Lobstein, Friedrich - Die christlichen Festtage in zwanzig Betrachtungen - Zweites Fest. Das Weihnachtsfest. - II. Simeon.
Und siehe, ein Mensch war zu Jerusalem, mit Namen Simeon, und derselbe Mensch war fromm und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israel, und der heilige Geist war in ihm. Und ihm war eine Antwort worden von dem heiligen Geist, er sollte den Tod nicht sehen, er hätte denn zuvor den Christ des Herrn gesehen. Und kam auf Anregen des Geistes in den Tempel. Und da die Eltern das Kind Jesum in den Tempel brachten, dass sie für ihn täten, wie man pfleget nach dem Gesetz; Da nahm er ihn auf seine Arme und lobte Gott und sprach: Herr, nun lässt du deinen Diener im Frieden fahren, wie du gesagt hast; Denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen.
Welche Zeit der Zerrissenheit war nicht diejenige, in welcher der Heiland erschien! Im Innersten unglücklich, mehr als durch den äußeren Verlust ihrer Nationalität, glich die jüdische Nation kaum mehr dem Volke Gottes. Wie ein Aas, um das sich die Adler sammeln, war Israel die Beute des ersten Besten geworden, und diejenigen, welche sich zu Helfern anboten, waren nur nichtige Helfer. Was konnten die Pharisäer tun mit ihren menschlichen Satzungen und ihrem Sauerteig der Heuchelei? Sie beluden die Menschen mit unerträglichen Lasten und sie selbst rührten sie mit keinem Finger an. Oder was konnten die Sadduzäer mit ihrem Materialismus und Unglauben geben? Ist nicht eine Religion, die nur für dieses Leben ist und die Auferstehung leugnet, das Erbärmlichste für alle Menschen? Oder zu welchem Ziel führten diejenigen, welche die bewegliche Masse aufwiegelten und sie nach einer äußerlichen Freiheit streben ließen, ohne sie von der Sünde zu befreien, welche von allen Ketten die stärkste ist? Jedoch in solchen Zeiten erwachen die Bedürfnisse. Wenn das Herz nichts mehr hat, muss es wohl nach etwas suchen. Und in Israel war noch ein heiliger Same, welchen die Flut von Übeln nicht erstickt hatte. Simeon ist einer der Namen, welchen die Evangelien uns nennen und bei welchen man gerne stehen bleibt. Fromm und gottesfürchtig, inmitten einer widerspenstigen Nation, erwartete er den Trost Israels, und der heilige Geist war in ihm. Das Herz auf die Verheißungen Gottes gerichtet, ohne auf das Sichtbare zu schauen, geht er stille seinen Weg und seine Hoffnung wie diejenige der Gerechten war ihm Freude. Und ihm war eine Antwort geworden von dem heiligen Geist, er sollte den Tod nicht sehen, er hätte denn zuvor den Christ gesehen. Und am Ende seines Lebens widerfuhr Simeon dieses Glück. Er durfte es noch sehen und in seine Arme nehmen, das Christkind, auf welches alle seine Hoffnungen sich richteten. Simeon verlangt nichts weiter, denn Höheres als Jesum gibt es nicht. Er segnet das Kindlein und ruft aus: Herr, nun lässt du deinen Diener im Frieden fahren, wie du gesagt hast, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen. Wir wollen der Geschichte Simeons eine allgemeinere Bedeutung geben. Simeon ist ein Mensch, der aus dem alten Bund in den neuen tritt, und es gibt Seelen, welche Gott immer noch also führt. Es gibt Christen, deren geistliche Richtung immer noch mehr dem alten Bunde angehört, die noch nicht in die Welt der Gnade eingetreten sind. Sie sind fromm und gottesfürchtig, aber sie können nicht sagen: Ich habe den Heiland gefunden, Jesus Christus lebt in mir. Das wahre Christfest ist für sie noch nicht angebrochen, denn das wahre Christfest ist die Besitznahme Jesu Christi oder die geistliche Wiedergeburt. Es sind suchende Seelen, welche streng sind gegen sich selbst, aber welche oft erst sehr spät die wahre evangelische Freude finden. Diese geistliche Richtung wollen wir verfolgen und sie wird den Gegenstand unserer Betrachtung abgeben.
Simeon hatte schon einige Gnadenelemente, aber das Eine, was Not tut, fehlte ihm; erst am Ende seines Lebens findet er es. Simeon war fromm und gottesfürchtig, und das scheint Vielen zu genügen; braucht man noch etwas mehr, um selig zu werden? Eine tadellose Aufführung, die Erfüllung seiner religiösen Pflichten, heißt das nicht, das Leben verstehen, und, wenn man stirbt, geraden Wegs in den Himmel eingehen? Eine solche Religion ist das Ideal der Mehrzahl; und wahrhaftig, wenn der Mensch sich selber erlösen könnte, hätte Simeon einen der ersten Plätze im Himmel eingenommen. Aber wir sehen, dass Simeon noch etwas Anderes suchte, was uns beweist, dass er nicht Alles hatte. Er wartete auf den Trost Israels, nicht auf einen Trost, sondern auf denjenigen, welcher es vor Allen ist, welcher alle Tröstungen einschließt. Seine Religion war demnach ohne den rechten Trost; seine Frömmigkeit und Gottesfurcht zeigten ihm nur die Lücke, welche in seinem Herzen nicht ausgefüllt war. Wir wollen uns einen andern Menschen zurückrufen, dessen religiöse Richtung wir der des Simeon vergleichen können, den Kriegshauptmann Cornelius nämlich: er auch war fromm und gottesfürchtig, samt seinem ganzen Hause, und gab dem Volke viele Almosen, und betete immer zu Gott. Wenn Cornelius die wahre Religion gehabt hätte, wenn seine Seele ruhig gewesen wäre, warum hätte er Petrum bemüht und ihn zu sich kommen lassen, um von ihm den Weg zum Himmel zu erfahren? Weil Niemand, ehe er Jesum Christum gefunden hat, selig ist. Nun aber gibt es eine zweifache Frömmigkeit und zweifache Gottesfurcht: die eine entfremdet von Jesu Christo, die andere führt zu ihm. Eine pharisäische Gerechtigkeit, welche sich selbst genügt, wird nie mit dem Erlöser der Sünder in Berührung bringen; ebenso macht eine knechtische Furcht, welche Gott nur dient, um sich einer Pflicht zu entledigen, gleich unfähig zum Glauben und zur Wiedergeburt. So war die Gerechtigkeit und Gottesfurcht Simeons nicht. Seine Gerechtigkeit war ein treues Beobachten des Sittengesetzes und seine Gottesfurcht ein heiliges Wachen, um nicht zu sündigen. Wer diesen Weg betritt, wird den Erlöser finden. Das Sittengesetz ist der Führer zu Christo. Es zeigt uns unsere Ohnmacht, unsere Knechtschaft unter das Böse, und macht auf diese Weise nach einem Erlöser seufzen. Ein offenes Auge auf uns selbst und ein heiliges Missfallen vor jeder Beleidigung Gottes erhält uns ebenso auf dem geraden Wege und bereitet uns auf Jesum Christum vor. Simeon erwartet den Trost Israels. Es gibt Augenblicke, wo eine Seele, obgleich gottesfürchtig und aufrichtig, traurig und ohne wahren Trost ist. Der Haupttrost ist die Versicherung unserer Sündenvergebung, und nur Jesus Christus, wenn er lebendig in uns ist, kann uns so trösten. Dieser Trost fehlte dem Simeon, und das Warten darauf entlockte ihm manchen Seufzer. Er war nicht im Besitz der freien Gnade, der freudigen Gewissheit, dass Allez vollbracht sei für einen armen Sünder, dass unser Lösegeld, unsere Gerechtigkeit Jesus Christus allein ist. So lange man diese Versicherung nicht hat, ist man noch unter dem alten Bund, und die Herrschaft der Gesetzlichkeit ängstigt; die Gnade allein tröstet und erfreut. Simeon kann das Kommen der Gnade nicht beschleunigen; er erwartet es in der Stille, und stützt sich während des Erwartens auf die Verheißungen Gottes. Diesen Rat kann man gewissen Seelen geben, welche, obgleich erweckt, noch nicht ihre Weihnachten feiern können. Es gibt Charaktere, welche von Natur furchtsam und schüchtern sind, und diese Schüchternheit des Temperaments bringt man auch oft in die Beziehungen mit Gott. Nicht als ob diese Furcht eine knechtische Furcht sei, aber sie hält immer das Vertrauen und die Hingebung auf. Man wagt nicht zu viel von Gott zu erwarten, man hat so wenig, ja nichts, ihm darzubringen. Nicht als ob man das Heil erkaufen wollte, aber man will seinen Anteil zur Förderung der Ehre Gottes leisten, anstatt gleich von Anfang an der Gnade sein ganzes Herz zu öffnen. Man will schaffen, anstatt zu empfangen, geben, anstatt anzunehmen, und diese geistige Unruhe lässt es zu keiner Festigkeit bei uns kommen, und bringt immer in eine Art von Angst. Liebe Seele, die du dich also quälst, halte dich ruhiger und gesammelter vor Gott. Durch Stillesein und Harren werdet ihr stark sein. Präge dir wohl ein, dass du geliebt bist, und dass dieser Grund in Gott fest bleibe. Verhalte dich leidender, so wirst du später desto tätiger und schaffender sein. Stütze dich wie Simeon auf die Verheißungen des Wortes; so lange in dir ein Wirken des Geistes ist, ist es ein gutes Zeichen; höre auf diese innere Warnung, und dieser gute Geist wird dich auf dem geraden Wege leiten, deine Stunde wird auch kommen, wo du aus dem alten Bunde in den neuen übergehen wirst. Gott hat immer Liebesabsichten dabei, wenn er die Seelen in diesem Zustand des Harrens lässt. Das ist wahr, hauptsächlich wenn es sich um das Harren auf die evangelische Freude handelt. Man sieht Christen, welche schon längere Zeit erweckt sind, und welche sich unaufhörlich beklagen, dass ihr Christentum ihnen keine Freudigkeit bringe. Sie sind so tot, so trocken und so kalt, dass sie immer eine Welt voll Elend mit sich schleppen, und dieser Zustand ändert sich nicht. So hört man sie oft klagen: aber sind wir fähig, uns selbst zu richten? Oft glaubt man sich von einer wahren Liebe zu Christo beseelt, und diese Liebe ist nur ein Kitzel der Eitelkeit; ein andermal wieder stößt man einen Seufzer nach dem andern aus, und auf dem Grund jenes Elends ist ein unaussprechlicher Friede. Willst du den Beweis davon? Frage die, welche sich immer beklagen, dass sie keine Freudigkeit haben. Würdet ihr euren jetzigen Zustand gegen eure alte Lebensweise vertauschen? Ohne einen Augenblick Besinnens werden sie dir mit „nein“ antworten. Dies allein beweist, dass etwas im Herzen ist, was wohl einige Tränen wert ist, und was man nicht für alle Schätze Ägyptens geben würde. Auf diese Weise erhält uns Gott in der Demut. So lange man so viel mit sich selbst zu tun hat, hat man weniger Zeit, sich über Andere zu erheben. Man fühlt zu sehr den Balken im eigenen Auge, um den Splitter aus des Bruders Auge zu nehmen. Wären wir zu früh oder zu oft der Freude teilhaftig, so verfielen wir in Heftigkeit und gewännen nicht an Tiefe des innern Lebens. Weder Erfolge, noch Genüsse reifen die Seele in Jesu Christo, sondern das Vermissen, das Erwarten, das Suchen im Gebet. Dies sind eben so viele Schutzmittel gegen den Hochmut und später werden wir danken, wenn diese Zustände ihre Früchte getragen haben. Was Simeon aufrecht hielt während der langen Dauer seines Suchens, war, dass der heilige Geist auf ihm war und ihm Antwort gab. Wir wollen uns unter die Zucht dieses Geistes stellen und ihm unsere natürlichen Segnungen unterwerfen. Wenn die große Freude, die allem Volke widerfahren ist, zögert, so wollen wir sie erwarten, sie wird gewisslich kommen und nicht ausbleiben.
Wir haben in Russland eine junge Person gekannt, deren Tod uns immer gegenwärtig sein wird. Mau erlaube uns diese Abschweifung, sie passt für unsern Gegenstand. Dieselbe genoss den Religionsunterricht, während welchem ihre Seele erweckt wurde. Aber diese Erweckung war erst eine Mischung von Liebe und Furcht. Was ihr fehlte, war das freie Eingehen in die Gnade. Man sah ein Leben, welches sich sichtlich erneute, welches aber noch kein glückliches Leben war. Diese arme Tochter war auf der Schwelle des neuen Bundes, konnte aber aus einer gewissen Unruhe nicht hinauskommen. Sie hatte, was man ihr vom Gebet und von der Gewissensprüfung gesagt hatte, falsch aufgefasst, denn sie fing an, sich nicht mehr vor Mitternacht zur Ruhe zu legen. Wenn sie allein war, durchging sie ihre leisesten Gedanken und konnte nie mit dieser innern Arbeit fertig werden. Ebenso machte sie es mit dem Gebet, wie am Abend so am Morgen. Sie hatte sich eine Liste von Dingen und Namen gemacht, und erschien nicht, bevor sie ihre Liste vollendet hatte. Unterdessen schwanden die Stunden dahin, und andere Beschäftigungen blieben liegen. Ihre Eltern wurden unruhig, und schon sagte die Welt, die Frömmigkeit habe ihr den Kopf verdreht. Man wandte alle Mittel an, um dieser Strenge Einhalt zu tun; aber das Werk war schon zu sehr vorgerückt; menschliche Einwirkung bewirkt in diesem Falle nur das Gegenteil. Einige Zeit nachher wird der Vater dieser jungen Person in Geschäftssachen nach England berufen. Er will diese Reise in Gesellschaft seiner Tochter machen; dies wird sie zerstreuen, denkt er, und sie auf den Weg der Vernunft zurückbringen. Sie reisen mit einander ab und kommen nach 7-8 Monaten wieder zurück. Aber kaum zurück, trifft den Vater ein Lungenschlag und raubt ihn seiner trostlosen Familie. Dieses Unglück erschüttert auch die Gesundheit des Mädchens. Sie war wieder frisch geworden, aber ohne im Grund verändert zu sein. Seit dem Tod des Vaters sah man sie schnell abnehmen. Eine Lungenkrankheit zeigte sich, und die Symptome schritten mit einer solchen Schnelligkeit vor, dass dieser von Gesundheit strahlende jugendliche Körper bald nur noch ein Skelett war. Wir verfolgten mit Aufmerksamkeit die Arbeit der Gnade an ihr, aber die Freude der Erlösung drang noch nicht in diese allen ihren Bekannten so teure Seele. Sie glaubte an Jesus Christus, aber sie hatte ihn sich noch nicht angeeignet. Sie wiederholte sich die Verheißungen Gottes, aber sie konnte sie nicht auf sich anwenden. Gewissenhaft, ängstlich, selbst in Kleinigkeiten, war sie erfinderisch, sich zu quälen, anstatt jählings in das Reich der freien Gnade sich zu stürzen. Indessen nahmen ihre Kräfte von Tag zu Tag ab, und die Welt gab sie für ein Opfer der Frömmigkeit aus. Wir beteten mit ihr und für sie und baten vornehmlich Gott, er möchte ihr vor ihrer Abberufung ein freudiges Zeugnis ihres Glaubens geben, damit die Welt nicht sagen könne, dass die Religion die Freude töte und nur zu Kasteiungen treibe. Diese Gebete wurden überschwänglich erhört, aber erst in der letzten Stunde. Es war am Morgen, als die Mutter zu der Kranken eintrat. Alles war in ihr verändert. Eine himmlische Freudigkeit ersetzte die Traurigkeit, die sonst aus ihren Zügen sprach. O, meine Mutter! rief sie aus, ich habe eine goldene Nacht gehabt, jetzt bin ich glücklich, ich bin selig. Heute werde ich sterben; weine nicht, wir werden uns wiedersehen; mein Herz ist erfüllt von Freude. Das war endlich die Christfreude, die so lange auf sich hatte warten lassen. Einige Augenblicke nachher will eine Freundin des Hauses, eine rechte Weltdame, die Sterbende noch sehen. Sie wird empfangen. Kommen Sie, sagte die Kranke, Sie haben mich oft traurig gesehen, aber jetzt sehen Sie mich sehr glücklich. Auch vorher hatte ich viel freudige Stunden, aber ich habe es nicht gezeigt. Ich sterbe und Sie auch, denken Sie an Ihr Seelenheil. Hinken Sie nicht auf beiden Seiten; entscheiden Sie sich. Welch' ein Glück, Jesu anzugehören! Ja, Herr, ich gehöre dir an und du lässt mich im Frieden scheiden, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen. Und ohne Kampf und ohne Leiden entfloh ihre Seele. Wir blieben an diesem Bette, das Herz erfüllt mit Dankbarkeit, und ohne den Tod und seine Schrecken zu schauen. Unsere Seele wäre gerne dieser jungen siegenden Seele nachgefolgt, und wir lasen den Psalm 118, bekennend, dass die Rechte des Herrn den Sieg behält.
So lässt der Herr auf sich warten; aber unsere Beilage ist in seinen Händen. Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen? Jesus wird noch weniger die vergessen, die die Arme nach ihm ausstrecken. Was war das lange Warten Simeons im Vergleich zu dem, was ihm vorbehalten war am Ende? Wir, die wir uns heute noch nicht freuen können, wollen ruhig in der Erwartung dieser Freude leben. Geduld und Hingebung, unser Christfest wird erscheinen. Der Stab des Treibers wird uns köstliche Erfahrungen machen lassen; er wird uns selbst entäußern und für Christum heranreifen lassen. Wir wollen im Glauben wandeln und auf den Trost Israels warten.
Haben wir das Unterpfand des Geistes, so haben wir auch die Hoffnung der Herrlichkeit. Wir sind von nun an Gottes Kinder, und ist noch nicht erschienen, was wir sein werden; wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, dass wir ihm gleich sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.