Müller, Julius - Drei Stufen des christlichen Lebens.

Müller, Julius - Drei Stufen des christlichen Lebens.

Predigt über die Verklärung Christi. Matth. 17, 1-18.

von Dr. Julius Müller, Prof. der Theologie zu Marburg.

Deines Geistes Wehen ist es, Vater unsers Herrn Jesu Christi, welches dahin rauscht über das Todtenfeld, daß in den erstorbenen Gebeinen sich neues Leben regt, daß die Irrdischgesinnten sich unbefriedigt abwenden von dem eitlen Treiben und einer höhern Sehnsucht Raum geben in ihrem Herzen. Deines Geistes Wehen ist es, welches den glimmenden Lebensfunken vor dem Erlöschen bewahrt und zur hellen Flamme anfacht, welches die Ergriffenen zur Entscheidung drängt und zur völligen Hingabe an deinen Sohn Jesum Christum, daß sie als wahrhaft Wiedergeborne ihm leben und ihm sterben. O wirke auch in uns durch deinen Geist dieß heilige Werk, damit, wenn du einst unsre irdische Wanderschaft endigst, wir würdig erfunden werden, einzugehen in das Reich deiner Herrlichkeit, um Jesu Christi unsres Heilandes willen. Amen.

Text: Matth. 17, 1-18.

Und nach sechs Tagen nahm Jesus zu sich Petrum und Jacobum, und Johannen, seinen Bruder, und führete sie beiseits auf einen hohen Berg. Und ward verkläret vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne und seine Kleider wurden weiß, als ein Licht. Und siehe, da erschienen ihnen Moses und Elias, die redeten mit ihm. Petrus aber antwortete und sprach zu Jesu: Herr, hier ist gut sein: willst du, so wollen wir hier drei Hütten machen, dir eine, Mosi eine, und Elias eine. Da er noch also redete, siehe da überschattete sie eine lichte Wolk. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören. Da das die Jünger hörten fielen sie auf ihr Angesicht, und erschraken sehr, Jesus aber trat zu ihnen, rührete sie an, und sprach: Stehet auf, und fürchtet euch nicht. Da sie aber ihre Augen aufschlugen, sahen sie niemand, denn Jesum allein. Und da sie vom Berge herabgingen, gebot ihnen Jesus, und sprach: Ihr sollt dies Gesicht niemand sagen, bis des Menschen Sohn von den Todten auferstanden ist. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Was sagen denn die Schriftgelehrten, Elias müsse zuvor kommen? Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Elias soll ja zuvor kommen, und alles zurecht bringen. Doch ich sage euch: Es ist Elias schon gekommen, und sie haben ihn nicht erkannt, sondern haben an ihm gethan, was sie wollten. Also wird auch des Menschen Sohn leiden müssen von ihnen. Da verstanden die Jünger, daß er von Johanne, dem Lauser zu ihnen geredet hatte. Und da sie zu dem Volk kamen, trat zu ihm ein Mensch, und fiel ihm zu Füßen, und sprach: Herr, erbarme dich über meinen Sohn, denn er ist mondsüchtig, und hat ein schweres Leiden, er fällt oft ins Feuer, und oft ins Wasser. Und ich habe ihn zu deinen Jüngern gebracht, und sie konnten ihm nicht helfen. Jesus aber antwortete und sprach: O du ungläubige und verkehrte Art, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch dulden? Bringet ihn mir hieher. Und Jesus bedrohete ihn; und der Teufel fuhr aus von ihm, und der Knabe ward gesund zu derselbigen Stunde.

Die Erzählung unsres Textes, meine Geliebten, beginnt mit der Darstellung eines der erhabensten und wundersamsten Ereignisse aus dem Leben unsers Herrn, seiner Verklärung auf einem Berge in Galiläa und der Erscheinung des Moses und Elias in seinem Glanze. Sie leitet uns dann zu den drei Jüngern, welche Zeugen der Begebenheit waren, zeigt uns ihr Entzücken und ihr Schrecken, und läßt uns die heilige Bewegung ihres Herzens ahnen, mit der sie den Berg verlassen. Sie versetzt uns endlich mitten in das Gewühl des Volkes in der Ebene, und führt schmerzliche Erscheinungen menschlicher Sünde und Schwachheit an uns vorüber. So steigt die Erzählung gleichsam stufenweise herab von der lichten Höhe der Herrlichkeit Jesu Christi bis in das dunkle Thal menschlicher Niedrigkeit. Laßt uns diesen Gang unseres Textes umkehren in unserer heutigen Betrachtung, anstatt herab, hinaufsteigen, und in dieser Ordnung drei Stufen des christlichen Lebens kennen lernen.

Die erste ist die der Verwirrung und des unsicheren Schwankens, die zweite die der beseligenden Erkenntniß Jesu Christi und der innigen Hingebung an ihn, die dritte die der vollendeten Gemeinschaft mit dem Herrn.

I.

Als unser Herr vom Berge herniedersteigt in die Ebene, da findet er, wie besonders der Evangelist Markus in seinem Bericht von diesem Ereigniß uns sehr anschaulich schildert, Alles in großer Verwirrung und Unruhe. Ein besessener Knabe tobt, schäumt vor Wuth, knirscht mit den Zähnen, sein Vater weint und klagt und ruft die Jünger um Hülfe an, die Schriftgelehrten streiten mit den Jüngern, das Volk nimmt in stürmischer Aufregung Theil an dem Ereignisse, und sammelt sich in immer zahlreichern Schaaren um die Gruppe. Und die Jünger? O sie haben den heiligen Beruf, der ihnen geworden ist, nicht verkannt, sie haben versucht, der Macht des Bösen in dem Besessenen Einhalt zu thun im Namen ihres Meisters. Aber ihre gläubige Zuversicht ist ihnen im Getümmel des Volkes, gedrängt vom Zweifel und Widerspruch der Schriftgelehrten entschwunden, und mit ihr ist alle Kraft von ihnen gewichen; anstatt das unruhige Treiben zu beschwichtigen und zu beherrschen, werden sie selbst von ihm fortgerissen, und ihre Versuche, jenen zerrütteten Zustand zu bannen, sind vergeblich. So stehen sie ohnmächtig und zagend, beschämt von der Verwunderung der Menge über die Erfolglosigkeit ihres Bemühens, niedergeschlagen von dem bittern Hohne der Schriftgelehrten, an dem es nicht gefehlt haben wird, tief verwundet von dem herzzerreißenden Jammer des unglücklichen Vaters. Und so trifft sie gemeinschaftlich mit den Andern das strafende Wort des Herrn: O du ungläubige und verkehrte Art, wie lange soll ich bei euch sein? wie lange soll ich euch dulden? -

Das ist das abschreckende Antlitz, welches uns das Leben oftmals zeigt - nichts als unauflösliche Verwirrung, wildes durcheinander, Hin- und Herwogen ohne Zweck und Ziel, die verschiedensten Ansichten und Grundsätze, Neigungen und Bestrebungen, Begierden und Leidenschaften, die sich wechselseitig vielfach durchkreuzen und bekämpfen, dazwischen in widerwärtiger Verzerrung die hervorstechendsten Wirkungen der Sünde, von denen man sich mit Grauen und Entsetzen abwendet. Und doch, diese Wirkungen sind nichts Vereinzeltes; sie stehen im engen Zusammenhange mit der furchtbaren, wenn gleich leider wenig gefürchteten Macht, welche die Selbstsucht in minder auffallenden Gestalten, welche Habsucht und Ehrgeiz, Eitelkeit und Wollust, Haß und Neid über das ganze Treiben ausübet.

In diesem verworrenen Gewühl gewahren wir denn auch Solche, die wohl etwas Besseres kennen als dieses irdische Treiben, die wohl eine heiligere Liebe in sich nähren, als die zur Welt und ihrer Lust. Der Erlöser hat sie berufen von der Finsterniß zu seinem wunderbaren Lichte, und sie haben seinen Ruf vernommen, und eine stille Sehnsucht nach den Gütern des ewigen Lebens hat sich in ihren Herzen entzündet. Mit frommen Entschließungen treten sie hinaus in das Leben. Sie erkennen, daß es vor Allem einen ernsten Kampf gegen die weitherrschende Macht der Sünde gilt; beseelt von dem edeln Verlangen, die Sünder zu bekehren von dem Irrthum ihres Weges, vertrauend auf das große Wort: Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwindet, unternehmen sie es, oft mit leichtem Muthe, diesen Kampf zu bestehen. Aber gar bald müssen sie erfahren, daß das Böse viel tiefere Wurzeln geschlagen im menschlichen Leben, als sie meinten, und daß die Macht des Guten bei ihnen selbst bei weitem nicht so fest gegründet ist, als sie sich einbildeten. Im zerstreuenden Geräusch der Welt kommt ihnen alles so ganz anders vor, als daheim in stiller Betrachtung; sie werden irre an sich selbst und an den Ueberzeugungen, die sie für die festesten und unerschütterlichsten gehalten; eine klügelnde Weisheit dieser Welt reißt ihnen den Grund ihres Glaubens durch Zweifel und Einwürfe vollends hinweg; die trefflichen Vorsätze, die sie in bessern Stunden faßten, erscheinen ihnen jetzt ganz seltsam und unausführbar; so stehen sie verwirrt und rathlos, ohne Kraft und Muth zum fernern Kampfe. Arme, ihr meintet die Welt zu überwinden, und sieh! nun seid ihr selbst von der Welt überwunden, mit fortgerissen von dem übermächtigen Strome des gewöhnlichen Treibens, welches in Ansicht und Streben ganz vom irdischen Sinne beherrscht wird. Nagender Vorwurf und unüberwindliche Angst im Herzen, folgt ihr dem Getümmel; Niemand ahnet, wie bang euch oft ist mitten in scheinbarer Lust, wie es in euerm Innern wehe ruft, während ihr scherzet und lachet; Niemand ahnet, wie ihr in stillen, einsamen Stunden eure Schwäche und euern Leichtsinn verwünschet, während euer äußeres Leben Gleichmuth und Heiterkeit lügt. Und überwältigt euch euer Gefühl, wollt ihr euer gepreßtes Herz erleichtern in Klagen, daß ihr euern Glauben verloren und mit ihm alle Macht wider die Sünde, so empfängt euch der bittere Spott derer, die dazu geholfen haben, die dumpfe Verwunderung der rohen Menge, die euern Kampf nicht kennt, und eure Schmerzen nicht begreift. -

Doch sieh! mitten in dem Getümmel des Volkes waltet in stiller Größe der Heilige Gottes. Diese Schaaren, die ihn umgeben, sie haben die volle Bedeutung seiner Sendung Noch nicht verstanden; aber ein Gefühl tiefer Ehrfurcht sammelt sie Um ihn, Und bewältigt die stürmische Bewegung. Einen Ausruf göttlichen Unwillens und heiliger Wehmuth entlockt ihm der ungläubige und verkehrte Sinn, der ihm hier in mehrfacher Gestalt entgegentritt. Dann aber wendet er sich hülfreich dahin, wo Hülfe noth thut, Und seinem Worte müssen die Mächte der Finsternis weichen.

O laßt uns nicht zweifeln, meine Freunde, auch auf dieser Stufe des menschlichen Lebens, mitten in seiner scheinbar unauflöslichen Verwirrung ist Er wirksam, und es ist in der That nur die Blödigkeit und Beschränktheit unseres Sinnes, wenn wir dieß oft nicht zu erkennen vermögen, wenn wir nur da seine Wirkungen sehen, wo sie sich schon zusammengefügt haben zu einer mächtigen Gestalt. Wie ganz anders würde das gemeinsame Leben der Menschen, seine Ordnungen und Gesetze, seine Sitten und Gewohnheiten, in den engsten und weitesten Gebieten, in Familie und bürgerlicher Gemeinschaft beschaffen sein, wenn Er nicht heiligend und belebend darin wirkte! Wo giebt es in unserer Zeit noch einen schützenden Damm gegen die hereinbrechenden Fluthen der entsetzlichsten Entartung, in denen die bloß irdische Behandlung dieser Verhältnisse rettungslos untergeht? So tritt denn auch hier die heilige Macht des Erlösers den zerstörenden Gewalten der Sünde siegreich entgegen, und vernichtet immer aufs Neue ihr verderbliches Werk, und läßt es nicht zu, daß sie das menschliche Geschlecht hinabziehen in den wüsten Abgrund, wo man nur dem Götzen der Selbstsucht und der Fleischeslust dient. - Aber ist es wohl die ganze Fülle seines Geistes, seiner Liebe und Gnade, die hier sich offenbaren kann? Weiß denn die wogende Menge, wem sie nachdrängt? Unzählige werden ganz unbewußt fortgezogen; sie trinken aus dem Bache und fragen nicht nach der Quelle; sie wissen selbst nicht, wem sie das Beste in ihrem Leben verdanken, und wenn ihrs ihnen sagt, werden sie euch nicht glauben. Andere haben wohl einige Kenntniß von ihm und seinem Werke; aber wie dürftig und unvollständig ist diese Kenntniß! wie wenig trifft sie das innerste Wesen seiner Erscheinung in der Welt! Und selbst die Besten auf dieser Stufe, wenn sie uns hineinblicken lassen in das stille Geheimniß ihres Herzens, so entdeckt sich uns, daß heimliche Furcht vor Christo darin wohnt; sie kennen ihn nur fast als Gesetzgeber, er redet zu ihnen in seinem Worte, aber seine Rede lautet ihnen meist drohend und strafend, wie die, mit welcher er dort den Unglauben und die Verkehrtheit der Jünger und des Volkes schilt.

Von seiner Liebe und Gnade und von dem heiligen Frieden in der Kindschaft Gottes, den er dem Herzen der Seinen mittheilt, haben sie wohl andere reden hören, vielleicht auch Manches nachgesprochen, aber gar wenig selbst erfahren.

Ihr seht, meine Geliebten, auf dieser Stufe des menschlichen Lebens finden wir zwar mancherlei Sehnen und Ahnen des vom Evangelium berührten Geistes - aber eine wahre Beruhigung, den festen Mittelpunkt, von welchem aus die Verwirrung sich ordnet, würden wir hier vergeblich suchen. Alles deutet hier auf ein höheres Gebiet, wo die Räthsel sich lösen sollen, die jene Stufe des Lebens enthält. Wohlan denn, laßt uns den Blick abwenden von dem Volk und den schwächern Jüngern des Herrn, und seine vertrautesten Freunde aufsuchen, ob wir aus dem, was ihnen begegnet, die zweite Stufe des christlichen Lebens zu erkennen vermögen. -

II.

Drei Jünger, die gefördertsten, für himmlische Mittheilung empfänglichsten, Petrus, Jacobus, Johannes sind oben auf dem Berge bei dem Herrn, abgesondert von dem Geräusch der Welt, von dem unruhigen Treiben des Volkes in der Ebene. In dieser stillen Einsamkeit schauen sie plötzlich ihren Meister, umgeben von himmlischer Klarheit, sein Antlitz wundersam leuchtend, neben ihm Moses und Elias, und ein unaussprechlich seliger Friede verbreitet sich über der Schauenden Gemüth. „Herr, hier ist gut sein,“ ruft Petrus mit dem Ausdruck des höchsten Entzückens und der kindlichsten Einfalt. „Willst du, so wollen wir hier drei Hütten bauen, dir eine, Moses eine und Elias eine.“ Hier möchten sie ewig weilen, Hütten bauen den himmlischen Gestalten, und in ihr Anschauen versenkt, vergessen allen Streit und alle Noth des irdischen Lebens. Was könnten sie auch sonst begehren? Was für ein Verlangen vermöchte sie hinwegzuziehen von diesem heiligen Orte? Wo Jesus Christus seine göttliche Herrlichkeit den Seinen zu erkennen gibt, da genießen diese der tiefsten und seligsten Befriedigung, wie sie die köstlichsten Güter der Welt nimmer zu gewähren vermögen. Meinen Frieden gebe ich euch, spricht der Herr, nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. -

Es sind die heiligsten Erfahrungen des christlichen Lebens, es sind dessen leuchtendsten Höhepunkte, an die uns dieses Ereigniß erinnert. War es in stiller Einsamkeit, wenn unser Geist versenkt war in sinnende Betrachtung der wunderbaren Wege, auf denen uns Gott zu seinem ewigen Heile geführt, oder wenn wir in inbrünstigem Gebet Trost und Rettung suchten gegen die Unruhe unsers Herzens und gegen die Drangsale des äußern Lebens; war es im Kreise innig vertrauter Freunde, wenn im Gespräch über das Heiligste, in dem wechselseitigen Austausch unsrer geistlichen Erkenntnisse und Erfahrungen uns das Herz aufging, und die glühenden Funken des Glaubens und der Liebe vereinigt plötzlich zur hellen Flamme empor schlugen; war es im gemeinsamen Gottesdienste, wenn die Verkündigung des Evangeliums in Lied, Gebet und Predigt mächtig auf uns eindrang, oder wenn die höchste Feier des Gottesdienstes, das Abendmahl des Herrn, die Fülle göttlicher Gnade über uns ausschüttete - wie es ein Jeder erfahren hat, wir wissen es nicht; aber das wissen wir, wer einmal eine solche heilige Stunde erlebt hat, der kann sie nimmer wieder vergessen. War es nicht, als öffnete sich der Himmel dem entzückten Blick, als wollte eine höhere, selige Welt uns aufnehmen in ihren ewigen Frieden? Wir meinten, Besseres könne uns in Ewigkeit nicht widerfahren, als wenn diese Stimmung immerdar währte. Alle Noth und alle Sorge des irdischen Lebens war verschlungen von dem Einen Gefühl der kindlichsten Hingebung. Alle Sünde erschien uns unaussprechlich widrig, verächtlich, ohnmächtig; wir begriffen nicht, wie sie uns jemals hatte verlocken und fesseln können, und es dünkte uns unmöglich, daß sie in Zukunft je wieder eine Gewalt in uns gewinnen sollte. Tief unter uns lag die Welt; wir waren uns bewußt, Bürger eines himmlischen Reiches zu sein. In das Auge unsers Geistes strahlte die Klarheit Gottes in dem Angesichte Jesu Christi, welcher ist das Ebenbild Gottes; wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. Was uns sonst oft dunkel erschien in dem Zusammenhange seines Werkes, das leuchtete uns jetzt hell und klar entgegen; was unsre Betrachtung zu vereinzeln und zu zersplittern gewohnt war, das fügte sich uns zum schönsten Ganzen zusammen, als dessen Seele wir die erlösende Liebe des Sohnes Gottes zu uns armen, sündigen Menschen erkannten. Ja wohl arm, wenn wir nur auf uns selbst sehen; aber unermeßlich reich an ewigen Gütern, wenn wir uns als das Eigenthum unsers Herrn und Heilandes erkennen, wenn wir uns in der Gemeinschaft dessen wissen, der aller Himmel Herr ist; o wie hätten wir in solcher seligen Erkenntniß die Welt mit ihrer Lust und ihrem Leid nicht vergessen sollen? -

Als Petrus mit entzücktem Sinne vom Hüttenbauen redet, da überschattet die Jünger eine lichte Wolke, die ihnen die himmlischen Gestalten eben so plötzlich wieder entrückt, als sie erschienen waren. Und eine Stimme aus der Wolke spricht: „Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören.“ Und als die Jünger, erschrocken und betäubt niederfallen auf ihr Antlitz, da tritt Jesus zu ihnen, rührt sie an und spricht: „Stehet auf und fürchtet euch nicht.“ Sie heben ihre Augen auf; der überirdische Glanz ist verschwunden; aber Er, den sie verklärt gesehen, ist ihnen noch gegenwärtig, ihre Seele ist voll von dem Eindrucke der entzückenden Erscheinung, und tief in ihrem Innersten tönen die Worte der himmlischen Stimme mächtig nach. So führt der Meister sie wieder hinab von der Höhe in die Ebene und in die gewohnten Kreise ihres Lebens und ihrer Thätigkeit.

Und erfahren nicht im Wesentlichen dasselbe die Jünger des Herrn noch heute? Diese seligen Augenblicke, wo er sich unserm Geiste offenbart in ungewohntem Glanze, wo ein unaussprechlich süßer Friede sich ausgießt über unser Gemüth, sie entschwinden uns wieder, wenn wir sie erst recht genießen wollen, eben darum, weil sie das zarteste sind im Leben des Christen, Blüthen aus einer himmlischen Welt, die im irdischen Boden nicht wurzeln können; wir vermögen es nicht, sie als einen sichern Besitz festzuhalten, oder wieder hervorzurufen, sobald es uns gefällt, und es ist eine der größten Gefahren für die innere Wahrheit des christlichen Lebens, wenn wir das mit Gewalt erzwingen wollen, was uns versagt ist. Und daß ich noch mehr sage: nicht diese köstlichen Erfahrungen, auch nicht die hohen Erkenntnisse sind es eigentlich, die dem Jünger des Herrn die Aechtheit seines Glaubens an Christum und die Lauterkeit seiner Liebe zu ihm bewähren, sondern dieses, daß er, wenn jenes selige Licht verdeckt ist von der Wolke des irdischen Lebens, wenn er herabgestiegen ist von jenen Höhen in die gewöhnlichen Verhältnisse und Berufsthätigkeiten, treuen Gehorsam beweise gegen die himmlische Stimme: Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören. Ja eben darum ist es uns vergönnt die Klarheit des Herrn wie in einem Spiegel zu schauen, damit wir selbst durch die fortschreitende Heiligung verklärt werden in dasselbige Bild von einer Klarheit zur andern als vom Geiste des Herrn. Das Hüttenbauen auf jenen Höhen ist uns jetzt noch nicht verstattet; aber das Evangelium des verherrlichten Menschensohnes, welches sein Geist unserm Geiste verklärt. und an unserm Herzen kräftig macht, daß es unser ganzes Leben je mehr und mehr durchdringe und erneure, das ist es, was seinen wahren Jüngern gegeben ist zum bleibenden Besitz. Er redet zu ihnen in seinem Wort, und sie hören ihn, und folgen seiner Stimme. Das ist ihr vornehmstes Bemühen, zum Wohlgefallen dessen zu wandeln, an dem der Vater ein vollkommenes Wohlgefallen hat. Innige Hingebung an ihn, das ist die Seele ihres Lebens.

Oder sollen sie sorgen, ob er auch gegenwärtig sei, um das Opfer ihres Lebens, das sie ihm darbringen, in Empfang zu nehmen? O sie wissen es, und das ist ihr schönster Ruhm, daß er bei ihnen ist alle Tage bis an der Welt Ende, auch wenn sie seine Gegenwart nicht so lebhaft fühlen; sie wissen es, und das ist ihr höchster Trost, daß der erhöhte Menschensohn ihr Bedürfniß und ihre Sehnsucht kennt, und Mitleiden hat mit ihrer Schwachheit, und mit seinem Geiste hülfreich nahe ist dem redlich Suchenden. Darum wenn Noch und Trübsal sich wider sie erhebt, wenn das Gedränge und die Verwirrung des Lebens sich mehrt, und Furcht und Zagen sie ergreifen will, dann vernehmen sie den tröstenden Zuruf ihres unsichtbaren Freundes: Fürchtet euch nicht! Und wenn sie des Kampfes mit der Sünde und des Ringens nach Heiligung müde geworden sind, und verderblicher Rube sich hingeben wollen, dann rührt er sie an mit Geisteskraft und spricht ermunternd: Stehet auf!

III.

Heil uns, Geliebte, wenn auch wir durch Gottes Gnade auf dieser Stufe stehen, wo Jesus Christus erkannt wird als Erlöser, und wo man sich ihm von ganzem Herzen ergibt. Und doch, die Vollendung des christlichen Lebens haben wir auch dann noch nicht erreicht; diese Vollendung liegt überhaupt nicht innerhalb der Grenzen des irdischen Daseins; das Leben derer, die aus dem Geist geboren sind, es ist gleich einer verschlossenen Knospe, und die geheimnißvolle Macht, welche die Knospe öffnet und zur himmlischen Blüthe entfaltet - es ist der Tod.

Jenes wundersame Ereigniß auf dem Berge in Galiläa, was war denn wohl seine innerste Bedeutung für die zuschauenden Jünger? O wir können es ahnen, und die darauf sich beziehenden Hinweisungen des Herrn auf seine Auferstehung bestätigen es uns: einen Blick sollten die Jünger thun in die zukünftige Herrlichkeit ihres Meisters, so weit irdische Sinne für deren Wahrnehmung empfänglich sind. Was er den Seinen einst von den Gerechten in seines Vaters Reich gesagt, das bildete ihnen der König dieses Reiches nun durch seine eigene Verklärung vor; sein Antlitz leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie ein Licht; die menschliche Gestalt durchbrach für einen Augenblick die schwere. Hülle des irdischen Stoffes, und offenbarte weissagend die verborgene himmlische Herrlichkeit, zu deren dereinstiger Entfaltung sie bestimmt ist, und ein unnennbarer Friede, ein überschwengliches Entzücken bemächtigte sich der schauenden Jünger. Und so schauen die Seinen noch heute mit ehrfurchtsvollem Sinnen und inniger Sehnsucht nach dem Berge der Verklärung, und ein heiliges Vorgefühl ihrer eigenen zukünftigen Vollendung erfüllt ihre Seele mit dem seligsten Frieden.

Oder meint etwa Jemand, daß sei ja eben nur Christi eigenthümliche Herrlichkeit, in welche jenes Ereigniß den Jüngern einen ahnenden Blick vergönnt habe; aber woher das Recht, davon so unmittelbar auf die selige Vollendung des Christen die Anwendung zu machen? O wie wenig kennen diese Fragen, diese Zweifel die göttliche Fülle der Liebe Jesu Christi - der Liebe, mit der er es nicht für einen Raub achtete, Gott gleich sein, sondern sich selbst äußerte und Knechtsgestalt annahm, gleichwie ein anderer Mensch ward und an Geberden als ein Mensch erfunden - der Liebe, die ihn trieb, nichts für sich zu behalten von seiner göttlichen Gestalt, sondern ganz und unzertrennlich mit uns Eins zu werden - der Liebe, die den Himmel zerrissen, und ihn zu uns hernieder gezogen hat in die tiefsten Abgründe unsres Elendes, damit er uns mit sich empor ziehe zum Throne seiner göttlichen Majestät.

Nein, meine Freunde, so kann der Glaube an ihn und die Liebe zu ihm nicht fragen, denn diese wissen, daß Alles, was Christus hat, die Seinen mit ihm besitzen sollen. Will er denn einsam sein in seiner Herrlichkeit? War er's denn dort auf dem Berge der Verklärung? In seinem Glanze, als Mitgenossen seiner Klarheit erscheinen den Jüngern Moses und Elias, die reden mit ihm. Moses, der Gesetzgeber des Volkes Israel, einst der Geplagteste unter den Menschen, berufen das Volk mit hartem Herzen und ehernem Nacken in das Land der Verheißung zu leiten, endlich müde und matt zu den Vätern versammelt, nun die erquickendste Ruhe genießend in der Theilnahme an der Herrlichkeit des Sohnes Gottes. Elias, der Gewaltigste unter den Propheten, gesandt zum Volke Israel in einer Zeit der Drangsal und Zerrüttung, als Ahab und Jesabel das Volk zum greulichen Dienste des Baal verführten - sein ganzes Leben war ein steter Kampf gegen die Sünde und Abgötterei seines Volkes, bis ihn Gott zu sich nahm in den Himmel, wo nun der seligste Friede in der Gemeinschaft des Heilandes sein Erbtheil ist. Nein, ihr zweifelt nicht, Jünger des Herrn, er will seine Seligkeit nicht allein genießen, sein liebendes Herz verlangt darnach, sie mit euch zu theilen; ich lebe, ruft er euch zu, und ihr sollt auch leben, und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein! Vater, ich will, spricht er betend in der Nacht vor seinem Tode, daß wo ich bin, auch die bei mir sein, die du mir gegeben hast, und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast! - nein, ihr dürft nicht zweifeln, seine Verklärung ist auch euch das Vorbild eurer eignen zukünftigen Vollendung und Verherrlichung. In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, Er hat die Welt überwunden. Jetzt kämpfet ihr, und habt viel Mühe und Arbeit; aber auch für euch soll eine Zeit kommen - und wer weiß, wie nahe sie euch ist? - wo die dunkeln Schatten des irdischen Lebens auf ewig der himmlischen Klarheit weichen, wo aller Kampf verschlungen ist in den Sieg und alle Mühe und Arbeit in die süßeste Ruhe, wo nichts mehr eure Seligkeit in der Gemeinschaft des Erlösers stören soll.

Und wenn sie nun kommt, die große Zeit der Vollendung, wie dann, meine Freunde? Werden wir dann über dem himmlischen Christus den irdischen vergessen? Wenn in dem seligen Anschaun seiner Herrlichkeit alle Noth und Angst dieses engen Lebens unserm Bewußtsein entschwindet wie ein schwerer Traum dem Erwachenden, soll da auch das Andenken an seine Niedrigkeit hier auf Erden untergehen? Wie wäre das möglich? Was war es doch, wovon jene beiden Verklärten mit dem Heilande sich unterredeten? Der Evangelist Lucas sagt es uns in seinem Bericht von diesem Ereignisse; er erzählt uns, daß sie mit ihm geredet von dem Ausgange, den er sollte erfüllen zu Jerusalem. Sehet da! sein Versöhnungstod, den er erdulden sollte zu unser Aller ewigem Heil, das war der Gegenstand dieses wunderbaren Gespräches, zwischen dem Sohne Gottes und den Vertretern des Gesetzes und des Prophetenthums. O meine Geliebten, wann auch wir einst gewürdigt werden, zu stehen vor des Menschen Sohn - es wäre denkbar, daß wir alles vergäßen, was je auf Erden geschehen ist, über dem unbeschreiblichen Glanze seiner herrlichen Offenbarung; aber Eins, nur Eins können wir nimmer vergessen, seinen Tod am Kreuze für uns Sünder. Das ist das Geheimniß, das auch die Engel zu schauen gelüstet; wie sollten die dadurch erlöseten und selig gewordenen Menschen jemals aufhören, an seiner Betrachtung sich zu weiden? Wie sollten sie nicht mit heiliger Wonne zurückschauen auf die dunkle Erde, welche der eingeborne Sohn des lebendigen Gottes gewürdigt, sie zum Schauplatz der allerhöchsten Liebesthat zu erwählen, da er sein Kreuz aufrichtete auf Golgatha? Ja gehört nicht grade dieß zum Wesen ihrer Seligkeit, daß sie immer weiter eindringen in die unergründlichen Tiefen seiner Liebe, wie sie sich in seinem ganzen Erlösungswerk und vor Allem in seinem Tode geoffenbaret hat? -

Und in dem Glanze, der von hier ausgeht, werden wir dann auch alles Andere erkennen. Wie dort Moses und Elias in der Klarheit des Herrn erscheinen, und mit ihm reden von seinem Tode, so werden auch wir dereinst im Lichte der Erlösung Jesu Christi Gesetz und Prophetenthum schauen, die Geschichte Israels und die Geschichte der Heiden, die Führungen der Kirche des Herrn und die Schicksale der Welt - o in diesem Lichte werden wir auch unser eignes Leben vollkommen verstehen, und seine Verwirrung wird sich ordnen, und Alles, was uns jetzt darin dunkel ist, wird sich in Klarheit verwandeln, und aus jedem seiner vielfach verschlungenen Gänge wird uns die heilige Weisheit und Liebe unsres Vaters entgegenleuchten, und wir werden anbetend niedersinken vor seinem Throne und einstimmen in den Lobgesang der himmlischen Heerschaaren: Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott, gerecht und wunderbar sind deine Wege, du König der Heiligen. -

Meine Geliebten, wir haben mit jenen drei Jüngern gestanden auf dem Berge der Verklärung, und einen Blick gewagt in die Herrlichkeit des Herrn, die auch die unsere werden soll, wenn wir die Seinen geworden sind. Und wie er die Jünger dann hinabführt von dem Berge in die Ebne, mitten in das Gewühl des Lebens, so steigen auch wir jetzt herab von der Höhe dieser Betrachtung, und kehren zurück zu den gewohnten Verhältnissen und Beschäftigungen unsres Lebens. Aber nur so laßt uns zurückkehren, wie jene hochbegnadigten Jünger, so, daß Er uns führt. Haben wir die Herrlichkeit des Sohnes Gottes erkannt, ist eine tiefe Sehnsucht in uns erwacht, Frieden zu haben und festzustehen in der Verwirrung des Lebens, Theil zu nehmen an dieser Herrlichkeit, jetzt im Glauben, einst im Schauen, o so laßt uns seine Hand ergreifen, um sie nimmer, nimmer wieder loszulassen; laßt uns überall nach seinem Willen fragen und auf sein heiliges Vorbild schauen; laßt uns ihm überall unverrückte Treue beweisen, damit, wenn der, den wir nicht gesehen und doch lieb haben, nun geoffenbaret wird, wir uns freuen können mit unaussprechlicher und herrlicher Freude, und das Ende unsers Glaubens davon bringen, nämlich der Seelen Seligkeit. Amen.

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