Monod, Adolphe - Abschiedsworte - Jesus Christus.

Monod, Adolphe - Abschiedsworte - Jesus Christus.

(Den 17. Februar 1856.)

Wenn man betrachtet, was wir so eben getan haben, indem wir uns in's Gedächtnis zurückriefen, was Gott uns in seinem geliebten Sohn gegeben hat, so möchte man entweder ganz in Stillschweigen versunken bleiben, oder diesem feierlichen Gottesdienst nur Worte des Dankes und der Anbetung hinzufügen. Aber weil der Herr uns auch auffordert, sein Wort zu verherrlichen und Zeugnis von seiner Wahrheit abzulegen, und weil sich in gewissen Lagen die Gelegenheit dazu so selten darbietet, werde ich mit dem Beistand Gottes fortfahren, Euch die Wahrheit darzulegen, wie sie in meinem Herzen ist, bis der Tag kommt, wo der Herr mir den Mund schließen und mir sagen wird: Es ist genug, du hast genug geredet, ruhe jetzt von deiner Arbeit im Schoß deines Heilandes. Ich liebe es, wie Ihr wisst, zu Euch hier unter dem Titel: „Schmerzliche Rückblicke eines sterbenden Christen“ vom Gesichtspunkt eines Christen aus zu sprechen, der sein Ende nah glaubt, und davon zu reden, welchen Gebrauch er von seinem Leben gemacht hat, welchen er davon machen wollte, wenn es ihm noch länger geschenkt würde, und welchen Gebrauch desselben er bei seinen noch lebenden Brüdern gern sehen möchte. Aber ich fühle mich auch dazu berufen, in dieser meiner besonderen Lage und besonders in den trüben und bewegten Tagen, in denen wir leben, Zeugnis abzulegen von den Ergebnissen, zu denen mich das christliche Leben und die Erfahrung meines Hirtenamtes in meiner Schwachheit hingeführt haben, damit man bestimmt wisse, in welchen Gefühlen ich ausruhen und entschlafen werde, wenn Gott mich abruft; und damit in den Herzen meiner Freunde, meiner Brüder, der ganzen Kirche keine Spur von Zweifel über das sein könne, was in diesem Augenblick und wie ich zu Gottes Gnade hoffe, je mehr und mehr die Zuversicht meiner Seele ausmacht.

Bei einer vor allem anderen wichtigen Hauptsache halte ich mich jetzt nicht auf, weil wir uns erst kürzlich ziemlich lange darüber unterhalten haben; ich weiß wohl, dass die kleine Zahl meiner Zuhörer sich immer erneuert, aber ich kann nicht anders als eine gewisse Ordnung in den Gedanken einhalten, welche ich Euch mitteile. Dieser erste Gesichtspunkt war die Sünde. Die Hauptsache ist, dass wir eine klare und gründliche Anschauung unseres sündigen Zustandes vor Gott haben, nicht nur weil wir überwiesen sind, gegen sein heiliges Gesetz gesündigt zu haben, sondern weil wir angefangen haben, die ungeheure Größe der Sünde, den Schrecken der Gerichte Gottes und die Tiefe des Abgrundes zu ermessen, aus dem wir gezogen werden mussten. Sind wir einmal von der Bitterkeit der Sünde durchdrungen, ohne dieselbe entschuldigen oder erklären zu wollen, sagen wir rückhaltlos: „An dir, an dir allein habe ich gesündigt;“1) so lässt sich das ganze Evangelium für uns, meine lieben Freunde, und in diesem Augenblick besonders für mich in ein einziges Wort oder vielmehr in einen einzigen Namen zusammenfassen, in den Namen Jesu Christi, wie der heilige Paulus sagt: „Ich hielt mich nicht dafür, dass ich etwas wüsste unter euch, ohne allein Jesum Christum den Gekreuzigten.“2).

Wer ist Jesus Christus? Wie ist er? Welchen Begriff habt Ihr von ihm? Was würdet Ihr auf seine Frage antworten: Wer sagt man das ich sei?“ Das ist der Grund und der Anfang unseres Glaubens. O mein Gott, stärke mein Herz und meinen Mund, damit ich dich in meiner Trübsal verherrliche!

Wenn wir Jesum Christum betrachten, so sehen wir ihn zuerst als Menschen, aber bald werden wir gewahr, dass er nicht ein gewöhnlicher Mensch ist. Wir finden in ihm eine unendliche Barmherzigkeit, eine Güte, die immer bereit ist, uns zu helfen, und eine Macht, die immer stark ist, uns zu befreien; einen Herrn und Befreier, der Krankheiten des Leibes heilt, um zu zeigen, dass er die der Seele heilen kann, und zwar bis in's verborgenste und tiefste Elend hinein; eine Heiligkeit ohne Makel, ja die auf Erden verpflanzte Heiligkeit Gottes selbst, kurz wir finden in einem menschlichen Leib und Geist eine göttliche Kraft der Wahrheit, Stärke, Güte und Erlösung, welche kein Mensch je besessen noch geahnt hat, und die uns zu ihm hinzieht wie zu Einem, von dem wir ganz unmittelbar wissen, dass er, und er allein, uns alle Erlösung, der wir bedürfen, gewähren kann. Aber bald, wenn wir die Heilige Schrift hören und ihn selbst hören, fängt dieses Geheimnis an sich zu lichten, aber durch ein anderes, noch viel tieferes Geheimnis. Wir hören, dass unser Herr Jesus Christus - denn das ist der Mensch, den wir betrachtet haben - auf eine übernatürliche Weise geboren, nicht nur Menschensohn, sondern zugleich Gottes Sohn ist: Menschensohn, das heißt Mensch; Gottes Sohn, das heißt Gott. Wenn er göttliche Tugend, göttliche Macht, göttliche Heiligkeit und göttliche Güte besitzt, so hat er dies, weil er Gott ist. „Er ist der Glanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens, und die ganze Fülle der Gottheit wohnt in ihm leibhaftig.“3) Das ist das Geheimnis der Gottseligkeit: Gott geoffenbart im Fleisch, alle Gott konnte er zu seinen Jüngern sagen, wie wir so eben gehört haben: „Wer mich sieht, der sieht den Vater.“4) Dies, meine Freunde, ist nach meiner immer festeren Überzeugung und nach der Überzeugung des ganzen gläubigen Volks, der Propheten, so viel ihnen vergönnt war zu schauen, der Erzväter, Apostel, Zeugen, Märtyrer, Kirchenväter (der treuen Väter der Kirche), der Knechte und Mägde des Herrn zu allen Zeiten, dies ist, sage ich, eigentlich der Schlüssel des evangelischen Gebäudes und der Grund des ganzen Evangeliums; von diesem Punkt aus laufen alle die unzähligen Wege zu den einzelnen Taten des Glaubens und des Gehorsams, zu denen wir berufen werden können, so dass das ganze christliche Leben dergestalt auf diesem Grund, Jesu Christo, dem im Fleisch geoffenbarten Gott ruht, dass außer dem nicht nur Christus, sondern Gott selbst vom Thron gestoßen wird. Der lebendige Gott lebt dann nicht mehr; man gibt uns einen deistischen, pantheistischen, rationalistischen Gott, einen Gott, der nur ein toter Gott ist, der nie Jemand erlöst, geheiligt noch getröstet hat, denn der wahre Gott ist der, der sich uns offenbart, und nicht nur dies, sondern der sich uns auch in Jesu Christo zu eigen gibt; denn wie Jemand gut gesagt hat, in der Schöpfung zeigt uns Gott seine Hand, in der Erlösung aber gibt er uns sein Herz.

Jesus Christus Gott und doch Mensch, wahrhaftiger und wirklicher Mensch, wahrhaftiger und wirklicher Gott, dies scheint Manchen eine Lehre von mehr spekulativer als praktischer Bedeutung zu sein (mein Gott, stärke meine schwache Stimme und meine matte Seele!); aber dem ist nicht so, und weit entfernt, bloß spekulative Bedeutung zu haben, enthält sie vielmehr gerade den Grund der christlichen Tätigkeit und des christlichen Lebens. Paulus, der sie immer ein Geheimnis nennt, nennt sie auch das gottselige Geheimnis: „Kündlich groß ist das gottselige Geheimnis.“5) Es gibt kein christliches Leben, keine christliche Heiligkeit, keinen christlichen Trost, keine christliche Stärke, keinen christlichen Tod ohne dies: es ist die Grundlage alles Übrigen, und die Gnade des Herrn Jesu, die in unseren Herzen ausgegossen ist, ist sowohl unsere einzige Stärke, als unsere einzige Hoffnung.

Darum soll man es wissen, und ich bekenne es frei, dass ich in Jesu Christo meinen Gott sehe, vor dem ich mich mit Thomas niederwerfe und spreche: „Mein Herr und mein Gott,“ und von dem ich mit Johannes das Zeugnis ablege: „Er ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben;“6) oder mit Paulus: „Er ist Gott über Alles gelobt in Ewigkeit.“7) Ich ehre ihn, wie ich den Vater ehre, und ich weiß, der Vater, der um seine Ehre eifert, ist weit entfernt, auf die Ehre eifersüchtig zu sein, welche ich Jesu Christo gebe, und er hat Wohlgefallen daran, als an einer Ehre, die ihm selbst gegeben wird, denn er will, dass „Alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren.“8) Mein eifriges Streben ist, in der Gemeinschaft Jesu Christi, in dem Frieden Jesu Christi zu leben, indem ich zu ihm bete, mich auf ihn verlasse, zu ihm rede, ihn höre, und mit einem Wort Tag und Nacht von ihm Zeugnis ablege, was ein Götzendienst sein würde, wenn er nicht Gott wäre, wenn er es nicht wäre in dem erhabensten einzigsten Sinn, welchen der menschliche Geist diesem erhabenen Namen nur zu geben vermag. Jesus Christus ist der, der ist: „Ich bin, ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; ich werde sein, der ich sein werde; Jehovah; der allmächtige Gott;“9) seht das ist Jesus Christus: das ist er für mich. Und wenn ich in den letzten Augenblicken meines Lebens durch die Krankheit verhindert werden sollte, dieses Zeugnis von ihm abzulegen, so soll man wissen, dass ich es jetzt hier ablege; und indem ich es tue, denke ich nicht daran, es ihm je zu entziehen! Denn ich habe das bisschen Glauben, das bisschen Trost, das bisschen Heiligkeit, das bisschen Liebe, das ich besitze, und um dessen Vermehrung ich Gott bitte, erst kennen gelernt, seit ich in meiner Bekehrung Jesum Christum als meinen Erlöser und meinen Gott anzubeten gelernt habe.

Dies nun als sicher angenommen, so finde ich zugleich in Christo meinen Bruder, meinen Nächsten, meinen Freund, der mit mir, mir nahe und nach dem schönen Wort des 84. Psalms „meine Sonne und mein Schild“ ist. Meine Sonne, das heißt mein Beschützer von fern, mein Schild, das heißt mein naher Beschützer. Zwischen tiefer Sonne der Gottheit und mir liegt so viel, ein so ungeheurer Weg (dessen materielle Erstreckung ich den Menschen zu berechnen überlasse, obgleich man seine geistige Länge nie berechnen kann), dass ich den Herrn in meiner Nähe haben muss als einen Schild, der mich von allen Seiten umgibt, dessen Herz mein Herz an sich drückt, dessen Arme mich beständig umfasst halten, dem ich sagen, und wenn ich will, in's Ohr sagen kann, ohne dass es Jemand hört: Ich bin dein und du bist mein; ich weiß, dass du mein Gott und mein Bruder bist; und du weißt wer ich; bin, dein Kind und dein Knecht, der ungeachtet aller seiner Schwächen an dich glaubt und nur darüber seufzt, so wenig zu glauben, und der sich danach sehnt dich zu verherrlichen bis in die bittersten Prüfungen hinein! Jesus Christus ist also mein Bruder. Ach, welche Gnade, Gott zum Bruder und einen Bruder zum Gott zu haben! Ich werde selbst nie auch nur versuchen können, die tiefe, zarte und geheimnisvolle Verbindung zu beschreiben, welche in dieser Vereinigung Gottes mit dem Menschen liegt: Ihr wisst nun, was Jesus Christus für mich ist.

Ich kann in diesem Augenblick nichts weiter darüber sagen; aber Ihr seht, welche Gedanken ich über den Herrn habe, Gedanken, die ich eben so gern vor seinem Richterstuhl bekennen würde, wenn er mich vor denselben beriefe, weil ich weiß, dass er mich nicht verleugnen wird, und dass diesen Gefühlen nur das mangelt, was meiner Anbetung und meiner Dankbarkeit gegen ihn mangelt, und dass ich unendlich weit hinter der Liebe und der Anbetung, welche ich ihm schuldig bin, zurück bleibe. Seht, meine Freunde, das ist Jesus Christus für mich geworden; dazu hat ihn Gott in seiner Gnade für mich gemacht, der Reihe nach durch verschiedene Mittel: durch Erziehung, Beispiel, praktische Tätigkeit, Bücher und Predigten; dieser verschiedenen Mittel hat er sich bedient, um mich auf mannigfaltige Weise von Klarheit zu Klarheit zu führen, und mich so für immer in seiner Gnade zu gründen. Ich weiß, dass er mich damals vorbereitete und mir Kraft geben wollte, dem zu widerstehen, was er mir heute zuschickt; und ich weiß auch, dass das, was er mir heute zuschickt, seinen Schickungen für mich die Krone aufsetzen wird, wenn es anders die Krone ist, was wir noch nicht behaupten können. Ich beschwöre Euch, fragt Euch selbst und seht zu, ob Jesus Christus für Euch das ist, was er für die allgemeine Kirche der Gläubigen ist, was er, ich wiederhole es, für die Patriarchen, Propheten, Apostel, für die Märtyrer, für die Väter, für die Reformatoren und für alle Heiligen aller Zeiten gewesen ist; was er nach seinem Wort, nach seinen eigenen Erklärungen, nach dem Zeugnis des Vaters ist; dann ruht, ruht aber niemals vorher, denn Keiner darf ruhen, wenn er nicht gelernt hat, am Fuße des Kreuzes seines Gottes und Erlösers zu ruhen, müsste er auch durch Wind und Sturm dafür zerschlagen sein und todesmatt an dieser Stätte hinsinken, die er nun nicht mehr verlassen will.

1)
Ps. 51,6
2)
1. Kor. 2,2
3)
Kol. 2,9
4)
Joh. 14,9
5)
1. Tim. 3,16
6)
1. Joh. 5,20
7)
Röm. 9,5
8)
Joh. 5,23
9)
Joh. 14,6; 2. Mos. 3,14; Off. 19,6
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