebenso gottlos, als unselig ist. Nicht wahr, meine Freunde, ich übertreibe nicht?! Ich übertreibe auch nicht, wenn ich denselben Undank über die vielen Wohlthaten Gottes bei Euch, wie bei Israel, voraussetze. Aeußert sich doch dieser Undank nicht nur darin, daß man die Wohlthaten Gottes als ein Recht stillschweigend empfängt, ohne dem Geber dafür zu danken, sondern auch namentlich darin, daß gegenüber einem unerfüllten Wunsch, einer getäuschten Hoffnung das unzählige Gute vergessen und geringgeschätzt wird, womit der Herr das Leben geschmückt hat. - Aber Eins laßt mich nicht vergessen! Israels Herz war erfüllt von der Begierde, zu genießen. Es würde zu weit führen, dies in Israels Geschichte nachzuweisen; aber eine auch nur oberflächliche Bekanntschaft mit derselben muß Jeden davon überzeugen. Seht, meine Freunde, das ist auch heute eins der Losungsworte der Welt, der auch Ihr so lange noch angehört, als Ihr nicht durch den Glauben Jesu Eigenthum geworden seid. Genießen in gröberer oder feinerer Weise will jeder. Der nicht minder, der eine traurige Begeisterung in dem übermäßigen Genuß geistiger Getränke sucht, oder der sich der Fleischeslust hingibt, als der, der in den Freuden einer höhern und ehrbaren Geselligkeit eine Erholung für die Mühen des Lebens sucht. Die Sucht, zu genießen, selbst ohne entsprechende Anstrengung, nimmt in erschreckender Weise überhand, und droht, wie sie von jeher das Herz des einzelnen Menschen vergiftet hat, so auch die gesellschaftlichen Verhältnisse zu untergraben. Der Genuß in seinen tausenderlei Gestalten ist das Paradies des natürlichen Menschen, das ist kein Himmel, und wenn dieser Himmel getrübt wird, so liegt Alles darnieder, und das Leben gleicht einer Wüste.

O meine theuren Freunde, wie unglücklich und elend ist doch der Mensch, der, sich selbst überlassen, ohne Gott und darum ohne Hoffnung in der Welt lebt! Ja wohl, meine Lieben, da liegt Euer Elend und Unglück, daß Ihr den Glauben an den Gott, der in dem Herrn Jesu sich offenbart hat, nicht kennt und nicht habt. Deswegen gleicht Euer Herz und Euer Leben einem Schiff, das ohne Steuerruder, der Gewalt der Wellen preisgegeben, einen Lauf ohne Ziel verfolgt.

So sind denn wohl die, die des Glaubens sind, diesem traurigen Loos entrissen; sagt doch der Apostel ausdrücklich: „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“ Sie kennen wohl nicht jene traurigen Früchte des Unglaubens, die sich in Verdrossenheit, Murren und fleischlichem Sinn offenbaren. Wollte Gott, meine Brüder, daß es so wäre; wollte Gott, daß man von einem jeden Kinde Gottes in voller Wahrheit sagen könnte: „Es lebt seines Glaubens!“ Wie würde der Herr dadurch verherrlicht werden, wie würde die Welt noch ganz andere eindrücke und Ueberzeugungen von der Wirklichkeit der unsichtbaren Dinge erhalten, als es jetzt oft der Fall ist! Aber es geht dem Glauben, wie einem Schwert. Wie das Schwert in Friedenszeiten oft rostet und erst wieder blitzt in den Stahlen der Sonne, die dem Krieger zu seinem blutigen Werk leuchtet; so sind auch für unsern Glauben Zeiten der Ruhe am allergefährlichsten. Darum gehört die Trübsal, die zum Glauben nöthigt, mit zu den köstlichsten Gnadengaben Gottes.

Wer unter uns hätte nicht schon Anwandelungen jener Unzufriedenheit gehabt, die mannichmal mit einem gewissen Neid auf die lieblichen Führungen Anderer hinblickt und in nicht eben kindlicher Weise die Anfrage an den Herrn stellt: „Warum führst du mich diesen so schweren, harten Weg?“ Wer kennte nicht jene Tücke des Herzens, das durchgehends bei dem Mangel an ächtem Frieden und an lebendiger Gemeinschaft mit dem Herrn am ehesten geneigt ist, in ungünstiger und liebloser Weise über Andere sich zu äußern, die Sünden Anderer schonungslos zu richten, von allen Dingen die nachtheilige und schlechte Seite aufzufassen, sich einem Geiste des Mäkelns und Beurtheilens hinzugeben, der wenig verräth von der Liebe, die in die Herzen der Kinder Gottes ausgegossen ist durch den heiligen Geist. Am schlimmsten ist's freilich, wenn solche Stimmungen die regelmäßige Verfassung des Herzens werden, und auch das ist nicht ohne Beispiel. Meine theuren Brüder, der Einfluß der Welt umgibt uns allenthalben, und man entgeht ihm nur dadurch wirksam, daß man die Himmelsluft fleißig athmet, die uns in der Gemeinschaft mit dem Herrn Jesu geboten ist. Es gehört auch viel Gnade dazu, nicht fortgerissen zu werden von dem Treiben und Jagen nach irdischem Besitz und Genuß, wo die Erde zur Heimath und der Himmel zur Fremde wird. Haben wir das nicht gespürt, haben wir es nicht vielleicht gerade in dieser Zeit der Heimsuchung erfahren müssen, wie wir noch mehr an der Erde hingen, als wir es uns vielleicht früher gestanden hatten? O, ich weiß, ich bin es nicht allein, der sich von dem Schwert des Geistes getroffen fühlt!

Der Herr sendet, nach unserm Text, dem verdrossenen und undankbaren Volke eine schwere Plage. Feurige Schlangen, deren Biß tödtlich war, sind die Boten Gottes, die einen großen Theil Israels vor seinen ewigen Richter stellen. Nicht wahr, meine Lieben, wir stehn nicht an, zu sagen, daß Israel diese Heimsuchung verdient hatte? Aber wie urtheilen wir, wenn wir an die Stelle Israels treten? Meine theuren Freunde, wenn wir alle in dem Lichte des heil. Geistes unsere Sünde und Gottes Heiligkeit anschauten: wir würden uns in den Staub beugen über der Barmherzigkeit Gottes, die auch in der uns zugesandten Plage zu sehn ist; wir würden mit Mose, der, als der Herr vor ihm vorüberging, auch noch unter dem frischen Eindruck eines über Israel ergangenen Gerichtes stand, ausrufen: Herr, Herr, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue! (2. Mose 34,6.)

Möchte uns der Herr durch seine Gnade die ächte Beugung vor ihm schenken, die zu allen Zeiten eine Vorläuferin reicher Segnungen von seinem Angesicht gewesen ist! Blicken wir in unsern Text hinein! Wie nehmen wir da den Segen der Trübsal in Israels veränderter Stellung wahr! Vorher ließen eingebildete Leiden sie nicht zu einem klaren Blick über sich selbst und den Herrn kommen; jetzt bringen ihnen wirkliche Leiden das rechte Licht über sich selbst und den Herrn. So hilft oft der Herr, während er scheinbar Jemanden verläßt; er erweis't oft die größten Wohlthaten, wenn er scheinbar sein Angesicht verbirgt. Wir wollen hier nicht die Frage näher erörtern, in wiefern die Trübsal an und für sich noch nicht im Stande ist, ein Herz wahrhaft zu beugen, auch nicht die andere, ob nicht Israels Beugung mehr den Charakter der weltlichen, als der göttlichen Traurigkeit an sich trug; - genug, wir finden in den Worten, die das Volk ausspricht, den Ausdruck einer ächten Demüthigung vor dem Herrn. „Wir haben gesündigt, daß wir wider den Herrn und wider dich geredet haben, bitte den Herrn, daß er die Schlangen von uns nehme!“ So spricht Israel zu Mose. Seht da, meine Freunde und Brüder, was auch uns noth thut. Es ist wahr, die Gnade Gottes ist eine freie und unbedingte, das Heil in Christo Jesu ist ein reines Geschenk; aber es liegt in der Natur der Gnade, daß sie nur an armen Sündern sich verherrlicht, es liegt in dem Wesen des Heilandes, daß er die zerstoßenen Herzen heilt und die Mühseligen und Beladenen erquickt. Denn die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Es giebt eine Erkenntniß der Sünde, und sie ist eine sehr verbreitete, die nicht die geringste Veränderung in dem Herzen des Menschen hervorruft, sondern ihn ruhig seinen bisherigen Weg verfolgen läßt. Man kann eben zu diesem Theil der Wahrheit der heiligen Schrift ebenso äußerlich stehn, als zu allen andern Offenbarungen Gottes. Wie es eine äußerliche Erkenntniß von der Person Jesu Christi, von seinem Thun, seinem Leiden und Sterben gibt; so gibt es auch eine rein äußerliche Erkenntniß von dem natürlichen Zustande des Menschen. Wir haben uns vielleicht mannichmal gewundert, daß Jemand bei einer vollkommen schriftgemäßen Erkenntniß der Heilswahrheit jene eisige Kälte an den Tag legte, wenn es sich darum handelte, persönlichen Gebrauch von diesen köstlichen Wahrheiten zu machen. Wir haben uns gefragt: Wie ist es möglich, dem Ernst und der Liebe Gottes gegenüber so gleichgültig zu bleiben? Aber haben wir eigentlich Grund dazu gehabt? Ist das so unbegreiflich Angesichts der Beispiele früherer Zeiten? Fehlte es denn den Pharisäern und Schriftgelehrten, die eine so traurige Stellung zu dem Herrn Jesu einnahmen, an Erkenntniß? Und sagt uns das Wort Gottes nicht, daß wir von Natur todt sind in Sünden und Uebertretungen, daß wir blind und Finsterniß sind? Die Erkenntniß des Verstandes und die des Herzens sind zwei grundverschiedene Dinge.

Ja, es gibt auch eine andere Sündenerkenntniß, und von ihr möchten wir noch ein Wort reden weil sie zu Jesu, dem Sünderfreund, hinführt. Es ist jene geheimnißvolle Wirkung des heiligen Geistes, die das Herz durch die Wahrheit Gottes gefangen nimmt. Das Gewissen, das bisher schlummerte, wird wach. Die Sünden, die man bisher nur als Fehler und leicht zu entschuldigende Unvollkommenheiten ansah, werden nun Schulden vor dem heiligen Gott, dem man ein Recht zuerkennen muß, dieselben zu bestrafen. War man bisher gewohnt, Gott und seine Umgebung anzuklagen; so steigt nun das Herz hinab in die Tiefe des eignen Verderbens, um sich selbst zu richten und zu verurtheilen. Das Leben und seine Güter und Freuden und Leiden treten zurück hinter der einen Frage: Wie erlange ich Frieden mit Gott? Die Sünde, in der man sonst sein Leben gefunden, wird zur Fessel und zum Leiden, und man sucht und sucht immer wieder nach dem Mittel, um erlös't zu werden. Es ist das auch eine Art von Egoismus; denn Gott und die eigne Person bleiben zuletzt allein übrig; aber es ist der erlaubte Egoismus, zu dem der Herr Jesus die weinenden Töchter Jerusalems mit den Worten auffordert: „Weinet nicht über mich, sondern weinet über Euch!“ - Da fordert man nicht mehr, meine Freunde, da rechtet man nicht mehr; da erkennt man mehr und mehr, daß nur dann noch Hoffnung vorhanden ist, wenn es eine Barmherzigkeit Gottes gibt, die alles Denken übersteigt. Da legt man sich mit Israel, nach unserm Text, auf’s Bitten. Freund, kennst Du etwas davon, hat die ernste Sprache Gottes Dir die Rettung deiner Seele zur Lebenssache gemacht? Man kann auch in natürlicher Weise sich trösten und beruhigen, und unser armes Herz ist nur zu gelehrig auf diesem Punkt. Man stellt Wahrscheinlichkeitsrechnungen auf, die freilich jenem schwankenden Stege gleichen, der bei jedem weitern Schritt den Wanderer in den Abgrund zu stürzen droht. O, ich bitte Dich, erkenne die Zeit Deiner Heimsuchung, und suche den Fels, der nimmer wankt, wenn auch die Wolken brausen und die Stürme wehen!

Meine Brüder und Schwestern, wie steht es denn mit uns? Ist es auch uns nöthig, daß wir daran erinnert werden, wie unerläßlich es ist, dem Herrn seine Sünden zu bekennen und vor ihm uns wahrhaft zu demüthigen?

Ich meine, die Schrift und auch die Erfahrung läßt uns darüber keinen Zweifel. Warum redet der heil. Geist sonst durch den Apostel Jacobus zu den Gläubigen die ernsten Worte: „Nahet Euch zu Gott, so nahet er sich zu Euch! Reiniget die Hände, ihr Sünder, und machet die Herzen keusch, Ihr Wankelmüthigen! Seid elend und traget Leid und weinet; Euer Lachen verkehre sich in Klage, und Eure Freude in Traurigkeit! Demüthigt Euch vor dem Herrn, so wird er Euch erhöhn!“ (Jac. 4,8-10). Warum läßt derselbe Gott durch den Apostel Johannes den kleinasiatischen Gemeinden und in ihnen allen Kindern Gottes die Beugung über ihre Sünden so nachdrücklich an's Herz legen? Und redet nicht Paulus, von demselben Geist getrieben, in derselben Weise zu den Corinthern? (1. Cor. 5 vgl. 2. Cor. 7.) Doch wir brauchen die Zeugnisse nicht zu vervielfältigen, die Schrift redet in dieser Beziehung unzweideutig und klar. Und unsere Erfahrung?! Kennen wir nicht, meine Brüder, die traurigen Augenblicke und Zeiten, wo die Lauigkeit unseres Herzens auch darin sich verrieth, daß wir nicht den Abscheu, nicht den Schmerz über unsere täglichen Sünden und Untreuen empfanden, der doch so natürlich gewesen wäre - wo wir es nicht so nöthig fanden, täglich und stündlich von Grund des Herzens dem Herrn unsere Sünden zu bekennen, um uns Vergebung und Heilung von ihm zu holen? Wäre mehr gründliche Beugung über unsere Sünden vorhanden, so wäre mehr aufrichtiges Brechen mit der Sünde und mehr wahrhaftige Erfahrung der Gnade in unserm Leben wahrzunehmen! Gebe der Herr, von dem alle gute Gabe kommt, uns die Gnade, daß diese ernste Zeit nicht, ohne einen Segen uns zurückzulassen, von uns scheide! Stellt er unser Leben in das Licht der Ewigkeit; merken wir da, daß es wunde Flecke gibt, die wir uns vielleicht bisher verschwiegen haben: o, meine Brüder, laßt uns die Finsterniß nicht lieber haben, als das Licht; laßt uns getrost das dem Feuer preisgeben, was Holz, Heu, Stroh und Stoppeln ist; laßt uns getrost den ganzen Schaden eingestehn; denn wir haben es mit einem Gott zu thun, der nicht mit uns handelt nach unsern Sünden, und uns nicht vergilt nach unserer Missethat, und der ein Herz voller Barmherzigkeit gegen das Volk besitzt, das ihm seine Sünden bekennt!

Liefert nicht unsere Textgeschichte einen neue glänzenden Beweis für diese Wahrheit?

Mit dem vollsten Rechte hätte der Herr sein abtrünniges Volk noch lange können warten lassen auf die ersehnte Hülfe. Aber nein, seine Gedanken sind in jeder Beziehung höher, als unsere Gedanken. Auf Mosis Bitte schafft der Herr ein Heilmittel wunderbarer Art. Israel hat den Herrn gebeten, die Schlangen von ihm zu nehmen ; aber der Herr hilft in einer andern Weise. Er hilft so, daß seine Hülfe zugleich ein Mittel wird, Israel’s Glauben zu stärken, Israel's Abhängigkeit von seinem Gott zu vermehren. Auf der Seite lag der tiefste Schaden des Volks, wie wir gesehn haben, und der Herr, der in allen seinen Heilungen gründlich verfährt, faßt nach seiner anbetungswürdigen Gnade und Weisheit diesen Grundschaden in's Auge. So führt der Herr oft die Seinen auf Umwegen zu der Stellung, die er für sie bestimmt hat, und gegen die sie sich in ihrem Unverstand sträubten. Israel wollte nicht glauben; nun muß es glauben, wenn es nicht einem sichern Tod zur Beute werden will. - Ist es nicht ganz ebenso mit der Weise, die Gott zur Rettung verlorener Sünder vom ewigen Tode verordnet hat? Gewiß, der ganze Weg, auf dem ein Sünder gerettet und der ewigen Herrlichkeit zugeführt wird, ist dazu angethan, das Grundverhältniß des Menschen zu Gott, das durch die Sünde zerrissen ist, in einer neuen ungleich herrlichern Weise herzustellen und durch den Glauben den Sünder fester und immer fester an Den zu ketten, der als der Fürst des Lebens den Tod allein verschlingen kann.

Es würde uns, meine Lieben, zu weit führen, wollten wir den Reichthum der Beziehungen zu entfalten versuchen, die zwischen der Aufrichtung der ehernen Schlange in der Wüste und der Erhöhung des Herrn Jesu an das Kreuz obwalten. Beschränken wir uns darum auf die Andeutung einiger Hauptvergleichungspunkte. Wir finden da eine treffende Aehnlichkeit, sowohl in dem Heilmittel selbst, als in der Art, wie dasselbe wirksam wurde. - Gott ist es, der dieses Heilmittel gibt, und dieses Heilmittel liegt ganz außerhalb des dem Tode verfallenen Volkes. Wie das Volk nicht in der Lage war, durch seine Würdigkeit dieses Heilmittel sich zu verdienen, denn es war aufrührerisch gegen seinen Gott: So war es nicht im Stande, irgend etwas zu thun, um dieses Heilmittel selbst zu schaffen; denn es war todtkrank. - So auch mit dem Heilmittel, das der Vater in seinem theuern Sohn Jesu Christo für verlorene Sünder bereitet hat. Wenn uns Paulus Röm. 5,10 sagt, daß wir Gott versöhnet sind durch den Tod seines Sohnes, da wir noch Feinde waren; so geht das noch hinaus über die Andeutungen, die in unserm Text liegen, und zeigt uns, daß es eine Liebe Gottes gibt, die vor allem Bitten und Seufzen des elenden feindseligen Sünders eine ewige Erlösung beschlossen hatte. Sollte da noch von Verdienst und Würdigkeit des Menschen die Rede sein können? Solle da noch von einem Bereiten des Heilmittels von Seiten des Menschen gesprochen werden können, wenn es ausdrücklich heißt, daß Gott Alles bereitet hat, ja, daß wir selbst sein Werk sind und neue Creaturen in Christo Jesu?

Also halten wir das fest: das Heilmittel liegt außer uns in dem von Gott geschenkten Heilande Jesu Christo. - Die eherne Schlange, die Moses nach dem Befehl Gottes aufrichten mußte, erinnerte an die feurigen Schlangen und war so für Israel fortwährend auch eine Erinnerung an die Sünde, die Gottes Gericht über sie herbeigeführt hatte. Aber nach dem Willen Gottes muß von dieser ehernen Schlange Genesung und Leben ausgehn für das kranke und dem Tode geweihte Volk. Ebenso lesen wir von dem Herrn Jesu, daß er in der Aehnlichkeit des Fleisches der Sünde erschienen sei; ja, es heißt sogar 2. Cor. 5,21: „Gott hat Den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit Gottes.“ War an die eherne Schlange nur durch ein besonderes Wunder die Heilung geknüpft; so haben wir hier in unserm Herrn Jesu Den vor uns, dem der Vater gegeben hat, das Leben zu haben in ihm selber; wir haben Den vor uns, der wirklich unsere Sünden auf sich genommen, der sie getragen und getilgt hat, der die überschwengliche Kraft eines ewigen Lebens in sich trägt, und darum einem Jeden, der mit ihm in Berührung kommt, eine Ursache des ewigen Lebens wird. Ev. Joh. 3,14 u. 15. - Da ist, theure Freunde und Brüder, das Universalheilmittel für alles Leid, für allen Tod. - Die Kinder Israel durften nur die eherne Schlange ansehn, und wer sie ansah, der blieb leben. Liebliches Bild des Glaubens und der Zufluchtnahme zu dem Herrn Jesu. Was würde wohl aus denen unter dem Volke geworden sein, die, nachdem sie den Schlangenbiß gefühlt hatten und nun merkten, wie der Tod ihr Gebein durchzog, gedacht hätten: Uns ist nicht mehr zu helfen? Sie würden nicht auf die eherne Schlange geblickt haben und damit rettungslos dem Tode verfallen sein. Aber nein, sie machten es anders, die Verheißung des Herrn tritt als eine Hoffnung des Lebens in das Gefühl ihres Todes hinein; sie wagen es, an die Möglichkeit ihrer Rettung zu glauben, und siehe da, wie ihr todtmüdes Auge die eherne Schlange findet, kommt Genesung und Lebenskraft in ihr vergiftetes Gebein.

O mein Freund, der du den Schlangenbiß in der Tiefe Deiner Seele fühlst, der Du nur Hoffnungslosigkeit in Dir und um Dich wahrnimmst, weil Deine Schuld und Deine Sünde Dich quält, frage nicht Dein Herz, ob Du genesen kannst; frage nicht die Welt, ob Dir zu helfen sei; glaube auch nicht dem Teufel, der Dich in den Abgrund der Verzweiflung stürzen möchte: frage Gott und sein Wort, dorther kommt ein Licht in Deine Nacht. Er zeigt Dir Jesum, seinen Sohn, für Deine Sünden dahingegeben, für Deinen Tod dem Tode verfallen, um Deiner Gerechtigkeit und Deines Lebens willen auferweckt, um nie wieder zu sterben. Wag' es auf diesen Heiland, komm zu ihm, wie Du bist, und Friede und Leben wird Dein Theil sein! - Ach, möchten wir es doch auch noch besser verstehn, meine Brüder, Den anzusehn und anzulaufen, der für uns Alles ist und Alles hat. Er hat uns freilich nicht die Verheißung gegeben, daß wir in jedem Fall vor äußerer Krankheit und plötzlichem Tod bewahrt bleiben werden. Aber das hat er uns gesagt, daß wir uns nicht fürchten sollen, weil er die Welt überwunden hat. Und wenn die Todesfurcht Dein Herz beschleicht und trübe und finstere Gedanken durch List des Feindes Deinen Blick umwölken; so sage dem Satan, daß Jesus für Dich gezagt und gezittert, daß er alle Feinde übermocht hat, und daß sein Sieg Dein Sieg ist, weil Du ihm und er Dir angehört. Ja, in ihm überwinden wir weit, weil er uns geliebt hat.

Noch ein Wort an Euch, meine Freunde, die Ihr bisher an dem Herrn Jesu vorbeigegangen seid und einen Frieden noch außer ihm sucht. Worauf wartet Ihr? Soll der Herr noch ernster reden, als er nun schon so lange durch die schauerliche Seuche zu Euch geredet hat? Ihr seid es inne geworden und mehr, als ein Mal, daß Euer Friede nicht Stich hält; daß man in der letzten Noth mehr haben muß, als ein unbestimmtes Hoffen. Der Weg zu einem eigenmächtigen Leben ist versperrt, seitdem der Cherub mit hauendem Schwert auf Gottes Geheiß den Weg zum Baum des Lebens bewachen mußte. Aber ein neuer Lebensbaum ist aufgerichtet inmitten der Weltgeschichte, die uns nur Bilder des Todes aufzeigt; dieser Lebensbaum ist nicht bewacht durch Cherubim; frei und offen steht er da, zugänglich für Jeden, der dem ewigen Tode entgehn möchte. Von seiner Frucht zu brechen, werdet Ihr auch heute eingeladen. Darum heute, so Ihr seine Stimme höret, verstocket Eure Herzen nicht! Amen!

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