Neviandt, Heinrich - Die Bedeutung der Pietät für das christliche Leben.

Neviandt, Heinrich - Die Bedeutung der Pietät für das christliche Leben.

Von Neviandt, evang. Prediger in Elberfeld.

Das Wort Pietät ist ein Fremdwort, das wir, um uns seinen Sinn klar zu machen, umschreiben müssen. Es kommt von dem lateinischen Wort pius (fromm) her und wird demzufolge etwas ausdrücken, was mit der Frömmigkeit zusammenhängt. Vielleicht kommen wir seinem Sinn dadurch nah, dass wir es als die Gesinnung und das Verhalten bezeichnen, das die von Gott für die verschiedenen Lebenskreise eingesetzten Ordnungen und Autoritäten als solche anerkennt und achtet und diese Anerkennung und Achtung auch betätigt. Wir denken dabei an die Lebenskreise, wie sie in der Familie, in der Gesellschaft, in der christlichen Gemeine und in dem Staat sich uns darstellen. - Es ist uns Allen bekannt, meine Brüder, wie zu den tiefgehendsten Schäden unserer Zeit gerade das gehört, dass der antichristliche Geist auf allen diesen erwähnten Gebieten ein planmäßiges Zerstörungswerk treibt und die Bande der Gemeinschaft zu lockern und aufzulösen sucht, und zwar vor Allem dadurch, dass er denselben ihren göttlichen Untergrund zu entziehen trachtet. Soll ich Euch das beweisen? Ein nur oberflächlicher Blick auf jeden der genannten Lebenskreise genügt, um uns davon zu überzeugen. Wie sieht es vielfach in dem Familienleben aus? Wo ist die alte christliche Ordnung und Zucht? Wer wird nicht dabei an das apostolische Wort 2. Tim. 3,1 folgende erinnert, wo unter den Erscheinungen der schlimmen Zeiten in den letzten Tagen auch der Zug sich findet: „Den Eltern ungehorsam, undankbar!“ Und, wenn wir die gesellschaftlichen Verhältnisse ins Auge fassen, wie sind sie vielfach durch den tiefgehenden Klassenhass zerklüftet und unterwühlt, wie oft begegnet uns ein Kriegszustand zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zwischen Übergeordneten und Untergeordneten! Wie selten dagegen gewahren wir Vertrauen und Liebe, die doch allein solche Verhältnisse zu gesegneten machen können! Und begeben wir uns auf das religiöse Gebiet, so finden wir neben der Gleichgültigkeit und der Weltseligkeit, der jedes tiefere Interesse für die unsichtbare Welt abgeht, die ausgesprochenste und bewussteste Feindschaft gegen Alles, was Gott und Gottesdienst heißt.

Wie sollte man sich aber unter diesen Umständen darüber wundern können, dass die Ehrfurcht vor dem Heiligen aus vielen Kreisen immer mehr schwindet und ein profaner Zweifel- und Spottgeist an deren Stelle tritt. - Haben doch unter Anderem vor nicht langer Zeit rohe Massen in England es gewagt, den öffentlichen Gottesdienst in der Kirche zu stören. Und was nun gar die staatlichen Ordnungen anlangt, nun wir wissen es, wie ein unheimlicher Geist der Revolution und Anarchie fast alle Länder der zivilisierten Welt durchzieht und bald hier, bald dort in schreckenerregender Weise hervorbricht.

Nun, meine Brüder, die besonderen Richtungen, die durch eine Zeit hindurchgehen, üben auch immer einen gewissen Einfluss auf alle in dieser Zeit lebenden Menschen aus. Und deswegen wird es wohl nicht zu viel gesagt sein, wenn wir behaupten, dass in dem oben geschilderten Geist unserer Zeit auch bestimmte Versuchungen für die Gemeine Gottes liegen. Andererseits erwächst gerade angesichts der erwähnten Tatsachen der Gemeine Gottes die gesegnete Aufgabe, es zu zeigen, dass der Heilige Geist, der in ihr wohnt und waltet, sie in den Stand setzt, auch in dieser Beziehung das „Licht der Welt“ und das „Salz der Erde“ zu sein. Wenn der Unglaube in seiner Verblendung so oft das Evangelium als das eigentliche Hindernis ansieht, das dem Glück des Einzelnen, wie dem Wohlsein der Gesellschaft im Weg steht, so sollen die Träger des Evangeliums nach dem Willen Gottes durch Wohltun den Mund stopfen der „Unwissenheit der törichten Menschen“ (1. Petr. 2,15) und den Beweis liefern, wie allein der Geist Christi alle Verhältnisse zu heiligen und zu verklären im Stande ist. Da liegt es denn auf der Hand, von welcher Wichtigkeit die „Pietät“ für das christliche Leben ist, weil sie der Welt gegenüber den guten Geruch Christi von der Gemeine Gottes ausgehen lässt. Zugleich aber hängt dieselbe aufs innigste mit einem wesentlichen Zug des Sinnes Christi zusammen, der von sich sagt, dass er sanftmütig und von Herzen demütig sei. Oder kann man sich es möglich denken, dass ein wirklich gedemütigtes Kind Gottes Mangel an Pietät an den Tag legen sollte?

Versuchen mir nun kurz zu zeigen, wie der Geist der Pietät auf den verschiedenen Lebensgebieten, die wir oben nannten, sich äußeren wird. Wir werden dabei selbstredend die Winke benutzen, die uns die Heilige Schrift gibt, da ja das Wort Gottes, wenn sich auch nicht gerade der Ausdruck in demselben findet, doch vielfach den Gegenstand, um den es sich hier handelt, berührt.

Wie das Wort Gottes das Ansehen und die geheiligte Autorität der Eltern schützt, erhellt nicht nur daraus, dass unter den zehn Geboten, die mit dem Finger Gottes selbst geschrieben waren, sich auch das Gebot findet: Ehre Vater und Mutter rc., sondern auch aus den ernsten Gerichten und Strafen, die über Kinder verhängt wurden, die sich an ihren Eltern versündigten. Ich erinnere an den Fluch, der über den einen der Söhne Noahs verhängt wurde, an den Verlust der Erstgeburt, den sich Ruben, der Sohn Jakobs, zuzog, an das schreckliche Ende Absaloms, des Sohnes Davids, und andererseits an die Bestimmungen, die das Gesetz Mosis über die ungehorsamen Kinder festsetzt. Welche Segnungen dagegen wurden den Kindern zu Teil, die ihre Eltern ehrten. Wir denken an einen Joseph, der, trotz seiner hohen Stellung, die Ehrerbietung und Liebe seinem alten Vater bewahrt, und an eine Ruth, die ihrer alten Schwiegermutter Naemi eine so treue Tochter war. - an den Segen, den die Rechabiten vom Herrn empfingen, dürfen wir auch mit Recht erinnern: Wir lesen Jerem. 35,18.19. Und zum Hause der Rechabiten sprach Jeremia: „So spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels: Darum, dass Ihr dem Gebot Eures Vaters Jonadab habt gehorcht und alle seine Gebote gehalten und alles getan, was er Euch geboten hat. Darum spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels, also: „Es soll dem Jonadab, dem Sohne Rechabs, nimmer gebrechen, dass jemand von den Seinen allezeit vor mir stehe.“ Von dem Sohn Gottes lesen wir Luk. 2,51 die bedeutsamen Worte: „Und er ging mit ihnen (einen Eltern) hinab und kam gen Nazareth und war ihnen untertan.“ Und in einem seiner heiligen Wort, vom Kreuz herab, sichert er seiner Mutter die Liebe und Fürsorge eines neuen Sohnes. Wie dieses Verhältnis in den Briefen der Apostel behandelt wird, geht aus den betreffenden Stellen im Epheser- und Kolosser-Brief hervor. Auch ist die Stelle aus 1. Tim. 5,4 zu beachten: „So aber eine Witwe Kinder oder Enkel hat, so sollen die zuvor lernen an ihrem eigenen Hause Frömmigkeit (vielleicht drückt das hier im Grundtext gebrauchte Wort annähernd das aus, was wir „Pietät“ nennen) üben und den Eltern Vergeltung erstatten; denn das ist gut und angenehm vor Gott.“

Gläubige Kinder sind, wenn sie das Vorrecht genießen, gläubige Eltern zu haben, mit ihnen durch ein doppeltes Band verbunden, und wenn sie vom heiligen Geist sich regieren lassen, wird ihre Liebe zu den Eltern einen Zuwachs von Zartheit, Innigkeit und Ehrfurcht erhalten, den eben nur das Leben mit Christo verleihen kann. Möchte es niemals vorkommen, dass auch gläubige Kinder es vergessen, was sie ihren Eltern an Rücksicht und dankbarer Liebe schuldig sind und niemals dieselben durch einen voreiligen Trieb nach Selbständigkeit oder sonstiges unehrerbietiges Verhalten betrüben. - Schwieriger wird das Verhältnis, wenn gläubige Kinder ungläubigen Eltern gegenüberstehen. Gilt doch da das Wort des Herrn: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt, als mich, der ist meiner nicht wert.“ Können doch die Kinder in den Fall kommen, den Schein auf sich laden zu müssen, als beobachteten sie nicht die Pflichten der Ehrerbietung und Liebe, die sie ihren Eltern schuldig sind! Und doch wird der wahrhaft gedemütigte Sinn bei einem gläubigen Kind den Weg finden, und wird der Heilige Geist es ihm zeigen, wie es in allen den Beziehungen, die das Gewissen nicht berühren, die Liebe und Ehrfurcht den Eltern beweisen kann, die es ihnen schuldig ist. Dieser Sinn wird sowohl in dem persönlichen Verhalten den Eltern gegenüber, als auch in der Art und Weise sich kundgeben müssen, wie man Andern gegenüber von den Eltern redet. - Gewiss kann ein solches Verhältnis besonders dadurch erschwert werden, wenn Eltern ein wenig achtbares Leben führen, aber der Herr, der verheißen hat, dem Weisheit zu geben, der um Weisheit bittet, wird es auch in solchen Fällen nicht mangeln lassen, und die wirkliche Liebe wird am ersten auch in schwierigen Verhältnissen den rechten Weg finden. Verstattet mir bei der Gelegenheit auch ein Wort an die Eltern in Betreff der Pflege der rechten Pietät bei ihren Kindern. Wir sind der Ansicht, dass auch in christlichen Familien oft in der Beziehung gesündigt werden kann dadurch, dass Personen und Verhältnisse in Gegenwart von unerwachsenen Kindern in einer Weise besprochen werden, die diesen zur Versuchung werden kann, vor der Zeit sich ein Urteil anzumaßen über Personen und Verhältnisse, zu dem sie nicht berechtigt sind. Wie wichtig ist es doch, dass die Zunge durch den heiligen Geist regiert wird! Wenn z. B. in unvorsichtiger Weise über Andere, namentlich über Respektspersonen, Lehrer, Prediger rc. in Gegenwart der unerwachsenen Jugend im Haus geredet wird, hat man sich dann zu verwundern, wenn ein Geist der Pietätslosigkeit in die jungen Herzen gepflanzt wird, der unter Umständen sich auch gegen die eigenen Eltern wendet? Es scheint uns dieser Punkt von großer Bedeutung und Wichtigkeit zu sein, wie denn überhaupt ein falsches Sich-gehenlassen im Familienkreis, wozu eine besondere Versuchung vorliegt, von den unheilvollsten Folgen ist. Gebe doch der Herr uns Allen, die wir zu den Eltern oder Alten gehören, jene gesegnete Selbstzucht, die sich namentlich in unserem Reden und in unserem Urteilen verraten wird. Wo der Geist heiliger Liebe und Wahrheit in den Reden vorhanden ist, da werden auch scharfe Urteile, die unter Umständen nicht zu vermeiden sind, der wahren Pietät keinen Eintrag tun.

Wir gehen zu den gesellschaftlichen Beziehungen über. Nur einige Andeutungen darüber! Wie herrlich schildert der Apostel das Verhältnis der Dienenden zu den Herren und der Herren zu den Dienenden! Man vergleiche nur die einschlagenden Stellen. Ja wohl, die christliche Liebe, das ist die einzige, wahre Lösung der sozialen Frage. Aber wie viel Gnade bedürfen namentlich die Kinder Gottes, die in dienenden Verhältnissen stehen, um nicht von dem Geist der Unzufriedenheit und Unbotmäßigkeit, der an der Tagesordnung ist, angefressen zu werden. Wollen wir damit sagen, dass nicht oft genug Gründe zur Unzufriedenheit vorliegen können, oder dass nicht schreiende Notstände in unserem sozialen Leben vorhanden sind?

Gewiss nicht. Aber der Heilige Geist macht es durch den Apostel Petrus den gläubigen Knechten zur Pflicht, nicht nur den gütigen und gelinden, sondern auch den wunderlichen (ungeschlachten) Herren mit aller Furcht untertan zu sein. Von Herzen untertan sein, von Herzen dienen zu wollen um des Herrn willen, das ist die unerlässliche Vorbedingung auch der rechten Pietät in dieser Beziehung. Und da gilt es, wie angedeutet, mit allem Ernst, mit vollem Bewusstsein dem Zeitgeist sich entgegenzustellen. Das ist nur möglich durch die Gnade, durch die Kraft Christi! Gottlob, es fehlt nicht an Beispielen der Art und die Tatsache, dass oft auch ungläubige Herren vorzugsweise nach Arbeitern oder Arbeiterinnen aussehen, die gläubig sind, wenn sie auch selbst vom Glauben nichts wissen wollen, liefert den Beweis, dass der Geist Christi auch in ihren Augen etwas anderes den Herzen mitteilt, dass er andere Bürgschaften bietet, als der Geist dieser Welt. - Hieher gehört die wichtige Stelle in dem 1. Brief Pauli an Timotheus, Kap. 6,1. und 2.: „Die unter dem Joch sind als Knechte, sollen ihren Herren aller Ehre wert achten, auf dass nicht der Name Gottes und die Lehre verlästert werde. Welche aber gläubige Herren haben, sollen dieselben nicht verachten, weil sie Brüder sind, sondern desto mehr dienstbar sein, dieweil sie gläubig und geliebt und der Wohltat teilhaftig sind.“ Man kann dazu auch die zarte Weise vergleichen, in welcher Paulus im Philemon-Brief den Onesimus, einen entlaufenen Sklaven seines Freundes Philemon, der durch den Apostel zum Herrn geführt worden war, unter vollständiger Wahrung des bestehenden Verhältnisses, wieder bei demselben einführt. - So bestimmt der Geist Christi den gläubigen Herren eine andere Stellung zu ihren Untergebenen geben wird, als es bei den ungläubigen Herren möglich ist; ebenso wichtig ist es, dass auch Seitens der Dienenden die apostolische Ermahnung beherzigt wird. Ein Heraustreten aus den von Gott geordneten Verhältnissen im Namen der „christlichen Gleichheit und Brüderlichkeit“, ein Nichtachten der Verpflichtungen, die sich an die betreffende Stellung knüpfen, schaffen unhaltbare und ungesunde Verhältnisse, und gereicht Solches namentlich auch der Welt mit Recht zu bestimmtem Anstoß. Wir sehen aus den apostolischen Ermahnungen, wie es durchaus nicht sich von selbst versteht, dass in den genannten Verhältnissen der Geist der Pietät herrscht, sondern wie auch ein jeder Christ der Erinnerung und Ermahnung bedarf. Durchschlagend ist dabei das, wenn es jemanden vor Augen steht, dass er niemals bloß dem Menschen dient, sondern dem Herrn im Himmel; wie denn überhaupt im Evangelium alle irdischen Verhältnisse ihre wahre Weihe durch die Anknüpfung an die unsichtbare Welt erhalten. Das Verhältnis, in dem Elieser zu Abraham, die Schnitter des Boas zu Boas, verschiedene Diener Davids zu ihrem König, Daniel zu den verschiedenen Königen, unter denen er hohe Stellungen einnahm, standen, ferner das Verhältnis der Diener Naemans zu ihrem Herrn, sowie das der Diener des Hauptmanns Cornelius zu diesem, werden immer als gesegnete Vorbilder für alle Zeiten dastehen. Vielleicht bedarf es besonders unsere christliche Jugend, die unter den Einflüssen des gegenwärtigen Zeitgeistes aufgewachsen ist, an das, was wir eben ausführten, erinnert zu werden.

Lasst mich hier ein kurzes Wort über die große Bedeutung der Pietät in dem Verhältnis der Untertanen zur Obrigkeit, das ja manche Berührungspunkte mit dem oben Besprochenen hat, hinzufügen. Wer mit einiger Aufmerksamkeit der Entwicklung, namentlich der letzten vier Jahrzehnte gefolgt ist, weiß nur zu gut, wie stark auch das Ansehen der Obrigkeit, als einer von Gott gesetzten und geheiligten Autorität im Urteil Vieler, Vieler erschüttert worden ist. Wie viel Gnade gehört auch hier, namentlich für Kinder Gottes, die der Arbeiterbevölkerung angehören, dazu, von dem Geist des Misstrauens, ja des Hasses gegen die bestehende Ordnung nicht mitangesteckt zu werden. Und doch wie klar und deutlich redet das Wort Gottes, wie fordert es im Namen Gottes zu Gehorsam, Ehrfurcht und Untertänigkeit selbst einer Obrigkeit gegenüber auf, die vielfach sich Ungerechtigkeiten und Bedrückungen gegen die Christen zu Schulden kommen ließ. Man vergleiche Röm. 13,1 ff. und 1. Petr. 2,13-17 u. A. Wie zeichnet der 2. Petrus-Brief im 2. Kapitel den Geist der „Gesetzlosigkeit“ und falscher Freiheit unter anderem dadurch, dass er von Solchen redet (V. 10), „die da wandeln dem Fleisch nach in unreiner Lust und die Herrschaft verachten, frech, eigenliebig, nicht erzittern, die Majestäten zu lästern.“ - Wie wichtig wird es dem gegenüber für die Kinder Gottes, ohne sich mehr in die Politik einzumischen, als es jedem Einzelnen bestimmt vom Herrn angewiesen und erlaubt wird, und ohne sich der Kriecherei und der Unaufrichtigkeit schuldig zu machen, die so vielfach auch in diesen Beziehungen herrschen, es an den Tag zu legen, wie sie die Obrigkeit als Dienerin Gottes ansehen und ehren und auch sich willig allen ihren Anordnungen, sofern dieselben nicht in die Domäne des Gewissens übergreifen, unterwerfen, und zwar nicht aus Not, sondern um des Gewissens willen. Ja, wie wichtig und gesegnet kann es sein, namentlich für Solche, die besonderen Beruf dazu haben, derartige Gesinnungen auch in anderen zu pflegen, die vielleicht unter verderblichen Einflüssen stehen. Überhaupt sollten die Kinder Gottes und namentlich die unseres Vaterlandes es nie vergessen, welch ein Segen es ist, unter einer dem Wort Gottes freundlich gesinnten Obrigkeit zu stehen, und sollten mehr, als sie es im Allgemeinen tun, in unseren kritischen und ernsten Zeiten der Obrigkeit vor dem Herrn gedenken. (1. Tim. 2,2-4.) Was durch ein planmäßiges Niederreißen des Vertrauens und der Pietät, namentlich auch durch eine zügellose und vergiftete Presse angerichtet werden kann, das beweisen die Zustände in so vielen unserer großen Städte.

Wir kommen schließlich noch zum christlichen Gemeindeleben. Wenn auf der einen Seite das Wort Gottes gewissermaßen alle Unterschiede, soweit sie ein Hindernis der innigen Liebesgemeinschaft der Glieder Christi unter einander sein könnten, aufhebt, wie wir denn Kol. 3,11 die Worte lesen: „Da nicht ist Grieche oder Jude, Beschneidung der Vorhaut, Ausländer, Scythe, Knechte, Freier, sondern Alles und in Allem Christus,“ vgl. auch Gal. 3,28, so hebt es auf der andern Seite sehr bestimmt hervor, wie die Gemeine Gottes ein wohlgegliederter Organismus ist, in dem jedes Glied seine bestimmte, ihm von Gott angewiesene Stelle einzunehmen hat. Damit ist aber naturgemäß der Boden für die echte Pietät auch in den Gemeindeverhältnissen gegeben.

Wenn ein Wort, wie das Röm. 12,10: „Einer komme dem Andern mit Ehrerbietung zuvor“, mehr die christliche Achtung und die Rücksicht der Liebe berührt, die jeder Christ seinem Bruder schuldig ist, so beschäftigen sich andere Stellen bestimmter mit den eigentlichen Pietätsverhältnissen. Da lesen wir unter Anderem in 1. Petr. 5,5 die Ermahnung: Ihr Jüngeren seid untertan den Ältesten.“ Und wenn auch dem Zusammenhang nach hier wohl vorwiegend an die Vorsteher der Gemeine gedacht ist, so wird doch wohl in demselben Wort ohne Zweifel auch die allgemeine Mahnung an die jüngeren Christen enthalten sein, den älteren Christen mit der gebührenden Achtung und Ehrerbietung zu begegnen. Es gehört dazu vor Allem Demut, Herzensdemut. Wer klug ist bei sich selbst, und Röm. 12,16 warnt ausdrücklich vor dieser Versuchung, wird leicht sich mit der Meinung tragen, dass er ja auch den Geist Gottes habe und deswegen selbst urteilen, selbst entscheiden könne und darum den Rat Anderer nicht bedürfe. Gewiss hat jedes Kind Gottes das Recht und die Pflicht, seiner Meinung gewiss zu werden. Aber um dazu zu gelangen, dazu gehört auch das, dass man die Gaben, die der Herr anderen seiner Kinder gegeben hat, mitbenutze. Bedürfen die alten Christen oft des erfrischenden Einflusses, der von einer christlichbegeisterten Jugend ausgeht, und sollen sie sich diesem Einfluss nicht misstrauisch und kritisierend entziehen, so bedarf die christliche Jugend ebenso der Gaben, die das Alter durch seine reicheren Erfahrungen und durch seine größere christliche Reife zu bieten hat. Und wenn diese Gaben geringgeschätzt und nicht benutzt werden, kann das nur zum Schaden des christlichen Lebens gereichen. Gibt es in dieser Beziehung nicht bestimmte Lücken, meine Brüder? - Wir wollen gewiss nicht sagen, dass nur die Jungen zu lernen hätten, die alten haben auch noch immer zu lernen. Aber gewahren wir nicht hin und wieder bei jungen, oft noch unbefestigten Christen einen Trieb zur Freiheit und Selbständigkeit, auch wohl zum Richten und Urteilen, der keine gesunde innere Stellung verrät? Wie ist er doch verhältnismäßig so selten der gebeugte und zerschlagene Geist, der auf dem tiefen Bewusstsein der eigenen Unwürdigkeit und Unzulänglichkeit beruht und der doch so sehr wohl mit echter christlicher Freudigkeit zusammengeht!

Dahin gehört auch die Ermahnung des Apostels Paulus an seinen Mitarbeiter Timotheus, 1. Tim. 5,1.2.: „Einen Älteren schilt nicht, sondern ermahne ihn als einen Vater, die Jüngeren als die Brüder, die älteren Weiber als die Mütter.“ Wie mancher junger Christ ist, weil er das apostolische Wort, das wir vorhin nannten, in den Wind geschlagen hat, beispielsweise in eine innere Unstetheit geraten, die ihn von einer christlichen Gemeinschaft zur andern geführt hat, während seinem Herzen die wahre Befestigung und Gründung in Christo fremd blieb.

Wir berühren ein verwandtes Verhältnis, wir meinen die Beziehungen der Pietät, in die ein Gemeindeglied den Vorstehern und der Gemeine selbst gegenüber gestellt ist. Es bedarf einer gewissen Einfalt, um mit Unbefangenheit Fragen zu berühren, bei deren Behandlung man sich so leicht dem Schein aussetzen kann, als rede man pro domo (d. 1. für die eigene Stellung). Aber die Sache ist zu wichtig, als dass man sie unberührt lassen dürfte. Stellen, wie die Hebr. 13,17: „Gehorcht eueren Vorstehern und folgt ihnen; denn sie wachen über euere Seele, als die da Rechenschaft Dafür geben sollen, auf dass sie das mit Freuden tun und nicht mit Seufzen, denn das ist euch nicht gut,“ vgl. auch 1. Thess. 5,12 ff., reden so deutlich, dass sie kaum einer näheren Erläuterung bedürfen. Es versteht sich ja von selbst, dass Vorstehern wie Gemeindegliedern das Wort Gottes als einzige Richtschnur zu dienen hat, und dass die Letzteren die Ermahnungen ihrer Vorsteher an dieser untrüglichen Norm nicht nur prüfen dürfen, sondern prüfen sollen. Aber dies vorausgesetzt, muss es da nicht die Achtung vor dem Gebot des Herrn und die Pietät den Gliedern einer Gemeine nahe legen, namentlich bei wichtigen Entscheidungen und Entschließungen den Rat Derer in Anspruch zu nehmen, zu denen der Herr sie in ein bestimmtes Verhältnis des Vertrauens gesetzt hat? Wie oft kommt es dagegen vor, dass Jemand unter Einflüsse gerät, und solchen sich hingibt, durch die das Verhältnis zu der christlichen Gemeinschaft, der er angehört, erschüttert wird, ohne dass er auch nur, wie es Pflicht wäre vor dem Herrn, dem betreffenden Vorsteher die Gelegenheit gibt, in brüderlicher Weise die in Frage stehenden Angelegenheiten oder Bedenken zu besprechen. Sollte auf einem solchen Vorgehen der Segen des Herrn ruhen können und sollte man dann zu den betreffenden Entschließungen das Vertrauen haben können, dass sie die Frucht einer gewissenhaften Prüfung vor dem Herrn gewesen seien? Wir können das unmöglich glauben. Und, um Missverständnisse zu vermeiden, erklären wir bestimmt, dass wir es für die Pflicht eines jeden Kindes Gottes halten, falls es zu einem der Vorsteher der Gemeinschaft, zu der es sich bisher bekannt hat, ein Vertrauensverhältnis hat, bevor es einer andern Gemeinschaft sich anschließt, mit diesem zu reden und ihm Gelegenheit zu geben, den in Frage stehenden Schritt mit dem Wort Gottes zu beleuchten. Schließt die Gemeinschaft, der Jemand sich nähert, diesen Weg mehr oder weniger grundsätzlich aus, oder warnt vor demselben, so verletzt sie selbst aufs Bestimmteste die Pietät und wird sich nicht darüber wundern können, wenn im gegebenen Fall ihr selbst mit derselben Münze heimgezahlt wird. Dasselbe gilt auch in Fällen, wo neue Anschauungen an Jemanden herantreten, die oft so leicht, vollends, wenn sie eine besondere Förderung des geistlichen Lebens in Aussicht stellen, ohne gehörige Prüfung angenommen werden, während doch eine offene Besprechung, namentlich auch mit Solchen, die der Herr zu Leitern der Gemeinschaft bestellt hat, so angezeigt und natürlich wäre.

Berühren wir auch noch das Verhältnis des einzelnen Gliedes zu der Gemeinde, der es angehört. Man möge uns dabei es nicht verargen, wenn wir ganz offen reden. Es gibt leider vielfach einen geistlichen Egoismus, der, ohne sich dessen klar bewusst zu sein, die Gemeine mehr oder weniger als das Mittel ansieht, um seine geistlichen Bedürfnisse zu befriedigen, dagegen wenig Aufnahme dafür hat, dass man auch selbst ganz bestimmte Verpflichtungen der Gemeine gegenüber hat. Eine Erscheinung dieser Stellung ist die, dass man im gegebenen Fall, wo man einen höheren geistlichen Genuss in Aussicht zu haben glaubt, ohne Weiteres die von der Gemeine gebotenen Erbauungsmittel zurückstellt und seinem geistlichen Vergnügen nach geht. Man wolle uns nicht missverstehen! Wir halten es für einen bestimmten Segen, wenn man, soweit es mit den Pflichten gegen die eigene Gemeine verträglich ist, auch von den Gaben und Segnungen mit zu profitieren sucht, die der Herr einem andern Teil seiner großen Gemeine verliehen hat. Aber es gilt, dafür ein Gemerk zu haben, was der Wille Gottes in jedem einzelnen Fall für uns ist, und diesem Willen zu folgen, wird ohne allen Zweifel den meisten wahren Segen bringen.

Und nun lasst mich noch einen Punkt berühren, und das soll der Schluss sein. Wir denken an die Pietätsrücksichten, die wir anders gerichteten Brüdern und Schwestern schuldig sind. Vorab wollen wir bemerken, dass wir es für sehr wichtig und wünschenswert halten, dass jedes Glied einer christlichen Gemeinde aus Gewissensüberzeugung die Stellung einnimmt, die es hat. „Ein Jeglicher sei in seiner Meinung gewiss.“ Röm. 14,5. Wir glauben aber, dass die Festigkeit der eigenen Überzeugung die Weitherzigkeit nicht aus-, sondern einschließt. Nehme ich für mich selbst das Recht in Anspruch nach meiner Gewissensüberzeugung zu handeln, so. muss ich auch die Gewissensüberzeugung Anderer, selbst, wenn ich dieselbe für eine irrige halte, achten. In der Beziehung sind die Ausführungen in Röm. 14. gewiss besonders beherzigenswert. Diese Achtung vor der Gewissensstellung eines andern Bruders wird mich aber davon abhalten, in verletzender oder verächtlicher Weise von seinen besonderen, von den meinigen abweichenden Anschauungen zu reden. Gewiss gibt es Fälle, wo man um der Wahrheit willen und aus Liebe zu den Seelen gefährliche Irrtümer als solche bezeichnen muss. Beispielsweise, wenn die Taufe als das Mittel, einen Menschen zu einem Kind Gottes zu machen, hingestellt und dadurch die Notwendigkeit einer persönlichen Wiedergeburt abgeschwächt wird, so ist das ein solcher Irrtum, dass es Untreue wäre, wenn man über denselben zur Tagesordnung übergehen wollte, etwa um Jemanden nicht weh zu tun. Aber es gibt andere Differenzen, die man anders behandeln kann. Wenn z. B. der Herr Jesus den Zinsgroschen gibt, obwohl er als Sohn des Hauses nicht dazu verpflichtet war, „um sie nicht zu ärgern“, wenn der Apostel Paulus unter Rücksichtnahme auf die schwachen Judenchristen sich mit den Männern, die ein Gelübde auf sich hatten, im Tempel zu Jerusalem reinigt (vgl. Apostgesch. 21,26), so liegt dieser Handlungsweise, soweit wir sie verstehen, das zu Grunde, dass man den in Frage stehenden Personen aus Liebe einen Anstoß ersparen wollte, der ihnen nachteilig sein könnte. Ein ähnliches Verhalten wird es nach unserer Überzeugung sein, wenn man aus Liebe die wegwerfenden und abschätzigen Urteile vermeidet, zu denen man bei vorkommenden Gelegenheiten versucht werden kann. Der Heilige Geist wird gewiss jeden Jünger des Herrn in den einzelnen Fällen recht leiten, so oft er diese Leitung von Herzen sucht. - Der eigentliche kirchliche Radikalismus, wo er immer sich zeigt, der im Namen der christlichen Wahrheit über alles zu Gericht sitzt, was mit den eigenen Anschauungen nicht stimmt, ist eine Pflanzschule der Pietätslosigkeit und des richtenden Geistes, der dem geistlichen Leben den empfindlichsten Schaden zufügt. Lasse der Herr auch diese Ausführungen dahin gesegnet sein, dass die Bedeutung der Pietät für das christliche Leben mehr anerkannt und dem Geiste der Pietätslosigkeit vor Allem in den christlichen Kreisen und Gemeinschaften gewehrt werde. Amen.

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