Müller, Heinrich - Vom Wachsthum der Christen.

Müller, Heinrich - Vom Wachsthum der Christen.

Still stehen ist zurückgehen.

Die Natur erkennt zwischen ab- und zunehmen ein Mittel. Ein Knabe von 12 Jahren nimmt zu an Kräften, ein Mann von 75 Jahren nimmt ab, der 40 oder 50 Jahre auf dem Rücken trägt, nimmt weder ab noch zu. Im Christenthum geht dies nicht an. Nimmt das Laster nicht ab, so nimmts zu; wo du nicht täglich an deinem Fleisch kreuzigst und tödtest, so gewinnts dir einen Vortheil nach dem andern ab, wird immer muthiger und mächtiger in seinen Lüsten. Wenn du nur erstlich in die Sünde willigst, nimmt sie bald das Herz durch ihre Lieblichkeit dermaßen ein, daß die Begierde zu sündigen immer höher steigt wie ein Wasserstrom, und immer weiter um sich frißt wie ein Krebs. Es ist mit der Sünde wie mit der Speise, da zieht ein Bissen den andern nach sich, und wächst oft im Essen die Lust zu essen. Wer sich nicht vorm ersten Anbiß hütet, dem wird das Sündigen immer süßer, denn das Böse macht lüstern. Da heißt es recht: je älter, je geiziger. Hingegen wo die Tugend nicht zunimmt, da nimmt sie ab. Der Saame des Guten ist in uns wie ein zartes Fünklein, das leicht verlöscht, so man nicht Holz oder Kohlen zulegt und es aufbläset; wie ein Tocht in der Lampe, der geschwind ausgeht, so man nicht Oel zuschüttet und das Flämmlein nährt; wie ein junges Pflänzlein, das plötzlich verdirbt, wo mans nicht zum Wachsthum immer feuchtet und wässert; wie ein baufälliges Häuslein, das auf einmal umfällt, wo man nicht stets dran stickt und bessert; wie ein jetzt gebornes Kindlein, das verschmachtet, wo es nicht täglich neue Kraft aus der Mutter Brüsten nimmt. Drum müssen wir zusehen, daß wir immer völliger werden. Wir müssen als geistliche Bäume immer höher wachsen und an Früchten reicher werden; als neue Menschen an Kräften immer zunehmen und aus einem Alter ins andere treten; als geistliche Wandersleute immer fortgehen und dem Ziel näher kommen. Es ist damit nicht gethan, daß du dir selbst heuchelst und sprichst: Wer ist unter den Menschen vollkommen? Ach das bedaure, mein Christ, daß du nicht vollkommen sein kannst, wie du sein solltest, und strebe dennoch nach der Vollkommenheit. Ob du nicht vollkommen sein kannst, sollst du doch gern vollkommen sein wollen, und darnach aus allen Kräften ringen. Viel, viel ist am Wachsthum eines Christen gelegen. Bleibt dein Glaube und Gottseligkeit nur immer ein Fünklein, hast du zu befürchten, daß einmal alles im Augenblick von sich selbst verlöschen werde. Ich will mich immerdar erinnern der Worte Bernhard!: Der ist keineswegs fromm, der nicht begehrt noch frömmer zu werden, und wo du anfängst und willst nicht frömmer werden, so hörst du gar auf fromm zu sein.

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