Mallet, Friedrich - Das Himmelreich.
Evang. Matth. 3,1.2.
Zu der Zeit kam Johannes der Täufer und predigte in der Wüste des jüdischen Landes, und sprach: Tut Buße, das Himmelreich ist nahe herbei gekommen.
Es gibt ein Himmelreich, das, wie schon sein Name es ausspricht, nicht von dieser Welt ist. Es gehört einer anderen Welt an. Es gehört dem Himmel an, wo Gott seinen Thron bereitet hat, wo nie etwas Anderes gewaltet hat, als seine Liebe, und wo der volle Glanz einer heiligen und seligen Schöpfung es überall kund tut: Hier ist das Reich Gottes, hier ist das Himmelreich. Aber wir sind doch für dieses Reich geboren, wir sind dafür bestimmt, unser ganzes Wesen ist so sehr dafür bereitet, dass unser Dasein außer diesem Reiche eine beständige Unruhe, unser Ausschluss aus diesem Reiche eine ewige Qual sein würde. Die wichtigste Frage für den Menschen kann daher nur die sein: Wie komme ich in dieses himmlische Reich hinein? Dass der Tod unmöglich ein lieber Heiland sein kann, der uns unmittelbar aus den Reichen dieser Welt hinaus und ins Himmelreich hineinführt, das sagt uns schon unser Gewissen. Dem Wort: Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach aber der Himmel, widerspricht es laut und entschieden; aber dem Ausspruch: Es ist dem Menschen gesetzt einmal zu sterben, danach aber das Gericht, gibt es seine völlige Zustimmung. Und doch kennen wir keinen anderen Ausgang aus dieser in die andere Welt. Des Elias Wagen steht uns nicht zu Gebote, und selbst der Himmelfahrt unseres Herrn ist der Tod und die Auferstehung vorangegangen. Aber es heißt auch hier: Sprich nicht, wer will hinauf gen Himmel fahren; denn das Himmelreich ist dir nahe auf Erden, und so du willst, kannst du eingehen und sollst schon hier eingehen durch seine enge Pforte in sein heiliges und seliges Gebiet. Lasst uns denn sehen, wie das Himmelreich hier auf Erden ist, und zwar erstens, wie es hier verborgen ist; zweitens wie es hier offenbar wird; drittens, wie es zu uns kommt mit allen seinen Gaben.
I.
„Zu der Zeit“, so schreibt die heilige Geschichte. Sie hat eben die Geburt des Heilandes erzählt, und was sich dabei vor und nachher zugetragen hat. Der König des Himmelreichs war auf die Erde herabgekommen, und mit ihm hatte sich das himmlische Reich zur Erde herabgesenkt, mit ihm war es eingetreten in diese Welt. Er betrat die Erde, um sie seinem Reich einzuverleiben; er erniedrigte sich zu den Menschen, um sie in sein Reich zu erheben. So wie er geboren war, konnte man auf Erden sagen: Das Himmelreich ist da! Man hätte denken sollen, die ganze Welt wäre darüber in Bewegung gekommen; allein sie wusste nichts davon. Das Himmelreich kam nicht mit äußerlichen Gebärden, sondern so verflochten mit den Ereignissen der Welt, so eingehüllt in die gewöhnlichen Geschichten des Tages, dass die Welt gar nicht merkte, es sei etwas Außerordentliches geschehen, es sei ein neues Reich auf der Erde erschienen und zwar ein solches, welches Ansprüche auf alle Menschen mache, welches behaupte, seine Grenze sei die Welt und seine Dauer sei die Ewigkeit. Zwar um Bethlehem her wussten einige Leute davon, und durch den Mord der unschuldigen Kinder Bethlehems hatte die Geburt des wunderbaren Kindes der Maria eine traurige und schmerzliche Berühmtheit erlangt. Auch war ganz Jerusalem erschrocken über die auf so sonderbare Weise ihr zugekommene Botschaft der verheißene König sei geboren. Aber zu der Zeit, von der die Geschichte hier redet, war das Alles längst vergessen; die Hirten Bethlehems, die Weisen aus Morgenland, Simeon, Hanna uud die meisten der Bürger Jerusalems, die vor der Botschaft der Weisen erschraken, waren tot. Auch die Erscheinung des wunderbaren Knaben aus Nazareth im Tempel war wieder vergessen, und ohne dass Jemand es wusste und ahnte, lebte in dem verachteten, armen Städtchen Nazareth des Himmelreichs ewiger König.
So war in ihm das Himmelreich in der Welt und doch so verborgen, dass sein Dasein selbst von denen nicht geahnt wurde, die ihn mit ihren Augen sahen. Und seitdem ist das Himmelreich von der Erde nicht wieder geschieden, sondern es ist auf ihr geblieben, auch als er wieder aus der Welt zurückkehrte zum Vater. Ja seitdem hat es sich erst recht in der Welt durch sein Wort verbreitet und durch seinen heiligen Geist kund getan in den Herzen der Wiedergebornen. Es ist eine Gemeinde vorhanden, ein Volk Gottes ist auf Erden, das es erfährt, wie wahr das Wort des himmlischen Königs ist: „Ich bin bei Euch alle Tage.“ Aber es kommen Zeiten, wo dies vor aller Welt Augen sich verhüllt, wo das Himmelreich auf Erden, die Gemeinde Gottes in der Welt so wenig gekannt oder so unansehnlich und verachtet wie Nazareth ist, und wo eben darum es sich Niemand denken kann, dass in diesem armen Nazareth der König der Könige seine Wohnung habe. Das Himmelreich ist verborgen auf Erden.
II.
Aber es wird doch auch immer offenbar. „Zu der Zeit,“ erzählt die heilige Geschichte, „kam Johannes der Täufer“. Also in der Zeit der tiefsten Stille, wo von dem Anbruch und Nahesein des Himmelreichs nicht mehr die Rede und Alles vergessen war, was etwa die Blicke der Menschen von den Höhen der Welt hätte nach Nazareth richten können, gerade zu der Zeit der tiefsten Verborgenheit des Himmelreichs tritt es auf einmal hervor und bewegt ringsum sich her die Welt. Freilich kommt es auch jetzt nicht nach Art der Weltreiche mit äußerem Glanz. Es tritt auf in einem einzigen Mann, der sich als seinen Herold ankündigt, der es hineinruft in die Welt: Es ist nahe, es kommt, es ist da! Aber Alles war außerordentlich an diesem Mann, sogar der Ort seines Auftretens. Jerusalem und in Jerusalem der Tempel war die Stätte, wo die Propheten Gottes als Herolde des Reichs, das vom Himmel kommen sollte, auftraten, aber Johannes blieb in der Wüste, durch die der Weg nach Jerusalem ging, durch welche das Volk zog zum Heiligtum des Herrn, um da seine Feste zu feiern. „In der Wüste des jüdischen Landes“ trat Johannes auf und redete zu den vorüberziehenden Karawanen und Pilgern, und Israel merkte, dass es die Stimme eines Predigers sei von Gott gesandt, und die stille Wüste wurde laut, und wo es leer war, da wogte es von Menschen. Johannes kam nicht zu Jerusalem, aber Jerusalem kam zu Johannes, und wie einst Israel mit Mose, so war jetzt Israel mit Johannes in der Wüste. Und Johannes, der Täufer, wird er genannt. Das war auch was Neues. Diesen Namen hatte bisher Niemand in Israel geführt. Es war ein ganz neuer Name, wie die Taufe unter Israel und für die Israeliten etwas ganz Neues war, so dass sein Taufen zuerst und am allermeisten an ihm auffiel und man überall zu allererst staunend von ihm erzählte: Er tauft und behauptet, auch der Israelit könne nur durch die Taufe ins Reich Gottes eingehen. Daher wurde er der Täufer genannt. Aber freilich eine bloße äußere Zeremonie hätte noch nichts besonderes gewirkt, das Wasser hätte es nicht getan, wäre der Geist nicht dabei gewesen. Aber Johannes war schon im Mutterleib erfüllt mit dem heiligen Geist, und wer ihn hörte, der fühlte aus jedem Wort seines Mundes das Wehen des Geistes, die Kraft des Geistes, der die Welt überwindet. Ein solches Zeugnis des Geistes war zugleich ein Beweis dafür, dass das Himmelreich nahe, dass es da sei. So trat zu der Zeit das in der Welt vorhandene aber verborgene Himmelreich auf und tat sich kund als etwas ganz Neues und Freies, das an nichts bisher Bestehendes unauflöslich geknüpft ist, das sich nicht nach der Welt richtet, sondern nach dem sich die Welt richten muss, das als das Höhere Unterwerfung fordert, und das bei der Verschmähung aller Herrlichkeit dieser Welt die Kraft eines Geistes offenbart, der unüberwindlich ist und selbst Alles überwindet. Und so, Geliebte, ist das Himmelreich immer und immer wieder, wo es verborgen war in der Welt, aus der Verborgenheit hervorgetreten durch Personen, durch Zeugnisse, durch Taten, durch Werke, durch Vereine, kurz durch die Offenbarung eines bisher verborgenen Lebens, das als ein neues erschien in der Welt, an ein Äußeres nicht geknüpft ist, das neue Lebensbahnen bricht, das neue Lebensperioden anbahnt, das die Welt bewegt und von dem man sagen muss: Hier ist der Odem des lebendigen Gottes, hier ist sein Heiliger Geist! O wie war das Himmelreich im Höllenreich des Papsttums wie verschwunden … und immer und gerade wenn es schien, als habe es die Erde wieder verlassen, dann brach es auf einmal wieder hervor gerade da, wo man's am wenigsten suchte, in Helden des Glaubens, in Männern der Liebe, in Märtyrern der Hoffnung, in Zeugen der Wahrheit, in Gemeinden des Kreuzes und erschreckte und überraschte die Welt mit etwas, was nicht von ihr ist, was sie daher nie hat begreifen können, und was sie daher immer angestaunt oder verfolgt hat. Und so ist's nicht nur in der Welt, so ist's auch in uns selbst. Es ist möglich, dass wir das Himmelreich schon in uns haben, aber es ist verborgen in uns; weder wir selbst noch Andere bemerken in und an uns etwas Himmlisches. Aber plötzlich bricht es hindurch durch alle die Wolken und Nebel der Sünde, die es umhüllt haben; was uns alt geworden war, was wir fast vergessen hatten, das wird auf einmal neu in uns; was bisher in uns so schwach war, fühlen wir auf einmal als eine Gotteskraft, das Wehen eines neuen Geistes geht durch unsere Seele, und wir atmen auf, unsere Ketten fallen, wir fühlen uns aus dem Tod ins Leben hinübergerettet und frohlocken: Halleluja, das Himmelreich ist da! Ja, es ist gewiss, wo das Himmelreich verborgen ist, da wird's auch offenbar.
III.
Aber wenn's nun aus der Verborgenheit heraus und hineintritt in die Welt, wie kommt's dann zu den Menschen, wie kehrt's ein in ihre Herzen? Die heilige Geschichte erzählt von Johannes: Er sprach: „Tut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“ Das ist die Antwort auf unsere Frage. So kommt dieses wunderbare, dieses ewige, dieses selige Reich zu den Menschen, mit diesem Wort: „Tut Buße, denn ich bin da“. Das Wort ist ernst. Es liegt ein Urteil darin über den Menschen, Es ist ein Richterspruch, von dem man gern appellieren möchte, aber jedes Gericht, sei es das Gericht des Gewissens oder des Gesetzes oder heiliger Menschen oder heiliger Engel oder das höchste Oberappellationsgericht, das Gericht des lebendigen Gottes, wird es bestätigen, was er zu einem Jeden sagt: du bist ein sündiger Mensch, du bist auf dem Weg zum ewigen Verderben! Es ist aber auch ein frohes Wort; denn es heißt: dir kann noch vergeben, und du kannst noch gerettet werden; siehe dein König kommt zu dir nicht herrlich und ein Richter, sondern arm und ein Helfer, um dich zu retten, um dich selig zu machen; kehre also um, eile zu seinen Füßen, in seine Arme, an sein Herz, so setzt er dich zum Erben aller Güter seines Reiches, seines Herzens, seines Hauses ein. Und so ist es endlich auch ein dringendes Wort; denn das ganze Wohl des Menschen, das ganze Himmelreich für den Menschen hängt daran. Wem dieses Wort zugerufen wird, dem öffnen sich die Tore des Himmelreichs; wer es nicht achtet und weiter fortgeht auf seinem Weg, hinter dem schließen sie sich wieder zu, und nirgends wird er einen anderen Eingang finden. Es war eine sehr bewegte Zeit in Israel, als mit diesem Wort das Himmelreich zu ihnen kam. Alles klagte still oder laut über unerträgliche Zustände. Alles fühlte, so könne, so dürfe es nicht länger bleiben, es müsse anders, es müsse besser werden, es müsse ein Himmelreich der Freiheit, des Friedens, des Wohlseins kommen. Aber dass, wenn es anders und besser werden solle, sie selbst, die Klagenden, anders und besser werden müssten, dass die schlechten Zustände von der schlechten Beschaffenheit der Menschen herrühren, daran dachte Niemand. Dass Jeder schuldig und sündig sei, dass also Jeder zu der Masse des unerträglichen Elends das Seinige beitrage, das wollte Niemand wissen. Sie meinten, das Himmelreich der Freiheit und des Wohlseins, das könne so von außen kommen; das könne man machen, wenn man nur wolle; die Menschen könnten bleiben, die sie waren, könnten irdisch, fleischlich, höllisch bleiben, und doch könne man sie in himmlische Zustände versetzen. Und das meinen die Menschen noch immer, sogar in unseren aufgeklärten Zeiten. Da klagen die schlechtesten Menschen, die am meisten Ursache hätten über sich selbst zu klagen, am allerlautesten über die äußeren Zustände, und die ganze Welt meint man umbilden zu können, während die Menschen in ihr so schlecht bleiben, wie sie sind. Hinweg mit solcher Torheit! Das Himmelreich, ohne welches die Menschen nie zur rechten Freiheit, nie zum rechten Dasein und Leben und also auch nie zur Ruhe kommen, kommt mit dem Ruf: „Tut Buße“, zu uns und sagt uns damit, dass der Schauplatz der Veränderungen und Reformen nicht außer, sondern in uns ist, dass in uns eine totale Veränderung vorgehen muss, welche die Schrift die Bekehrung nennt, die sich vollendet in dem Werk der Wiedergeburt zu einem ganz neuen himmlischen Dasein. O lasst uns auf dieses Wert: „Tut Buße“, achten, lasst es uns bewahren und bewegen in unserem Innern, und es wird damit das ganze Reich Gottes mit seinen Gnaden und mit seinen Gaben einziehen in unser Herz und damit auch in unser Haus. Es wird sich als ein Neues offenbaren, das uns selbst rein macht, und das die Wüste und Einöde dieses Erdenlebens mit Himmelsblumen schmückt. Und so werden wir dann auch alle Veränderungen und alle Stürme und all das Zittern und Schwanken der Reiche dieser Welt um so leichter ertragen, indem wir uns dessen freuen, dass wir einem Reich angehören, welches ewiglich währt, das auch im Sturm Friede, im Schmerz Freude ist, und je ärger es in der Welt ist, um so lauter werden wir frohlocken können: Gelobt sei Gott, der uns errettet hat von der Obrigkeit der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich seines lieben Sohnes! Amen.