Luthardt, Christoph Ernst - 3. Am Sonntag Estomihi.

Luthardt, Christoph Ernst - 3. Am Sonntag Estomihi.

Text: Ev. Lukas 18,31-43.
Er nahm aber zu sich die Zwölfe, und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf gen Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, das geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden; und er wird verspottet, und geschmäht, und verspien werden; und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tag wird er wieder auferstehen. Sie aber vernahmen der keines, und die Rede war ihnen verborgen, und wussten nicht, was das gesagt war. Es geschah aber, da er nahe zu Jericho kam, saß ein Blinder am Wege und bettelte. Da er aber hörte das Volk, das durchhin ging, forschte er, was das wäre, Da verkündigten sie ihm, Jesus von Nazareth ginge vorüber. Und er rief und sprach: Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Die aber vorne gingen, bedrohten ihn, er sollte schweigen. Er aber schrie vielmehr Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Jesus aber stand stille, und hieß ihn zu sich führen. Da sie ihn aber nahe bei ihn brachten, fragte er ihn und sprach: Was willst du, dass ich dir tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen möge. Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend; dein Glaube hat dir geholfen. Und alsbald ward er sehend, und folgte ihm nach, und pries Gott. Und alles Volk, das solches sah, lobte Gott.

Geliebte in dem Herrn! Die Zeit der Passion ist nahe gekommen. Der nächste Sonntag ist der erste Sonntag in der Passionszeit. Unser heutiges Evangelium ist die Pforte in diese Zeit. Jesus verkündigt sein Leiden; er hat sein Angesicht gen Jerusalem gewandt; er geht seinem Leiden entgegen. Wie die Sonne von ihrer Mittagshöhe sich abwärts wendet, um in des Meeres Tiefe hinab zu tauchen - so neigt sich jene Sonne der Gnade und Gerechtigkeit zu ihrem Untergang, welche nun die drei Jahre her über Israels Grenzen geleuchtet von Betlehem bis Nazareth, und von den Peräa jenseits des Jordan bis zu den Höhen des Sees Genezareth und bis in die Gegend von Tyrus und Sidon. So lange diese Sonne am Himmel stand, war es Tag über dem heiligen Lande nun will es Abend werden für das Volk des Alten Bundes. Aber wie die Sonne für uns nur untergeht, um einer anderen Welt zu leuchten, so ist jene Sonne der Gnaden untergegangen hinter der Höhe von Golgatha, nur um einer neuen Welt Licht zu bringen: der Gemeinde des Neuen Bundes mitten in dieser Welt der Finsternis.

Als Gott durch Moses Hand Gericht übte über Ägypten, da lagerte sich dunkle Nacht über das Land der Verstockung drei Tage lang aber bei den Kindern Israels war es Licht in ihren Wohnungen. So ist es jetzt. Denn das Kreuz auf Golgatha zwar ist der Welt in Nacht gehüllt worden; aber seit der zur Rechten des Vaters Erhöhte im Wehen und Feuer des Geistes sich seiner Gemeinde offenbarte und sie zu sammeln begonnen aus dieser gerichteten Welt, da leuchtet es den Erlösten am Himmel in lichter Klarheit als Siegeszeichen. Das Kreuz in der Nacht von Golgatha, das Kreuz in der lichten Klarheit des Himmels; Christus der Gestorbene, Christus der Auferstandene; das ist das Thema aller Predigt, welche seitdem durch die Welt geht; das ist das Thema auch unserer Predigt allez samt. Davon zu reden, werden wir nicht müde; das zu preisen, wird uns nie zu viel: so lassts auch euch nicht zu viel werden, davon zu hören, daran zu lernen, euch dadurch zu erbauen, euch darüber zu freuen.

Das Wort vom Kreuz ist auch unseres heutigen Textes Inhalt; das Wort vom Kreuz ein dunkles Wort und doch ein Licht der Seelen.

1. Das Wort vom Kreuz ein dunkles Wort.

Mancherlei Predigt hatte Christus in Israel getan, liebliche, köstliche. Als ein Säemann war er durch Israels Fluren gegangen und hatte den Samen seines Wortes ausgestreut. Im Evangelium des vorigen Sonntags hatte er dies Gleichnis dem Volke und seinen Jüngern vorgehalten, ihnen und uns eine Erinnerung und Zusammenfassung aller seiner prophetischen Tätigkeit. Auf mancherlei Boden war der Same seines Wortes gefallen; nur ein geringer Teil auf guten, zu reicher Frucht. Daran hat Jesus die Seinen erinnert; daran will er uns erinnern zu ernstlichem Nachdenken. Welchen Boden hat es bei uns, welche Aufnahme in dieser Kirche gefunden? Harten Wegboden und schnellen Raub durch die Geister, die im Leben dieses Weltlaufs ihr Wesen treiben. Lustiges Blühen und schnellen Abfall; Unkrautüberwucherung und baldige Erstickung. Wo ist die Frucht, die dreißig-, die sechzig-, die hundertfache? Nun kommt sein letztes, sein höchstes, sein ernstlichstes, sein seligstes Wort: das Wort vom Kreuz. Es erfüllt sich sein Beruf im Todesleiden, es verkündigt sein Wort, dies Todesleiden.

Geliebte! Freude ist eine starke Macht, und Fröhlichkeit übt große Gewalt über die Gemüter der Menschen. Aber tiefer als alle Freude dringt, mehr als alle Fröhlichkeit ergreift, übt Gewalt über der Menschen Gemüter das Leiden und die Kunde des Leidens. Aber wo ist ein Leiden in aller Welt, wo war ein Leiden der Menschen je gedacht, wie es dort geschehen ist, wie es hier verkündigt wird? Manch ein Trauriges hat sich begeben, hat man berichtet oder gedichtet, was dem Menschen in die tiefste Seele drang. Aber gelobt sei Gott, welcher uns in der Leidensverkündigung von Golgatha eine Macht gegeben hat, welcher nichts anderes gleicht, welche auch der härtesten Sünder Herz zu erweichen, auch den eisernsten Sinn zu überwinden vermag. Mit dem Wort vom Kreuz nehmen wir der Menschen Sinn und Willen gefangen, und bringen diese Beute dankend und preisend als heiliges Opfer vor den Thron der Gnaden. Die Frauen Jerusalems weinten, als der Liebenswürdigste aller Menschenkinder unter der Last des Kreuzs durch die Straßen Jerusalems zur Stätte des Gerichtes ging. Aber was wussten sie, wer das sei, der da leide, und warum er leide? Was erst sollten sie getan haben, wenn sie das wussten? Wir wissen es. Lasst uns hören. „Es wird Alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden und er wird verspottet, und geschmäht, und verspien werden; und sie werden ihn geißeln und töten, und am dritten Tage wird er wieder auferstehen.“

Vom Menschensohn redet er; damit meint er sich. Das will sagen: was geschrieben steht von mir, der ich, die Geschichte der Menschheit zum Ziele zu führen, Mensch geworden bin; also von mir, der ich seit Ewigkeit bei Gott im Himmel war, des Vaters geliebter ewiger Sohn, dem Vater zur Seiten, Herr Himmels und der Erden, ein Seliger und Herrlicher, Gott von Art; von mir, der ich um der Menschen willen und ihnen zu lieb, euch zu lieb Mensch worden bin; von mir, der ich, um die Verirrten zurückzuführen und die Gottverlorenen hinanzubringen zum Ziele, als Mensch geboren bin, als die rechte Frucht der Menschheit in ihre Gleiche eingetreten bin, arm worden bin da ich hätte reich, schwach da ich hätte mächtig, niedrig da ich hätte hoch, Knecht da ich hätte Herr sein können. „Was geschrieben ist durch die Propheten“: also was im Liebesratschluss Gottes von Ur1) an beschlossen, was durch die Boten Gottes den Menschen im Elend zum Trost verkündigt, was jetzt zu erfüllen begonnen worden ist, das soll vollendet werden. Siehe ich komme, im Buch ist von mir geschrieben; gehorsam trag ich es in meinen Händen. Allen Gnadenwillen Gottes tue ich gerne, erfülle ich willig, erfülle ich im Leiden und Sterben. Verraten von einem, der mein Brot mit mir isst, verworfen von denen, die ich mir erkoren zum eigenen Volk in Barmherzigkeit, von meinem Volk überantwortet den Heiden, überantwortet zu Schimpf und Misshandlung - meinen Rücken halte ich dar denen, die mich schlagen, meine Wangen denen, die mich raufen, und mein Angesicht verberg ich nicht vor Schmach und Speichel. Und man wird mich töten; und nach drei Tagen werde ich auferstehen. Und das hab ich Alles Euch getan, meine große Liebe zu zeigen an mir - das hat er uns getan, das hat er dir getan, du Menschenkind! Das ist das Wort vom Kreuz.

Ich habe gesagt: das Wort vom Kreuz ein dunkles Wort, Ihr sprecht: was ist lichter als das, was ist einfacher als diese Geschichte? Das Wort vom Kreuz ein lichtes, leichtes Wort! Und doch heißt es von den Jüngern: „sie aber vernahmen der keines und die Rede war ihnen verborgen und wussten nicht was das gesagt war.“ So wird es doch wohl sein: ein dunkles Wort dem Menschenverstand. So wirds wohl sein, wie Jener singt:

Das ist das wundervolle Ding;
Erst scheints für Kinder zu gering,
Zuletzt zerglaubt ein Mann sich dran,
Und stirbt wohl, eh' ers glauben kann.

Warum verstehens wohl die Jünger nicht? Sinds jüdische Vorurteile? Aber warum ist es dann den Griechen eine Torheit? Der Nichtverstand wohnt nicht im Juden, sondern im Menschen; er sitzt dem Menschen im Herzen, er wohnt ihm in Fleisch und Blut. Geliebte, versteht ihr es? Selig der Mensch, der es versteht. Aber nicht Buchstabenverstand tuts, sondern Verstand der Sache. Nicht, dass man eine Geschichte mehr wisse, die eben auch auf Erden geschehen sei zu vielen anderen, sondern, dass man wisse, was damit anfangen das heißt Verstand davon haben, das hilft.

Des Vaters ewiger Sohn ist Mensch geworden, d. h. die Menschen haben sich selber nicht helfen können. Der Menschgewordene hat Gottes Zorn und des Gesetzes Fluch getragen, d. h. wir Menschen sind von Natur Kinder des Zorns und stehen unter dem Fluch. Der Mensch Jesus ist von Gott zur Sünde gemacht worden, d. h. wir sind allesamt eitel arme Sünder. Der Mensch Jesus ist gestorben, d. h. wir hätten Alle zeitlichen und ewigen Tod, Gericht und Verdammnis verdient und zu erwarten gehabt, hätte er, hätte Gottes Liebe und Gnade in ihm uns nicht davon geholfen. Der Gestorbene ist auferstanden zu einem neuen Leben Gottes, d. h. wir müssen und sollen neue Menschen werden und in einem neuen Leben wandeln - der Auferstandene ist gen Himmel gefahren, d. h. wir sollen der Erde und allem dem, was irdisch ist, absagen und den Rücken kehren; da droben soll unsere Liebe, unsre Freude, unser Wandel, unsere Hoffnung sein. Der Aufgefahrene hat seinen Geist gesandt, d. h. wir sind Fleisch von Fleisch geboren und Gottes Geist allein macht uns zu neuen Menschen, zu Kindern Gottes, zu Erben der himmlischen Herrlichkeit.

Verstehst du, mein Lieber, was diese Geschichte, was dieses Wort vom Kreuz meint und will? Es meint, dass wir eitel arme, elende Sünder seien; es meint, dass es mit aller unserer Heiligkeit, Tugend, Frömmigkeit, guten Werken und Herrlichkeit eitel nichts und aber nichts sei; es will uns alle hohen Gedanken, Einbildung, Stolz und Eitelkeit über den Haufen werfen; es will, dass wir das selber Alles über Bord werfen sollen; es will, dass wir meinen sollen, es gehe auch uns an, wenn unseres Herrn Diener ausgehen auf die Landstraßen und Zäune, und die Armen, Lahmen, Blinden, Krüppel und Elenden zum Mahle seiner Liebe laden; es will, dass wir uns auch zu solcher Gesellschaft rechnen und ihrer uns nicht schämen sollen. Wer das nicht verstehen kann, wie das auch von ihm gelten soll; wer das nicht über sich gewinnen kann, das auch von sich gelten zu lassen; wer das sich nicht gefallen lassen kann, wer nicht begreift, dass er auf die Knie soll, auf die Knie und rufen: Gott sei mir Sünder gnädig! nichts wissen, denken, sagen und bekennen, als nur den einen Gedanken, die eine Empfindung, das eine Wort: Gott sei mir Sünder gnädig! wer das nicht versteht, versteht auch das Wort vom Kreuz nicht, so einfach es lautet und ist; für den ist es, für den bleibt es ein dunkles Wort, ein schweres Wort, eine harte Rede, die man nicht hören kann, eine törichte Rede, die man nicht vertragen kann - ein dunkles Wort in alle Ewigkeit. Der sieht das Dunkel wohl über Golgatha, aber nicht das Licht im Auge der Liebe Jesu; der sieht den Mann wohl dort am Holze, aber er weiß nicht, was er soll, er versteht nicht Gottes Liebesgedanken; der mag wohl einen Eindruck der Rührung empfangen über solch ein Leiden, aber er kommt nie zum Ausruf der Freude: Gott sei Dank in aller Welt, der sein Wort getreulich hält. Wer aber versteht, was dieser nicht versteht, dem ist das Wort vom Kreuz ein seliges, liebliches, fröhliches, göttliches, lichtes und leichtes Wort.

2. Das Wort vom Kreuz ein Licht der Seelen.

Der Blinde im Evangelium zeigt uns, wie es uns das werden mag. Bei Jericho sitzt ein Blinder am Weg und bettelt. Schier wie ein Paradies an wüstem Orte war Jerichos gesegnete Flur; die Flur der Palmen-, Rosen- und Balsamstadt. Von all' der Herrlichkeit sieht Jener nichts. Dort ging der Weg nach Jerusalem. In wenigen Stunden war man daselbst. Die Scharen der Pilgrime ziehen diese Straße zur heiligen Stadt, die schönen Gottesdienste im Haus des Herrn zu schauen, an seinen Heiligtümern ihr Auge und ihren Sinn zu erquicken. Von allem dem sah jener nichts. So ist der Mensch! Einen reichen Garten, das Paradies der untergegangenen Welt, ja mehr als Paradies und Eden, voll Früchte seiner Güte hat Gottes Liebe um ihn gepflanzt. - Wer steht ihn und freut sich sein? Himmelsklarheit breitet sich über ihn, Friede Gottes blüht in seinen Grenzen, Liebesglut leuchtet in Glanz, der Duft des Himmels erfüllt ihn wer sieht es und genießt sein? Eine Welt Gottes umgibt uns, eitel Güte und Gnade, eitel selige Lust und Freude, eine Welt voll Liebe - wir sehen sie nicht. So ist der Mensch, der seine Welt sich erwählt, seine Welt sich aufgebaut statt Gottes. Nacht des Irrtums, Nacht der Sünde in ihm, um ihn; eitles Fragen, eitles Suchen im Dunkel; eitles Ringen, eitles Jagen in Angst; eitle Ruhe, eitle Freude in der Täuschung der Finsternis.

Der Blinde saß am Wege und bettelte. So ist der Mensch! Wo die Menschen übergehn, da sitzt er; wo sie sich umtreiben, dahin geht er; zum Lärmen des Tags, zum Getreibe des Marktes richtet er seine Füße, seine Gedanken und bettelt von denen, die vorübergehn. Von Diesem einen Trost im Leide, von Jenem eine Erquickung im Schmerze, von einem Dritten einen Aufschluss in Ungewissheit, eine Beruhigung in Unruhe, eine Kraft in seiner Schwachheit, ein Wort eitler Weisheit, einen Sittenspruch, eine Lebensregel, einen guten Grundsatz, einen guten Vorsatz - so betteln die Menschen. Die Toren! Sättigt den Hungrigen auch zu wissen, wie man das Brot bereite? kleidet den Nackenden auch die Kunde des Webers? oder mag der Blinde den Blinden leiten, oder wer selbst schwach ist, Kraft verleihen? Eitles Mühen, eitle Hoffnung des Bettlers! Es hilft ihm Keiner; es rettet ihn Keiner, und doch warum wird der Mensch nicht müde, immer neu zu suchen, zu fragen, zu bitten, zu betteln?

Geliebte! Wir haben eine Unruhe in uns selber, wir tragen eine Unzufriedenheit in uns herum; wir können jene nicht stillen, wir werden dieser nicht los. Das macht: es ist eine geheime Kunde im Menschenherzen, es ist eine Stimme der Weissagung im Innern.

Das geht vorüber der aller Verkündigung Inhalt, der aller Weissagung Erfüllung ist: Jesus der Christ, aller Welt Heiland. An denen, die vorausgehn und nachfolgen, merkt es der Blinde: Jesus geht vorüber. Merk auf, du Menschenkind, wenn Jesus an dir übergeht. Wenn seiner Boten und Diener Füße rauschen, derer, die von Erbarmung Gottes und Friede zu einander reden, loben und preisen, dann geht er vorüber, dein Helfer, Jesus von Nazareth, dein Heiland.

Manch' ein Rauschen solcher Füße, manch' ein Reden und Loben solcher Kunde, manch' eine Gestalt heiliger Pilger, die gen Zion wallen, ist an euch vorübergegangen - habt ihr Jesum von Nazareth nicht gemerkt? seine Nähe nicht vernommen? nicht, freudig ergriffen, die Hand nach ihm ausgestreckt, den Mund zur Bitte geöffnet? Es haben Völker und Länder, es haben die Menschen ihre Zeit. Wohl dem, der ihrer wahrnimmt. Jetzt geht Jesus am Blinden vorüber - hätte er des jetzt nicht geachtet; er wäre bis zu seinem Tode geblieben der er war: ein Blinder und Bettler. Geliebte! Manch' eine Passionszeit ist an euch vorübergegangen; manch' ein Mal hat sie die Gestalt des Lammes Gottes, die Leidensgestalt des Kreuzträgers, die Liebesgestalt des Sünderheilands an euch vorübergeführt; habt ihrs vernommen, habt ihr ihn vernommen und bittend angerufen. Nun kommt sie noch einmal wer weiß wie oftmal noch für dich, für mich mein Lieber, wollen wir am Wege sitzen im Elend und uns des nicht kümmern? Und der Blinde rief und sprach: Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich mein! Und da mans ihm wehrte, rief er noch viel mehr: Sohn Davids, erbarme dich mein! - Bitte, bete, rufe an! Nicht eher wird dem Menschen geholfen, er bitte denn; nicht eher weicht die Nacht der Sünden, er bete denn; nicht eher widerfährt ihm Heil, er rufe denn an. Nicht anders wird dir und mir geholfen, wir bitten denn; nicht anders weicht hier die Nacht der Sünden und all der große Jammer, ihr betet denn; nicht anders widerfährt dieser Stadt Heil: ihr ruft denn an, den Helfer und Heiland Jesum Christ. Und die Bitte muss sein, und das Gebet muss lauten, und das Anrufen muss sprechen: Erbarme dich mein! So lag dort in Damaskus Paulus auf den Knien in seiner Kammer, drei Tage lang, der Blinde; Nacht über seinen Augen, Nacht um ihn herum bittend, betend, anrufend im Ringen der Seele, drei Tage lang. Da hat er ein Gesicht als eines Mannes, der ihm die Hand auflegte und ihm half; und zu Ananias kam im Gesicht der Herr, und hieß ihn zu Saul, den Blinden gehen. „Lieber Bruder Saul, der Herr hat mich gesandt, dass du wieder sehend und mit dem heiligen Geist erfüllt werdest. Und alsbald fiel es von seinen Augen wie Schuppen.“ Nicht anders weicht die Nacht des Irrtums, der Sünde und aller Jammer, denn auf Bitten und Beten und Anrufen zum Herrn: erbarme dich mein, erbarme dich unser, erbarme dich dieser Stadt!

„Und Jesus stand stille.“ Wie die Sonne in ihrem Lauf stille steht, wenn sie den Knechten Gottes leuchten soll, so hielt die Sonne der Gnaden inne auf ihrem letzten Gang. „Was willst du, dass ich dir tun soll?“. Wie die Sonne am Abend noch ihre lieblichsten Strahlen über die Erde hinsendet und beim Scheiden noch der Menschen Herzen am meisten erfreut und erquickt, so geht Milde und Lieblichkeit aus vom Scheidenden. Welch eine freundliche Frage: „was willst du, dass ich dir tun soll?“ Welch ein liebliches Wort: was wünschst du? Und vollends, welch ein fröhlicher Bescheid, welch eine Wunderantwort: „sei sehend; dein Glaube hat dir geholfen.“ Wo ist ein Sünder, dem seine Sünden zu viel geworden sind; der mit ihnen ringt und kämpft wie ein Schiffbrüchiger mit den Wellen des stürmenden Meers? Wo ist ein Irrender, der in der Angst der Seele, im Dunkel der Schrecken die Pfade zum Licht der Erlösung und Wahrheit sucht? Wo ist ein erschrockenes Gewissen, das, von Nacht umgeben, den Gott des Friedens sucht und ihn im Schrecken seiner Gerechtigkeit nicht zu finden vermag? Wo ist ein Elender, dem sich der Jammer wie eine dunkle Wolke über seine Seele und sein Leben gelagert hat? Sprich nicht du Sünder: ich bin verloren; sprich nicht du Irrender: es ist vergebens; sprich nicht Erschrockener: ich muss verzagen; sprich nicht Gebeugter: es ist aus, Glaube nur! Bitte, bete, rufe an und glaube nur! „Habe ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen?“ Jesus hilft willig, sofort, völlig. „Und alsbald ward er sehend.“ Die Zeit der Wunder ist nicht aus; sie wird dauern, so lange der Herr im Himmel seine Gemeinde auf Erden sammelt und regiert. Sie wird dauern, so lange Gnade und Macht im Himmel, und Not und Jammer auf Erden herrscht. Aber Gebet und Glaube sind schwach geworden, aber das Fragen und Suchen ist matt geworden, aber „das Erbarme dich mein“ ist still geworden. Gott gebe euch, Gott gebe uns allen den Geist des Gebets und starken Glauben. Gott gieße den Geist des Gebets aus und schaffe Glauben in unseren Grenzen, dass doch der vielen Sünden ein Maß, der trüben Finsternis ein Ende, des schweren Jammers eine Linderung käme!

„Und er folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das solches sahe, lobte Gott!“ Wohin ist er mit ihm gegangen? Nach Jerusalem, zum Passah, zum Anblick seines Leidens, zum Kreuz auf Golgatha hat er ihn begleitet. Mein Lieber: Hast du noch nichts vernommen und gespürt von Jesu Liebesmacht und Wunderhilfe? Gewiss! Mein Lieber: in seinem Worte ist er eben an dir vorübergegangen - hast du sein nicht wahrgenommen? Vor dir auch ist er stehen geblieben, um dich zu fragen: was willst du, dass ich dir tun soll? Hast du seine Liebeswilligkeit nicht gemerkt? Gewiss! Hast du nicht einen Zug seiner Gnade gespürt, seines Herzens Regung nicht vernommen, von seiner Freundlichkeit und Milde nicht eine Empfindung gehabt? So stehe auf vom Wege, da die Menschen übergehn in eitlen Geschäften, Sorgen und Freuden; so lass was nichtig ist und doch nicht helfen und nicht erfreuen kann und gehe zu ihm und folge ihm! Wohin? Er geht zur Stätte der Passion dahin folge ihm! Er geht nach Golgatha dahin begleite ihn! Er geht zum Tod am Kreuz - dort umfasse und begrüße ihn:

Sei mir tausendmal gegrüßet,
Der mich je und je geliebt!
Jesu, der du selbst gebüßet
Das, womit ich dich betrübt.
O wie ist mir doch so wohl,
Wenn ich knien und beten soll
An dem Kreuz, da du stirbest
Und um meine Seele wirbest.

Wer noch wallt auf fremden Wegen, wer noch irrt auf der Menschen Steigen, wer durch die Welt streift und über Erde und Himmel suchend reist der richte seine Füße nach Jerusalem, der lege seinen Pilgerstab nieder auf Golgatha und preise Gott! Amen.

1)
Ewigkeit
Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/l/luthardt/luthardt_zehn_predigten/luthardt_zehn_predigten_estomihi.txt · Zuletzt geändert: von aj
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain