Luthardt, Christoph Ernst - Das gute Werk Gottes in uns.

Luthardt, Christoph Ernst - Das gute Werk Gottes in uns.

Predigt am 22. Sonntag nach Trinitatis über Phil. 1,3-11 gehalten.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem HErrn Jesu Christo. Amen.

In dem HErrn Geliebte! Wenn der Apostel die Philipper ermahnt, dass sie ihre Seligkeit schaffen sollen, so nennt er mit diesen Worten das größte Werk unseres Lebens. Denn von Allem was wir tun können ist das die höchste Tat und die nötigste Arbeit, dass wir unsere Seligkeit schaffen.

Geliebte! Leben heißt arbeiten; und wenn wir nicht mehr arbeiten können, so erscheint uns das Leben nicht mehr lebenswert. Denn wir sind von Gott dazu geschaffen tätig zu sein. Tätigkeit ist Leben. Zwar wir existieren und werden älter von Tag zu Tag ohne besondere Arbeit. Aber das ist auch nicht das Leben im eigentlichen Sinne. Und wer nicht anders gelebt hat als nur so, von wem man, wenn er stirbt, nur sagen kann, dass er eben gewesen ist, der hat nicht wahrhaft gelebt. Leben heißt wirken und tätig sein. Auch was wir erfahren, auch die Geschicke, die wir erleben - zwar sie treffen uns ohne unser Zutun. Aber wenn sie ein wirklicher Bestandteil unseres Lebens, wenn sie unser inneres Eigentum werden sollen, so sind sie nicht minder eine Arbeit wie jedes Werk unserer Hände, eine geistige, eine sittliche Arbeit. Und wir dürfen wohl sagen: Leiden, recht leiden ist zumeist eine viel schwerere Arbeit als Wirken. Alles Leben, es mag Gestalt haben welche es will, ist Arbeit.

Und doch das Beste und Schönste unseres Lebens ist nicht unser Werk sondern Gabe; wir schaffen es nicht, wir empfangen es. Ruhte nicht alles unser Wirken auf solchem Empfangen, zöge nicht unser Wirken und Schaffen Lebenskräfte aus dem, was wir empfangen, wir vermöchten nicht zu wirken so wie wir sollen. Wie wir die Kraft der Tagesarbeit aus der Ruhe der Nacht gewinnen, in welcher sich die verborgenen Quellen des Lebens öffnen und uns neue Kraft zuströmen; wie wir die Kraft des Wirkens aus der Stille und Einsamkeit schöpfen in welcher wir in die verborgenen Quellen unseres inneren Lebens eintauchen, so ist es in allen Stücken. Alles Wirken und Schaffen ruht in dem was wir unbewusst empfangen. Und wenn der Psalmist sagt: den Seinen gibt es der HErr im Schlaf, so will er eben dies damit aussprechen, dass das Beste und Nötigste uns zu Teil wird ohne unser Zutun.

Was vom natürlichen Leben gilt, das gilt auch von dem geistlichen. Auch dieses hat seine verborgenen Lebensquellen, aus denen uns die Kräfte des Lebens zuströmen, ohne die wir nichts vermögen. Wie die Perle der Tage der Sonntag ist, an dem wir ruhen sollen und empfangen, empfangen was Gott uns gibt, und ohne diesen Tag der Ruhe in Gott und des Nehmens von ihm auch der Arbeit der Werktage die rechte innere Kraft fehlen würde, so ist es auch ein vergebliches Ding, seine Seligkeit schaffen zu wollen mit eigener Arbeit und eigenen Werken, statt sie vom Werk Gottes in uns zu empfangen. Es liegt nicht an Jemandes Laufen und Rennen, sondern an Gottes Erbarmen. Und nachdem der Apostel jenes Wort gesprochen, dass wir unsere Seligkeit schaffen sollen, fügt er in auffallender Begründung hinzu: denn Gott ist es, der in euch wirkt beides - das Wollen und das Vollbringen - nach seinem Wohlgefallen - uns zu erinnern, dass das Leben in Gott und die Seligkeit hier und dort nicht unser Werk und die Arbeit unserer Wege ist, sondern die Gabe Gottes, und unser bestes Werk das ist, dass wir Gott in uns wirken lassen und ihm stille halten.

Das ist nicht eine Aufforderung zur Trägheit; vielmehr das ist eine Ermahnung zur Arbeit an uns selber. Denn wer sich kennt, der weiß es, wie schwer es uns wird stille zu halten, stille zu sein und auf eigenes Wollen und Wirken zu verzichten. Wir meinen immer, wir müssten es selbst Alles tun, und sind viel geneigter, Gottes Gnade und Vergebung uns erarbeiten zu wollen mit Mühen und Opfern, als sie uns frei schenken zu lassen und hinzunehmen, wie er sie uns gibt. Wir kommen nicht dazu Gott in uns wirken zu lassen, ohne, dass wir wider die Unruhe unserer eigenen Natur immer ankämpfen und das eigene Denken und Wollen stille stellen. Das ist das Beste was wir tun können, dass wir nicht selbst etwas tun wollen, sondern Gott tun lassen, nicht selbst wirken wollen, sondern Gott wirken lassen. Er hat sein Werk in seinen Kindern, er hat sein Werk in uns Allen. Lassen wir ihn sein Werk in uns ausrichten! Das ist es was unser heutiger Text uns nahe legt, indem er von dem guten Werke Gottes in uns redet.

Phil. 1,3-11.
Ich danke meinem Gott, so oft ich euer gedenke, welches ich allezeit tue in allem meinem Gebet für euch alle, und tue das Gebet mit Freuden über eurer Gemeinschaft am Evangelio, vom ersten Tage an bisher. Und bin desselbigen in guter Zuversicht, dass, der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird es auch vollführen bis an den Tag Jesu Christi. Wie es denn mir billig ist, dass ich dermaßen von euch halte; darum, dass ich euch in meinem Herzen habe in diesem meinem Gefängnis, darinnen ich das Evangelium verantworte und bekräftige, als die ihr alle mit mir der Gnade teilhaftig seid. Denn Gott ist mein Zeuge, wie mich nach euch allen verlangt von Herzensgrund in Jesu Christo. Und darum bete ich, dass eure Liebe je mehr und mehr reich werde in allerlei Erkenntnis und Erfahrung, dass ihr prüfen mögt, was das Beste sei; auf dass ihr seid lauter und unanstößig bis auf den Tag Jesu Christi, erfüllt mit Früchten der Gerechtigkeit, die durch Jesum Christum geschehen (in euch) zur Ehre und Lobe Gottes.

Das wichtigste Wort unseres Textes, um welches sich alles Andere bewegt ist dieses: „ich bin desselbigen in guter Zuversicht, dass der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird es auch vollführen bis an den Tag Jesu Christi.“ Betrachten wir denn

das gute Werk Gottes in uns,
seinen Anfang und seine Vollendung.

1.

Seinen Anfang zunächst. Der Apostel schreibt an seine Philipper, mit denen er in einer Gemeinschaft des Herzens und der Liebe stand wie mit keiner anderen Gemeinde. Seine Gemeinschaft mit ihnen aber ruhte auf ihrer Gemeinschaft am Evangelium, dass sie mit ihm eins geworden waren in dem Einen und Höchsten, was seine ganze Seele füllte. Durch seinen ganzen Brief geht der Ton der Freude hindurch. „Freut euch in dem HErrn allewege, und abermals sage ich: freut euch.“ Weshalb sie sich aber freuen sollen und weshalb er sich mit ihnen freut und seinen Brief damit beginnt, dass er Gott für sie dankt, das ist eben das, dass sie mit ihm eins geworden sind im Glauben und in der Liebe, dass sie Christen geworden sind, dass Gott sein Werk in ihnen begonnen hat. „Ich danke meinem Gott so oft ich eurer gedenke, welches ich allzeit tue in meinem Gebet für euch alle und tue das Gebet mit Freuden, über eurer Gemeinschaft am Evangelio vom ersten Tage an bisher. Und bin desselbigen in guter Zuversicht, dass der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird es auch vollführen bis an den Tag Jesu Christi.“

Was ist das gute Werk Gottes? Der Apostel benennt es, wenn er den Christen eine neue Kreatur nennt. Das will sagen: es ist durch Gottes Wirkung etwas in ihm vorgegangen, wodurch sowohl seine Stellung zu Gott als auch der innerste Grund seines Wesens selbst erneuert worden ist. Er hat eine innere Erfahrung gemacht, welche sein Dichten und Trachten, sein Denken und Wollen umgewandelt hat. Zwar äußerlich mag keine Veränderung zu bemerken sein. Ein Christ sieht nicht anders aus als ein Nichtchrist, er tut sein Tagewerk und erfüllt seine Pflichten im Haus und in der Gemeinde wie jeder andere auch, er hat seine Mängel und Schwächen, seine Tugenden und Fehler wie jeder andere; in der äußeren Erscheinung ist nicht viel Unterschied und soll auch nicht sein. Und doch nennt ihn der Apostel eine neue Kreatur. Das will sagen: es ist eine neue Seele in seinem Tun, es herrscht ein anderer Geist in seinem ganzen Wesen und Leben. Und das ist das Entscheidende: nicht das äußere Werk, sondern die innere Seele des Werks.

Der Apostel Johannes scheidet alle Menschen in Kinder Gottes und Kinder der Welt. Es wäre anmaßend und auch vergeblich, diesen Unterschied äußerlich nachweisen und sichtbare Grenzen ziehen zu wollen zwischen beiden Reichen. Und doch ist er vorhanden. Es ist wahr, die Grenzen sind flüssig, in unendlichen Abstufungen und Übergängen berühren sich beide Gebiete. Und doch müssen wir sagen: wer ein Kind Gottes geworden ist, hat aufgehört ein Kind der Welt zu sein; und wer nur ein Kind der Welt ist, der ist noch kein Kind Gottes. Der Unterschied ist vorhanden. Er ist auch für unser Bewusstsein vorhanden. In wem das gute Werk Gottes einen Anfang genommen und der neue Mensch Gottes eine Gestalt gewonnen hat, der weiß, dass damit etwas Neues in ihm eingetreten ist, dass seine Stellung zu Gott und sein Denken und Wollen anders geworden ist. Er weiß, dass Gott ihm ein gnädiger Vater und nicht mehr ein zürnender Richter ist, dass die Zukunft ihm nicht mehr ein Gegenstand der Furcht ist, sondern der Hoffnung, dass seine Gedanken über Gott, über die Bestimmung unseres Lebens, die ganze Denkweise über die Welt und ihre Dinge, über die Menschen und ihre Aufgaben, dass seine innersten Überzeugungen, dass die Beweggründe seines Handelns, dass die Triebkraft seines Willens, dass sein Herz selbst eine Umwandlung erfahren hat.

Zwar diese Umwandlung selbst, sie vollzieht sich in der Regel so allmählich, dass wir nicht viel davon bemerken. Es geht der Geist Gottes auf verborgenen Bahnen einher. Aber wenn wir weit auseinander liegende Zeiträume unseres Lebens mit einander vergleichen, so können wir diesen Unterschied von Sonst und Jetzt deutlich genug erkennen, um in uns selbst gewiss zu werden, dass es mit uns anders geworden ist als es vordem war. „Ich war ein wilder Reben, du hast mich gut gemacht.“

Weit zurück in unserem Leben liegen die Anfänge dieses Neuen, uns selbst, da wir sie erfuhren, unbewusst, aber jetzt wohl bewusst und erkennbar. Wenn wir das Bild unseres vergangenen Lebens uns vergegenwärtigen und die ganze innere Führung Gottes uns vor die Seele stellen, da tauchen eine Reihe von Erinnerungen in uns auf, in denen wir die Ansätze des Neuen erblicken. Lasst mich hierbei einen Augenblick verweilen. Es ist der schöne Vorzug der Jugend, wenigstens der edleren Jugend, dass das Gefühl der Sehnsucht nach einem schöneren und höheren Dasein, dass der Zug nach der fernen Höhe droben, dass die Verachtung der Eitelkeit dieser vergänglichen Welt in ihr in der Regel lebhafter ist als in dem kühler und erdhafter gewordenen Alter. Wer von uns erinnert sich nicht solcher Zeiten inneren Aufschwungs über das vergängliche Wesen dieses ganzen irdischen Daseins? Es ist der erste Flügelschlag der nach Gott verlangenden Seele. Wohl, es sind mehr nur Stimmungen als wirkliche Bestrebungen, vorübergehende Stimmungen, nicht eine bleibende Richtung der Seele; aber es sind doch Ansätze, aus denen allmählich etwas Neues und Ganzes in uns werden kann und soll. Und wie vieles Andere vereinigt sich mit diesen verborgenen Vorgängen unseres Seelenlebens! Mannigfache Erlebnisse, erhebende oder demütigende, die uns niederbeugten in den Staub, in Scham und Reue oder in Dankbarkeit, Eindrücke edler Menschen die unseren Lebensweg kreuzten, und deren Bild in unsere Seele fiel und ihr neuen Schwung verlieh nach dem Höchsten und Edelsten zu streben, ein Wort der Eltern, das uns in der Seele haften blieb, das Wort eines Lehrers oder Freundes, das uns im Innersten ergriff und bewegte, so manche unvergessliche Stunde unseres äußeren, unseres inneren Lebens das Alles sind einzelne Ansätze auf dem Weg, den Gott uns innerlich führte, Anfänge seines Werkes das er an unseren Seelen wirken wollte. In allem dem sind wir nicht Wirkende sondern Empfangende; Gott ist es, der in uns wirkt, und wir sollen nichts Anderes tun als, dass wir ihn wirken lassen und ihm stille halten inwendig.

Wollen wir aber den ersten Anfang aller dieser Einwirkungen Gottes auf uns aufsuchen und finden, so müssen wir auf unsere Taufe zurückgehen. Da fing das gute Werk Gott in uns an. Denn da hat uns Gott zu Gnaden angenommen und durch seinen Geist ein Band der Gemeinschaft zwischen ihm und uns geknüpft. Der Geist aber ist es, der da lebendig macht sagt der HErr. Von da an beginnt die lebendig- machende Wirksamkeit des Geistes Gottes an unseren Seelen. Wohl, das liegt jenseits unseres Bewusstseins. Wir haben nichts davon gewusst, wir haben nichts dazu getan als wir getauft wurden. Wir waren nur Empfangende, nicht Mittätige. Aber ist es deshalb etwa nichts? ist es deshalb von keiner Bedeutung für uns und etwa bloß eine äußere Form gewesen? Wie Vieles liegt jenseits unseres Bewusstseins! Sind nicht auch unsere Gaben und Kräfte des Geistes in uns vorhanden, ehe wir etwas davon wissen und dazu tun? Liegen nicht die Keime des Größten und Höchsten was ein hochbegabter Mensch ist und leistet, von vornherein in ihm, ehe er sie sich etwa erwerben und erarbeiten könnte? Wären sie nicht in ihm, sie kämen auch nicht zur Entfaltung. Zwar zur Entwicklung und Entfaltung kommen sie nicht ohne sein Zutun und ohne eigene Arbeit. Aber durch keine Arbeit können wir uns verschaffen, was uns Gott etwa von vornherein versagt hat. So ists auch hier. Nicht Alle, in welche Gott den Keim des neuen Lebens gelegt hat, bringen denselben zur Entfaltung. In Vielen erstirbt er. Aber in Keinem kommt er zur Entfaltung, der ihn nicht zuvor empfangen hat. „Was hast du das du nicht empfangen hast? So du es aber empfangen hast, was rühmst du dich als der es nicht empfangen hätte“ (1 Kor. 4,7)? Und wie viele Einwirkungen empfangen wir sonst noch, ohne, dass wir es wissen, unwillkürlich. Auch sittliche Einwirkungen, Einwirkungen welche in den innersten Grund unserer Seele hineingreifen und sich darin gleichsam ablagern, Einwirkungen von den Menschen die uns umgeben, Einwirkungen vom Geist Gottes, der mit unserer Seele in Zusammenhang steht, so, dass die Wurzeln nicht bloß unseres natürlichen, sondern auch unseres geistigen und unseres sittlichen Lebens weit jenseits der Grenzen unseres Bewusstseins liegen! Bis auf die Anfänge unseres Daseins, bis auf unsere Taufe müssen wir zurückgehen, um die Anfänge des guten Werkes Gottes und die Ansätze des Neuen in uns zu verfolgen.

Wohl dem der von jenem Tag, der von seiner Taufe an eine ununterbrochene Linie herabreichen sieht bis auf seine Gegenwart! Wohl dem der sich nicht sagen muss, dass er diese ersten Anfänge verwahrlost und die Einwirkungen des Geistes Gottes zu nichte gemacht hat durch seine Untreue und Leichtfertigkeit! Wohl dem von dem man sagen kann, dass er in der Taufgnade geblieben ist! Aber wie Wenige sind es von denen man dies sagen kann! Wir werden zum allergrößten Teil bekennen müssen, dass wir erst später wieder an jenen Anfang haben anknüpfen und zu ihm uns zurückwenden müssen. Denn zwar Gott hat uns nicht losgelassen, aber wir haben ihn losgelassen; er ist im Zusammenhang mit uns geblieben, aber wir haben den Zusammenhang mit ihm gelöst; er hat nicht aufgehört uns zu erinnern, aber wir haben nicht auf ihn geachtet bis es mit uns wieder anders wurde und wir wieder anfingen ihn zu suchen und ihn gefunden haben. Aber wie Viele kommen nicht wieder dazu ihn zu suchen und zu finden!

Uns Alle berührt es wehmütig, wenn wir im Frühling einen Baum sehen voll reicher Blüten, in welche der Frost gefallen ist und sie geknickt hat. Nicht lange mehr währt es, so werden sie schwarz und fallen zu Boden, und traurig sehen wir so viele Hoffnungen der Zukunft vernichtet. Das Bild wie vieler Menschen habe ich damit gezeichnet! Wie viele sind es, in denen Gott einen Anfang gemacht, die vielleicht selbst auch einen Anfang gemacht, und sind dann in Sünde und Schande gesunken, verdorben und verloren! Sie haben Zeiten eines höheren Sinnes und edlen Strebens gehabt, und sind dann gemein geworden, wenigstens in ihren Gedanken gemein geworden. Sie haben den Glauben ihrer Jugend verloren, und was sie an seine Stelle gesetzt haben gibt ihnen keinen Ersatz dafür. Sie haben den Glauben an Gott und an sich selbst verloren und ihre Gedanken gehen nicht weiter als ihre Sinne reichen. Das ist ihr Glaube, das ist ihre Religion geworden eine traurige Religion! Und von den Gedanken führt der Weg ins Leben. Aber wenn die Gedanken nicht weiter gehen als die Welt der fünf Sinne reicht, wo soll das Leben sittlichen Adel und sittliche Kraft hernehmen? Das Ende ist dann die Verwüstung. Und wie Viele gibt es von denen wir sagen müssen: sie sind verwüstet! Es war ein schöner Anfang in ihnen, es ist ein edler Kern in ihnen aber er ist verwüstet. Wie oft geschieht es uns, dass wir auf einem Antlitz die traurige Geschichte der Seele lesen, die Geschichte ihrer Verwüstung! Und sie sind doch auch getauft, sie sind auch konfirmiert, sie haben auch ihre Stunden der Erhebung und der frommen Stimmungen gehabt, Gott hat sein Werk an ihren Seelen gehabt und wie viele Jahre nach der Konfirmation waren nötig um das Alles auszulöschen aus ihren Seelen! O Geliebte, wenn man sich in diese Gedanken versenkt, wenn man diesen ganzen großen Jammer der Seelen, besonders der jugendlichen Seelen mit Ernst betrachtet und in sein Herz aufnimmt, es kann Einem so tief traurig zu Mute werden, dass es Einem ist als könnte man nie wieder fröhlich sein.

Aber Geliebte! Haben wir nicht Alle mehr oder minder etwas davon erfahren? Ist's nicht ein Stück unserer eigenen Geschichte? Zwar vor schwerer Sünde und Schande hat uns Gottes gnädige Hand wohl bewahrt - aber ist unser Leben, ist unsere Entwicklung wirklich die Entfaltung jener Keime gewesen, die Gott am Anfang in uns gelegt hat? Müssen wir nicht sagen: wenn es so fortgegangen wäre mit uns wie es war, wir wären unglückliche, unselige Menschen geworden? Wenn es mit uns anders geworden ist als es war, wenn wir Gott sei Dank sagen dürfen: ich weiß, dass mein Erlöser lebt, auch mein Erlöser; ich weiß an wen ich glaube; ich bin bei Gott in Gnaden und in dem Himmel ist mein Teil es ist Gottes Barmherzigkeit allein, dass wir so sprechen dürfen; es ist das Wort von der ewigen Erbarmung Gottes, es ist die Gnade Gottes in Jesu Christo, es ist die unendliche Liebe des Heilands, es ist die Verkündigung der Liebe die für uns gestorben ist, was uns Verirrte zurückrief, was unsere Herzen überwand und zu Gott zurückführte in Scham und Reue und in Glaube und Liebe an ihn band - Gott gebe es: auf immer; es ist das Evangelium. Dies ist die siegreiche Macht, Gottlob die siegreiche Macht auch unseres Lebens geworden. „Ich danke meinem Gott so oft ich eurer gedenke über eurer Gemeinschaft am Evangelio, vom ersten Tage an bisher.“ Damit ist das gute Werk Gottes in uns zu Bestand und Wirkung gekommen. Das ist sein Anfang. Und nun seine Vollendung?

2.

Betrachten wir die Vollendung des guten Werkes Gottes in uns! „Ich bin desselbigen in guter Zuversicht, dass der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird es auch vollführen bis an den Tag Jesu Christi.“

Gott ist es der in uns beides wirkt, das Wollen und das Vollbringen. Aber er wirkt es in unserem Wollen und in unserem Wirken. Und wenn auch der Anfang des neuen Lebens sein ausschließliches Werk ist, der Fortgang desselben geschieht nicht ohne unsere Arbeit. Es ist sein Werk, aber durch uns selbst will er sein Werk üben. Und dies Werk heißt: Vollendung!

Das Gesetz alles Lebens heißt: Werden. Was wir sind, das sind wir nur indem wir es stets werden. Was wir besitzen, besitzen wir nur indem wir es stets erwerben. Alles Haben ist ein Erarbeiten, aller Besitz ist ein Erwerben. Äußere Güter kann man besitzen ohne sie zu erwerben. Güter des Geistes besitzt man nur indem man sich stets um sie bemüht. Vollends für das geistliche Leben, für den Christen ist dies ein Grundgesetz. Denn das Christenleben ist ein Werden, nicht ein Gewordensein. Auch die größten Helden des Glaubens, sie waren Werdende so lange sie lebten, wie wir Kinder eines geringeren Geschlechts. „Nicht, dass ichs schon ergriffen hätte oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, dass ich es ergreifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin.“ Und wie alles Leben, so geht auch dieses Werden durch den Kampf der Gegensätze hindurch, durch den Kampf der Gegensätze in uns selber. Denn das Alte und das Neue in uns, Natur und Gnade, sie werden im Widerstreit bleiben in uns, und wir werden mit diesem Kampf nicht fertig werden, so lange wir leben. Dies ist der Weg den wir zu gehen haben der Vollendung entgegen.

Was uns aber fördert auf diesem Wege zur Vollendung, das ist die Gemeinschaft. Da der Apostel seine Leser, die Christen von Philippi, weiter führen wollte und ihnen durch seinen Brief selbst einen Dienst in ihrer geistlichen Entwicklung und ihrem inneren Lebensstand leisten wollte, da lässt er sie einen Blick in sein Herz tun. Von der inneren Gemeinschaft in der er mit ihnen steht, von der Gemeinschaft des Geistes und Herzens, die sie mit einander verbindet, von der Gemeinschaft am Evangelio, die alle Christen zu einem großen Bunde zusammenschließt, spricht er zu ihnen. Er sagt ihnen wie er sie auf dem Herzen trage, in Dank und Fürbitte, auch in seinem Gefängnis auf dem Herzen trage und in herzlicher Liebe nach ihnen verlange und im Geist Sorge trage, dass sie bewahrt bleiben und vorwärts kommen in ihrem inneren Leben und unanstößig erfunden werden bis auf den Tag Jesu Christi. Das bezeugt er ihnen mit vielen warmen, herzlichen Worten: damit sie durch dieses Bewusstsein der Christengemeinschaft, in der sie stehen, der Gemeinschaft des Gebets, der Liebe, des Geistes, des Evangeliums, bewahrt, gestärkt und gefördert werden.

Geliebte! Da wir getauft wurden, da wir durch das Wort von der Gnade von unseren Irrwegen zu Gott zurückgeführt wurden, da traten wir ein in jenen großen, weiten, reichen Bund der Seelen, der über den Himmel und die Erde sich erstreckt und zum verbindenden Mittelpunkt Jesum Christum hat, den Heiland der Seelen, das Licht unseres Lebens, die Sonne der Geister. Unsichtbar gehen von ihm aus die Bande der Gemeinschaft, die in Einem Glauben, Einer Liebe und Einer Hoffnung alle die verbinden, welche ihn als ihren Herrn zu bekennen und ihre Knie in seinem Namen zu beugen gelernt haben. Was die Welt je an Kindern Gottes und an Großen seines Reiches gehabt, die jetzt noch kämpfen und ringen auf Erden und die dort schon vollendet seinen Thron umgeben, sie Alle bilden Eine große Gemeinschaft der Auserwählten, die Eine Gemeinde Jesu Christi, das Volk Gottes. Diesem Volk Gottes gehören wir Alle an, so viele unserer Jesum Christum von Herzen ihren Heiland nennen.

Es gibt nichts was so schmerzlich auf dem trauernden Herzen lastet, oder die müde Kraft im Kampf so sehr lähmt, oder die Seele des Verirrten so ängstlich beunruhigt, als das Bewusstsein allein zu stehen mit seinem Schmerz, in seinem Kampf, auf seinem Weg. Aber in Gemeinschaft sich zu wissen, das hebt, das trägt, das schützt und stützt auch die schwächste Kraft. Es ist die größte Gemeinschaft die es gibt, der reichste, seligste Bund der Seelen den Erde und Himmel kennen, in welchen wir aufgenommen worden sind durch unsere Taufe, in welchem wir stehen durch unsere Gemeinschaft am Evangelio. In Dank und Bitte gehen die Gedanken des Geistesverkehrs hier hin und wieder und helfen uns vorwärts auf dem Wege zur Vollendung.

Zur Vollendung in Erkenntnis und Leben. „Darum bete ich, dass eure Liebe je mehr und mehr reich werde in allerlei Erkenntnis und Erfahrung, dass ihr prüfen mögt was das Beste sei, auf, dass ihr seid lauter und unanstößig bis auf den Tag Christi, erfüllt mit Früchten der Gerechtigkeit, die durch Jesum Christum geschehen zur Ehre und Lobe Gottes.“ Die Erkenntnis nennt der Apostel zuerst; aber nicht eine Erkenntnis bloß des Kopfes, sondern der Erfahrung, eine Erkenntnis die aus dem Leben erwächst und dem Leben dient. Aber allerdings eine Erkenntnis. Denn es soll das neue Werk Gottes in uns eine Sache des ganzen Menschen werden, auch unserer Gedanken, damit wir nicht urteilslos den wechselnden Meinungen der Zeit zur Beute fallen und vor den Götzen des Tages uns beugen, sondern sicher und fest unsere Wege gehen, das Eine Ziel im Auge, das unsere Hoffnung bildet. Diese Hoffnung aber ist der Tag Jesu Christi, welcher die Wirrsal dieser Welt entwirren und die Vermengung von Wahrheit und Lüge, von Licht und Finsternis, von gut und böse scheiden und der guten Sache des Volkes Gottes zum Recht verhelfen und sein Reich zum Siege führen wird. Das ist unsere Hoffnung. Unser Leben hat ein Ziel, ein Ziel der Hoffnung, welches jenseits unseres Todes liegt. Es ist das Ziel des ganzen Weltlaufs das wir hoffen, die Vollendung aller derer in denen Gott sein gutes Werk begonnen, die Vollendung der Gemeinde Jesu Christi, des Reiches Gottes. Diesem Ziel führt uns Gott entgegen. Nicht wir schaffen die Vollendung, Gott schafft sie; nicht wir führen den seligen Abschluss aller Dinge herbei, Gottes Werk ist es; sein Werk auch, dass wir das Ziel erreichen das wir hoffen. Ein Jeglicher aber der solche Hoffnung hat zu ihm, der reinigt sich gleichwie er auch rein ist. Trösten wir uns solcher Hoffnung der Vollendung, so lasst uns denn Sorge tragen, dass wir seien lauter und unanstößig bis auf den Tag Christi, erfüllt mit Früchten der Gerechtigkeit die durch Jesum Christum geschehen zur Ehre und Lobe Gottes! Der aber der in uns angefangen hat das gute Werk, der wird es auch vollführen! Amen.

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