Murray, Andrew - Nach Jesu Bild - XXVII. In der Liebe Gottes bleibend.
„Gleichwie mich mein Vater liebt, also liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe. So ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe, gleichwie ich meines Vaters Gebote halte, und bleibe in seiner Liebe.“ (Joh. 15,9.10).
Unser HErr und Heiland will nicht bloß, dass wir in Ihm, sondern dass wir in seiner Liebe bleiben. Zu dem Bleiben in Ihm gehört vor allem das Eingehen, das Wohnen und das Gewurzeltsein in jener wunderbaren Liebe, womit Er uns geliebt hat, und die Er selbst uns mitteilt. „Die Liebe sucht nicht das Ihre“; sie geht aus sich selbst heraus, um mit dem Geliebten sich zu vereinigen; sie erschließt sich selbst, und breitet ihre Arme weit aus, um den Gegenstand ihres Verlangens darin aufzunehmen und festzuhalten. Das Bleiben in Jesu ist ein zartes, persönliches Verhältnis zu Ihm, ein Verlieren unser selbst in der Gemeinschaft der ewigen Liebe, da wir in der Erfahrung seiner Liebe unser Leben finden, und nirgends uns daheim fühlen, als in seiner Liebe.
Um dieses Leben der Liebe in seiner ganzen göttlichen Schönheit und Herrlichkeit uns vor Augen zu stellen, sagt uns Jesus, dass diese seine Liebe zu uns, in welcher wir bleiben sollen, der Liebe des Vaters, in welcher Er bleibt, ganz genau entspricht. Wahrlich, wenn uns irgend etwas das Bleiben in seiner Liebe noch wunderbarer und anziehender machen könnte, so wäre es diese Erwägung: „Gleichwie mich mein Vater liebt, also liebe ich euch auch; bleibt in meiner Liebe.“ Unser Leben kann in der Tat ein Jesus-ähnliches, ein unaussprechlich seliges werden, durch das Bewusstsein, von der ewigen Liebe umfangen und ihr wohlgefällig zu sein.
Wir wissen, dass hierin das Geheimnis des wunderbaren Lebens Jesu und seiner Kraft im Blick auf seinen Tod lag. Bei seiner Taufe wurde jene Stimme, jene göttliche Botschaft gehört, welche der Heilige Geist in stets lebendiger Kraft bewahrte: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe.“ Mehr als einmal lesen wir: „Der Vater hat den Sohn lieb“ (Joh. 3,35; 5,20). Jesus spricht von dieser Liebe, als von seiner höchsten Seligkeit: „auf dass die Welt erkenne, dass du sie liebst, gleichwie du mich liebst“; „du hast mich geliebt, ehe denn die Welt gegründet ward“, „dass die Liebe, damit du mich liebst, sei in ihnen.“ Gerade wie wir Tag für Tag im Licht der uns bestrahlenden Sonne wandeln und leben, so lebt Jesus im herrlichen Licht der Liebe des Vaters, welche den ganzen Tag Ihn umleuchtet. Als der Geliebte Gottes war Er imstande, Gottes Willen zu tun und seine Aufgabe zu erfüllen. Er wohnte in der Liebe des Vaters.
Und wir wir sind die von Jesu Geliebten. Gleichwie der Vater Ihn liebt, also liebt Er uns. Um dies einigermaßen zu erfassen, müssen wir uns Zeit nehmen, und indem wir die Augen gegen alles andere verschließen, in Anbetung vor Ihm verharren, bis wir die unendliche Liebe Gottes in all ihrer Macht und Herrlichkeit durch das Herz Jesu auf uns zuströmen sehen, bis wir es erfahren, dass sie sich uns kundgeben, völligen Besitz von uns ergreifen, und sich uns als Heimat und Ruhestätte anbieten möchte. O wenn der Christ nur die Zeit nähme, sich von dem wunderbaren Gedanken erfüllen zu lassen: „Ich bin der Geliebte des HErrn, Jesus liebt mich zu jeder Zeit, gleichwie der Vater Ihn liebt“, wie würde da sein Glaube erstarken, und wie könnte er es erfassen, dass einer, der geliebt wird wie Jesus, auch wandeln muss wie Er.
Es ist aber noch ein zweiter, beachtenswerter Punkt in dieser Vergleichung. Nicht nur ist die Liebe, in welcher wir bleiben sollen, derjenigen gleich, in welcher Er blieb, sondern wir kommen auch auf dem gleichen Wege dazu, wie Er. Als Sohn Gottes war Jesus schon in der Liebe des Vaters, als Er in die Welt kam; aber nur durch Gehorsam konnte Er sich derselben stets erfreuen und darin bleiben. Dieser Gehorsam war nicht derart, dass er Ihn gar nichts gekostet hätte, nein, aber dadurch, dass Er seinen eigenen Willen daran gab, und Gehorsam lernte an dem, dass Er litte, dadurch, dass Er bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz gehorsam war, dadurch hielt Er des Vaters Gebote und blieb in seiner Liebe. „Darum liebt mich mein Vater, dass ich mein Leben lasse. Solches Gebot habe ich empfangen von meinem Vater.“ „Der Vater lässt mich nicht allein, denn ich tue allezeit, was Ihm gefällt.“ Nachdem Er uns dies Beispiel gegeben, und es uns bewiesen hat, wie der Pfad des Gehorsams uns sicher zu der Gegenwart, Liebe und Herrlichkeit Gottes führen wird, ladet Er uns ein, Ihm darin nachzufolgen. „So ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe, gleichwie ich meines Vaters Gebote halte, und bleibe in seiner Liebe.“
Durch Jesus-ähnlichen Gehorsam kommen wir zu dem Jesus-ähnlichen Genuss der göttlichen Liebe. Wie wird uns dadurch ein so freier, offener Zugang zur Gegenwart Gottes zugesichert! „Lasst uns lieben mit der Tat und mit der Wahrheit, dass wir können unser Herz vor Ihm stillen.“ „Ihr Lieben, so uns unser Herz nicht verdammt, so haben wir eine Freudigkeit zu Gott; und was wir bitten, werden wir von Ihm nehmen, denn wir halten seine Gebote, und tun, was vor Ihm gefällig ist.“ Welche Kühnheit gibt es uns den Menschen gegenüber, wie erhebt es uns über ihr Lob oder ihre Geringschätzung, zu wissen, dass wir uns nur nach Gottes Winken bewegen und einfach seinen Befehlen zu gehorchen haben. Welche Kühnheit gibt dies uns auch angesichts von Gefahren und Schwierigkeiten! wir tun Gottes Willen, und überlassen Ihm alle Verantwortung des Erfolges oder des Misslingens. Ein Herz, das einzig mit dem Bestreben nach pünktlichem, völligem Gehorsam gegen Gott erfüllt ist, kann sich über die Welt erheben und sich in den Willen Gottes legen, als in das Plätzchen, wo Gottes Liebe auf ihm ruht; gleichwie Jesus, so hat auch es seine Wohnung in der Liebe Gottes.
Lasst uns von Jesu lernen, was das heißt, unser ganzes Leben von dem Geist des Gehorsams regieren zu lassen. Zunächst ist Abhängigkeit von Gott darin begriffen; das Geständnis, dass wir weder das Recht noch den Wunsch haben, irgendwie unseren eigenen Willen zu tun. Dann hängt auch Gelehrigkeit des Geistes damit zusammen. Des hemmenden Einflusses von Überlieferung, Vorurteil, Gewohnheit, klar bewusst, erkennt der Gehorsam kein anderes, als nur das göttliche Gesetz an. In der Überzeugung, dass auch das sorgfältigste Forschen im Worte Gottes den Willen Gottes in seiner geistlichen Macht nicht immer klar erkennen kann, sucht er sich gänzlich unter die Leitung des Heiligen Geistes zu stellen und von Ihm geführt zu werden. Er weiß, dass seine Ansichten über Wahrheit und Pflicht sehr mangelhaft sind, und verlässt sich darauf, von Gott selbst zu tieferer Einsicht und höherer Erkenntnis geführt zu werden.
Wer im Gehorsam steht, der merkt sich das Wort: „Wenn du der Stimme des HErrn deines Gottes gehorchen wirst, dass du hältst und tust alle seine Gebote“, und versteht, dass nur dann der Gehorsam möglich und Gott wohlgefällig ist, wenn die Gebote nicht bloß aus dem Gewissen, oder aus dem Gedächtnis, oder aus Büchern, sondern von der im Geist gehörten, lebendigen Stimme des HErrn an uns ergehen. Er sieht, dass der Gehorsam nur dann zu seiner vollen Geltung gelangt, wenn er des Vaters persönliche Anordnungen, als einen Ihm selbst geleisteten Dienst befolgt. Es ist sein eines Anliegen, dass er, Gott anheimgegeben, auf dem Altare liege; dass er Auge und Ohr offen halte für jeden Wink Gottes. Es ist ihm nicht genug, um seiner selbst willen zu gehorchen; nein, er bringt alles in persönliche Beziehung mit Gott, und tut es, als dem HErrn. Es ist ihm Bedürfnis, jeden Augenblick und bei jedem Schritt seines Lebens in Gemeinschaft mit Gott zu stehen. Auch in den kleinen Pflichten des täglichen Lebens möchte er nur dem Vater gehorchen, weil er dadurch allein zu Höherem fähig gemacht werden kann. Sein einer Wunsch ist, dass Gott durch die Durchführung seines Willens verherrlicht werde; und sein eines Mittel, diesen Wunsch zu erreichen, ist: mit ganzem Herzen und aller Kraft jeden Augenblick des Tages an der Ausführung dieses Willens zu arbeiten. Dabei ist dann auch sein einer, aber auch genügender Lohn der, dass durch das Tun des Willens Gottes der Pfad durch Jesum selbst eröffnet wird zu immer tieferem Bleiben in der Liebe Gottes. „So ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe.“
O dieser selige, Jesus-ähnliche Gehorsam, der uns zu einem Jesus-ähnlichen Bleiben in der Liebe Gottes führt! Um ihn zu erreichen, müssen wir Jesum besser kennen lernen. Er entäußerte und erniedrigte sich und ward gehorsam. Er möge auch uns ausleeren und demütigen. Er lernte Gehorsam in der Schule Gottes, und da Er ist vollendet, ist Er geworden allen, die Ihm gehorsam sind, eine Ursach zur ewigen Seligkeit. Wir müssen uns Ihm hingeben, damit Er uns Gehorsam lehren könne! Wir müssen auf Ihn hören, wenn Er uns sagt, wie Er nichts von sich selber tat, sondern nur was Er sah den Vater tun; wie die vollständige Abhängigkeit und das beständige Warten auf die Leitung des Vaters die Wurzel seines unbedingten Gehorsams war, und wie gerade darin dann das Geheimnis der stets zunehmenden Erkenntnis des Willens des Vaters lag (Joh. 5,19.20; siehe 15. Tag). Gottes Liebe und des Menschen Gehorsam gehören so genau zusammen, wie der Schlüssel und das Schloss. Gottes Gnade steckt den Schlüssel in das Schloss, und der Mensch gebraucht den Schlüssel, um die Schätze der Liebe zu erschließen.
Welche neue Bedeutung erhalten die an sein altes Bundesvolk gerichteten Worte Gottes im Lichte des Beispiels und der Worte Jesu! „Wenn du diese Rechte hörst, und sie hältst und danach tust, so wird der HErr, dein Gott, dich lieben, und segnen, und mehren.“ „Werdet ihr meiner Stimme gehorchen, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern.“ Liebe und Gehorsam, das sind wahrlich die beiden Hauptpunkte im Verkehr zwischen Gott und dem Menschen. Von Seiten Gottes ist es die Liebe, die sich selbst und alles, was sie hat, dem Menschen gibt; von Seiten des Gläubigen ist es dann der Gehorsam, der sich selbst mit allem, was er hat und ist, Gott hingibt.
In den letzten Jahren haben wir viel gehört von der Übergabe, die sich Gott zum völligen Eigentum weiht, und Tausende danken dem HErrn für den Segen, der ihnen dadurch zu teil geworden ist. Aber hüten wir uns doch, dass wir in Verbindung hiermit nicht sowohl nach einer seligen Erfahrung trachten, die dadurch zu genießen ist, als nach dem einfachen Tun des Willens Gottes, worauf diese Worte hinweisen, und welches doch oft übersehen wird. Wir wollen doch das Wort „Gehorsam“, das Gott so gerne gebraucht, festhalten. „Gehorsam ist besser denn Opfer“: Eine Aufopferung unser selbst ist nichts ohne, und nichts als Gehorsam. Es war der sanfte, demütige Gehorsam Jesu, wodurch sein Opfer Gott ein süßer Geruch wurde: und nur durch demütigen, kindlichen Gehorsam, der zuerst willig auf des Vaters Stimme lauscht, und dann das tut, was recht ist vor Ihm, werden wir das Zeugnis empfangen, dass wir Ihm wohlgefallen.
Lieber Leser, soll nicht dies unser Leben sein? Was ist einfacher und zugleich majestätischer, als Jesu gehorchen und in seiner Liebe bleiben?
O mein Gott, was soll ich sagen zu diesem wunderbaren Austausch zwischen dem himmlischen und irdischen Leben, den du mir vorgelegt hast? Dein Sohn hat uns gelehrt und es auch bewiesen, dass es möglich und unaussprechlich selig sei, schon hier auf dieser Erde zu leben, immer umgeben von der Liebe Gottes, wenn wir nur uns dazu hergeben, deiner Stimme und deinem Willen zu gehorchen. Weil nun Jesus unser Haupt und unser Leben ist, so wissen wir, dass auch wir in gewissem Maße leben und wandeln können, wie Er wandelte, dass auch unsere Seelen jeden Augenblick in deiner göttlichen Liebe bleiben und sie genießen können, weil du um seinetwillen unser schwaches Halten deiner Gebote gnädig annimmst. O mein Gott, es ist in der Tat zu wunderbar, dass wir durch den von deinem Heiligen Geiste gewirkten Jesus-ähnlichen Gehorsam berufen werden zu einem Jesus-ähnlichen Bleiben in Deiner Liebe!
Herr Jesu, wie kann ich dir genugsam danken, dass du ein solches Leben auf Erden gebracht hast, und mich daran teil nehmen lässt. Ich kann mich dir nur aufs Neue hingeben, deine Gebote zu halten, wie du des Vaters Gebote gehalten hast. O HErr, lehre mich das Geheimnis deines vollkommenen Gehorsams; gib mir das offene Ohr, das wachsame Auge, das sanfte und demütige Herz, das kindliche Wesen, womit du alles für den geliebten Vater daran gabst. O Heiland, erfülle mein Herz mit deiner Liebe, dann werde auch ich Gehorsam lernen. Ja, HErr, dies allein sei mein Leben: deine Gebote zu halten und zu bleiben in deiner Liebe. Amen!