Monod, Adolphe - Abschiedsworte - Einige Worte über das Lesen der Bibel.

Monod, Adolphe - Abschiedsworte - Einige Worte über das Lesen der Bibel.

(Den 11. November 1855)

Ich pflege in meiner gegenwärtigen Lage einige Worte christlicher Ermahnung an die Freunde zu richten, welche die Güte haben, sich bei mir zu versammeln. Heute beraubt mich mein Leidenszustand dieses Trostes; deshalb beschränke ich mich darauf, Euch eine Tatsache christlicher Erfahrung vorzuführen, die Euch vielleicht zum ersprießlichen Nachdenken über den Wert des Wortes Gottes führen kann; ich nehme hierzu ganz einfach ein Erlebnis dieser Woche. In einer meiner Nächte, in der ich viel litt und wenig schlief, gegen das Ende der Nacht um halb fünf Uhr, hatte ich mich in mein Bett zurückgelegt mit der Hoffnung, etwas auszuruhen; - da bat ich meinen Wärter, einen der lieben jungen Leute, welche die Güte haben, mir einen Teil ihrer Kräfte zu opfern1), mir ein Kapitel aus dem Wort Gottes vorzulesen. Er schlug mir das achte Kapitel der Epistel Pauli an die Römer vor. Ich nahm dies an, bat ihn aber zugleich, des Zusammenhangs wegen bis zum sechsten, ja bis zum fünften Kapitel zurückzugehen. Wir lasen so der Reihe nach die vier Kapitel, von fünften bis zum achten, und ich dachte nicht mehr an's Schlafen, dergestalt waren meine Aufmerksamkeit, mein Interesse, meine Bewunderung durch die himmlische Sprache des heiligen Paulus oder vielmehr des heiligen Geistes, der durch den Apostel Paulus redet, gefesselt. Darauf lasen wir das neunte Kapitel und die folgenden bis zum Schluss immer mit einem gleichen, regen Interesse; sodann, um Nichts auszulassen und den Brief vollständig gelesen zu haben, noch die vier ersten Kapitel. Zwei Stunden hatten wir damit zugebracht, und ich dachte nur noch daran, das Wort Gottes zu hören und Nutzen aus ihm zu ziehen; der Herr verlieh mir in seiner Güte auch die Ruhe, welche mir gemangelt hatte. Aber ich kann Euch nicht sagen, wie gewaltig ich während dieses Lesens des Römerbriefes in seinem Zusammenhang von der Göttlichkeit, Wahrheit, Heiligkeit, Liebe und Kraft ergriffen war, deren Stempel jeder Seite und jedem Worte aufgedrückt ist. Mein junger Freund und ich fühlten, ohne uns vorher unsere Gedanken mitgeteilt zu haben, dass wir Worte vom Himmel hörten: unabhängig von allen den Zeugnissen, welche die göttliche Eingebung und Geltung der Schrift beweisen, gibt, wie Jesus Christus sich durch seine Werke, so die Schrift selbst für sich ein vollkommen hinreichendes Zeugnis. Wir haben auch gefühlt, wie nützlich es ist, die heilige Schrift in Zusammenhang zu lesen, und wie viel man im Gegenteil verliert, wenn man nur Teile, Bruchstücke, einzelne abgerissene Verse herausnimmt; man kann ja ein Buch nur begreifen, wenn man es von Zeit zu Zeit ganz durchliest. Dieses zeigte uns, dass man auf zweierlei Weise das Wort Gottes betrachten muss: Einmal im Zusammenhang, um einen so gesegneten Eindruck in uns hervorzubringen, wie wir ihn soeben gehabt hatten, und dann im Einzelnen, um sich über jeden Vers, über jedes Wort Rechenschaft zu geben. Aber der Haupteindruck war ein demütigender. Wir sagten uns gegenseitig: Wie! wir haben einen solchen Schatz in unserem Besitz und wir versäumen es, daraus zu schöpfen! Wir hatten zwei Stunden wie im Himmel zugebracht; wir fanden uns entrückt nicht nur unter die besten Menschen, die begeisterten und bevorzugten Werkzeuge des heiligen Geistes, sondern mitten unter die auserwählten Engel, und in die Gemeinschaft Jesu Christi; so haben wir den Entschluss gefasst und ihn unter den Schutz dessen gestellt, der allein die Entschlüsse seiner Kinder fördern kann, den Entschluss, uns mit einem ganz andern Eifer als bisher dem Studium der Heiligen Schrift zu widmen, ihm zu Liebe, wenn es sein muss, eine Menge anderer nützlicher und lehrreicher Schriften, die aber mit dem Wort Gottes nicht verglichen werden können, ungelesen zu lassen, und mit diesem heiligen Wort zu leben, wie wir mit Gott selbst zu leben wünschen, denn das Lesen dieses durch den Geist Gottes eingegebenen Wortes ist ja gleichsam eine Unterredung mit Gott. Ich empfehle Euch, meine lieben Freunde, ein beständiges und tiefes Forschen und Betrachten des Wortes Gottes: so gebraucht, wird es uns über alles Andere erheben; es wird die Kraft unseres Lebens, die Freude unseres Herzens und unser mächtiger Trost sein im Leben und im Tod durch Jesum Christum. Dies ist mein Flehen für Euch wie für mich. Amen.

1)
Bei Herrn Adolph Monod haben fast 6 Monate lang jede Nacht abwechselnd eine kleine Anzahl junger Leute gewacht, fast lauter Studenten der Medizin, deren Aufopferung und zuvorkommende Pflege ihm diese langen schlaflosen und leidensvollen Nächte sehr versüßte.
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