Lobstein, Johann Friedrich - Klippen auf dem Heilsweg - I. Der Geblendete.

Lobstein, Johann Friedrich - Klippen auf dem Heilsweg - I. Der Geblendete.

Matth. 17, 1-8.

Und nach sechs Tagen nahm Jesus zu sich Petrum und Jakobum und Johannem, seinen Bruder, und führte sie beiseits auf einen hohen Berg. Und ward verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß als ein Licht. Und siehe, da erschienen ihnen Moses und Elias, die redeten mit ihm. Petrus aber antwortete und sprach zu Jesu: Herr, hier ist gut sein; willst du, so wollen wir hier drei Hütten machen, dir eine, Mosi eine, und Elia eine. Da er noch also redete, siehe, da überschattete sie eine lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören. Da das die Jünger hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und erschraken sehr. Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: Steht auf und fürchtet euch nicht. Da sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand, denn Jesum allein.

Es leidet unsere menschliche Natur an einem doppelten Fehler; bald sehen wir Alles im schlimmsten, bald im schönsten Licht. Selten sehen wir die Dinge, wie sie sind. Es erzählt uns das Altertum von zwei Weltweisen, von welchen der Eine immer weinte, der Andere immer lachte.

Diese zwei Philosophen existieren noch. Du findest den Einen bei einer gewissen Art von Leuten, welche immer klagen. Du fragst nach ihrem Befinden, nie steht's gut mit demselben. Du fragst nach ihren Geschäften, nie wollen sie gedeihen. Immer gibt es irgend etwas, das ihnen missfällig, das ihnen ungenügend ist. Bei Andern ist's das Gegenteil. Da begegnest du dem Philosophen, der immer lachte: ein Nichts blendet solche Personen. Sind sie krank, so ist ein Wörtlein des Arztes hinreichend, sie mit Hoffnung zu erfüllen. Gehen ihre Geschäfte schlecht, so brauchst du ihnen nur irgend ein vorteilhaftes Unternehmen vorzuschlagen und schon sehen sie ihr Glück gemacht. Sind sie traurig, so gibt ihnen die Aussicht des geringsten Vergnügens ihre vorige Freude wieder. Sie sind immer unter dem Eindruck des Augenblicks; ihr Feuer erlischt so schnell als es entbrennt. Dieser zweiten Art von Charakteren begegnen wir auch im christlichen Leben. Es gibt viele Christen, welche sich leicht blenden lassen. Es sind solche, welche eine lebendige Einbildungskraft und zu wenig Nüchternheit haben. Diese Gemütsverfassung wollen wir zum Gegenstand unserer Betrachtung nehmen. Wir haben die Verklärung Jesu Christi vor uns. Dieser Geschichte können wir eine allgemeinere Anwendung geben. Wie die Jünger des Heilandes von der Herrlichkeit ihres Meisters, die sie vor sich sehen, geblendet sind, so erscheinen auch Himmel und Erde manchen Christen in ihrem Leben in einem höheren Glanze. Es sind auch Verklärungen, welche aber nicht von Dauer sind. Petrus will auf dem Tabor Hütten machen; aber das helle Licht, das ihn umgibt, schwindet wieder. Der verklärte Christus wird wieder ein bloßer Mensch, die zwei himmlischen Gestalten entweichen und die Jünger müssen wieder den Berg herabsteigen und ihre Netze aufs Neue zur Hand nehmen.

Im Christenleben gibt es ähnliche Zeiten. Wir können diese Zeiten Tage der Blendung nennen. Es gibt deren mehrere Arten. Wir heben drei derselben hervor. Wir können von den Umständen, wir können von den Menschen, wir können von den innern Erlebnissen geblendet werden. Beschauen wir uns diese drei Arten näher.

Es treffen oft in unserm Leben die Umstände auf eine so glückliche Art zusammen, dass wir davon wie geblendet werden. Wir haben eine glückliche Nachricht erhalten, und unser gewöhnliches Leben wird dadurch gleichsam verklärt. Wir sind von einer Befürchtung befreit worden, da ist uns plötzlich, als ob alle unsere Wünsche erfüllt wären. Wir haben einen Erfolg gehabt, der vielleicht unsere Lage verbessert und nun sind wir in Freude und Jubel. Ein Geringes verklärt oft unser Leben! Oft sind es nicht einmal wirkliche Dinge, die uns blenden; es sind bloße Gedanken. Man erbaut sich einen Tabor aus lauter Hoffnungen. Gewöhnlich lösen sich diese, eine nach der andern auf. Wird man vernünftiger, wird man nüchterner dadurch? Neue Blendungen werden die früheren ersetzen. Berge von Plänen, Kombinationen, Erwartungen träumt man sich vor. Nie sieht man das Leben in seinem wahren Schein; immer siegen die Vorspiegelungen der Einbildungskraft über die Wirklichkeit. Nach allen erfahrenen Enttäuschungen findet man sich wieder auf dem Tabor ein; man sieht schon die Hütten zugerichtet. So blenden uns die Umstände.

Nun sind zwei Fälle möglich: entweder entgehen uns die schönen Dinge, welche wir vor uns sehen, oder es fallen uns in der Tat die erhofften Güter zu.

Ich nehme den ersten Fall an. Ein Glück war uns nahe, das nun dahin ist. Unsere Aussichten täuschten uns, wir berechneten, wir urteilten falsch, und von den Höhen der Poesie fallen wir in die Prosa zurück. Wie ist da die Lage zuwider, in welcher man fortleben muss! Wie grübelt man über Verlust und Niederlage! Aber anstatt sich nach bleibenden Gütern umzusehen, bleibt man, was man ist. Man klärt sich nicht im geringsten über sich selbst auf. Man will nur genießen, und darum findet man die Wahrheit nicht. Man verabscheut jede Selbstverleugnung, die Ertötung des alten Menschen, oder ein schweigendes Harren in der Nähe des Herrn. Man will ein freudestrahlendes Christentum und Berge, wo nur Milch und Honig fließt. Aber wer in dieser Richtung verbleibt, der kommt nicht nur nicht vorwärts, sehr oft endet er im Fleisch, was er im Geist begonnen.

Ist man glücklicher, wenn der andere Fall eintrifft? Ihr seht vor euch ein herrliches Glück, und dieses Glück fällt euch zu. Ihr könnt es betasten und euer Herz damit sättigen. Seid ihr befriedigt? Ihr wähntet ein wirkliches Gut zu gewinnen, ihr habt nur ein Scheingut. Näher besehen sind all' unsere irdischen Güter nur Staub und Asche. Bald habt ihr euch an dies neue Glück gewöhnt; noch einige Tage und ihr seid dessen überdrüssig. Es stellen sich die Enttäuschungen ein; zuerst seht ihr nur die schönen Seiten, nun werden die Dornen fühlbar. Man zahlt der Welt teuer ihre Begünstigungen und die Stufen, welche sie uns ersteigen lässt. Ist die Täuschung dahin, so erkennt man, dass man nur Schatten ergriffen hatte; man eilt andern nach und wird dieselbe Erfahrung machen.

Ferner lassen wir uns durch Menschen blenden. Es gibt Menschen, die im ersten Augenblick einnehmen. Sie haben Eigenschaften, die trügen und Bewunderung hervorrufen. Bald blendet uns das Äußere eines Menschen. Es ist nicht immer die Schönheit. Manchmal lässt uns Schönheit unberührt, während uns ein gewöhnliches Äußeres fesselt. Es sind unerklärliche Sympathien; aber werden sie von Dauer sein? Dies ist eine andere Frage. Oder es blenden uns nicht äußere, sondern innere Vorzüge, eine besondere geistige Gestalt, etwas Lebhaftes, Treffendes, Eigentümliches. Oder es rühren uns Eigenschaften des Herzens, Bescheidenheit, Sanftmut, Einfalt, vielleicht irgend eine schöne Handlung. Oder beim Anblick eines freudereichen Christentums rufst du aus: „Wie glücklich, wer zu solcher Höhe gelangt ist!“ Alle diese Blendungen, welche zuletzt gleich sind, kommen uns von Menschen.

Aber auch hier muss man vom Tabor niedersteigen.

Nichts ist hässlicher, von Nahem gesehen, als der Mensch. In der Entfernung lieben wir uns Alle, bekomplimentieren wir uns Alle. Warum? Wir sind geblendet; wir zeigen uns einander immer im günstigsten Licht. Man verbirgt die Schattenseiten; man verdeckt sie mit einem Lichtgewand. Aber nimmst du dieses höfliche Wesen, diese Selbstgerechtigkeit, den Geistes- und Gefühls-Flitter weg, so bleibt nur der alte Mensch übrig. Je länger man zusammen ist, desto mehr legt sich die gegenseitige Bewunderung. Willst du dein Ansehen bei jemandem erhalten: geh nicht zu oft zu ihm; bleibe nicht zu lange bei ihm; je näher man sich kennen lernt, desto mehr verliert man. Sind wir aber das Eine über das Andere enttäuscht, so fallen wir gewöhnlich in den Gegensatz. Wir waren für einander eingenommen, nun stoßen wir uns ab. Hast du einen Menschen genug genossen, so meidest du ihn; alles Blendende hat aufgehört. Aus Enthusiasten werden wir Menschenfeinde. Keinem Menschen trauen wir mehr; überall finden wir nur das Schlechte heraus. Früher war uns der Nächste ein Engel, heute ist er uns ein Teufel. Wir legen immer nur den Maßstab unserer Ansprüche an; wir sagen nicht: „Was du willst, dass Andere dir tun, das tue ihnen zuerst.“

Wir finden, dass der und der kaltherzig ist; wir selbst aber haben für ihn nicht die geringste warme Regung. Wir hatten von jenem Andern mehr Zartgefühl erwartet, doch bleiben wir ihm das gute Beispiel schuldig. Wir fordern von den Andern, dass sie Alles ertragen; und was ertragen wir, wenn es an uns ist? Wir sind von uns selbst geblendet, wie wir es von Andern waren. Auch der alte Mensch hat seinen Tabor, gleichwie die Jünger des Herrn. Von unsern eigenen Höhen müssen wir niedersteigen, wollen wir zu den Höhen Jesu Christi gelangen. Selbst auf diesen ist man Täuschungen ausgesetzt und hier berühren wir Blendungen, welche vielleicht am gefährlichsten sind. Es kann der Christ von seinen innern Zuständen geblendet werden. Beim Beginn der Bekehrung verklärt sich Alles für uns. Wir sehen eine andere Erde, eine andere Sonne. Wir atmen nicht mehr dieselbe Luft; unsern Flug haben wir nach den Bergen genommen, von welchen uns Hilfe kommt. Moses und Elias haben einen neuen Schimmer. Das Gesetz Gottes, die Weissagung, die ganze heilige Schrift haben vor unsern eröffneten Augen dieselbe Verklärung erfahren. Wir verlieren das Wohlgefallen an weltlichen Dingen und empfinden Wohlgefallen an den geistlichen; Friedensströme kommen von den Höhen und Freudenbrunnen inmitten der Täler. Wir berühren den Heiland mit unsern Händen und betrachten mitleidig die unwichtigen Dinge dieser Erde. Wir erraten noch nicht, dass wir geblendet sind. Wir halten für Jesum Christum selbst, was nur das freudige Überströmen eines ersten Erwachens ist. Ach! uns erwarten harte Prüfungen! Noch ist die Zeit nicht da, wo wir auf dem Tabor Hütten bauen können. Dieselben Jünger, welche du auf dem Tabor erblickst, kannst du gar bald in Gethsemane sehen. Erst die Höhen, dann die Tiefen; heute die unaussprechlichen Worte aus dem Paradies; morgen die Faustschläge Satans; das Eine kommt nicht ohne das Andere. Verlass dich nicht auf dein Herz, weder auf dein weltliches noch auf dein christliches. Diese hohe Freude hält nicht an. Diese geistliche Trunkenheit ist nur eine Blendung; gib dich diesem Schwindel nicht hin; Jesus Christus wird aufs Neue seinen Glanz verlieren. Er wird mit dir als ein gewöhnlicher Mensch vom Berge niedersteigen; doch sei getrost, er steigt nieder mit dir. Halte dich, nicht an seine Strahlen, sondern an seine Person. Halt im Gedächtnis was er ist, was er auf immer für dich getan hat; miss die Dinge nicht nach dem, was du für ihn empfindest. Sage dir dieses, wann du in dein gewöhnliches Treiben zurückgekehrt bist, in all die Prosa, in all die Netze des Lebens. Wie Jesus sich selbst entäußerte, so entäußert er auch die Seinen. Er will, dass sie im Glauben, nicht im Schauen, nicht im Gefühl wandeln. Was würde aus uns auf dem Tabor werden, wenn wir zu frühe unsere Hütten da aufschlügen? Hoffärtige oder Narren. Paulus, so demütig er auch ist, fürchtet sich zu sehr zu erheben wegen der Herrlichkeit seiner Offenbarungen. Was sind wir, dass wir in Bezug auf uns sicherer sein könnten? Je höher man steht, desto tiefer fällt man, und die geistlichen Höhen sind die gefährlichsten. Oder, ist es nicht der Hochmut, so ist es die Narrheit, die in uns Meister wird. Wir nannten Glauben das Gold, das noch nicht im Tiegel gewesen; wir sprächen von christlichen Erfahrungen, ohne nur eine gemacht zu haben; wir hätten erhabene Anschauungen, die wir für geistliches Leben hielten. Das wahrhaftige geistliche Leben macht klein. Entkleiden muss man sich, um überkleidet zu werden. Man muss, samt Christo, zu gleichem Tod gepflanzt werden, um auch der Auferstehung gleich zu sein. Derjenige, um des willen alle Dinge sind und durch den alle Dinge sind, der da viele Kinder zur Herrlichkeit führt, heiligt sie, gleichwie den Herzog ihrer Seligkeit, durch Leiden.

Deine Täuschungen habe ich dir geraubt, was aber als Ersatz geboten? Es lebt der Mensch nicht von dem, was man ihm nimmt, sondern von dem, was man ihm gibt. Hab' ich dir nichts gegeben? Aus der lichten Wolke, welche die Jünger überschattete, kam eine Stimme, die sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören. Und die Jünger, da sie ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand mehr, denn Jesum allein. Was sagt uns dieses? Dass aus allen Blendungen, welche uns oft die Wahrheit bergen, eine Gabe Gottes entspringt, welche am kostbarsten von Allem ist. Es ist Jesus Christus, er selbst. Er bleibt derselbe unter jeder Gestalt, er gehe mit uns hinauf oder hinab. Die lichten Wolken mögen zerrinnen: er behält seine Gestalt. An ihn weist uns Gott, wann des Lebens Herrlichkeiten schwinden. Es trügen uns die Umstände, die Menschen verändern sich, unser eigenes Herz führt uns irre; dies Alles soll uns dahin bringen, dass wir unsere Augen aufheben und niemand mehr sehen, denn Jesum allein.

Die entschwindenden Scheingüter werden durch ein bleibendes Gut ersetzt. So steige denn nieder vom Berge, betritt die düstern Täler, die deiner harren; weder Hohes noch Niederes kann dich von Christo scheiden. Eine unsichtbare Hand leitet dich; ergreife sie mit Vertrauen, du siehst sie oder nicht. Hören die süßen Erfahrungen auf, so gewinnt dein Glaube den großen Lohn der Nüchternheit. Verwechsle sie nicht mit der innern Dürre. Der Nüchterne ist zufrieden mit dem, was er ist. Er kann Beides, übrig haben und Mangel leiden. Er ist in allen Dingen und bei Allen geschickt, kann Beides, satt sein und hungern. Der Nüchterne vermag Alles durch den, der ihn mächtig macht, Christus.

Ist dieser Zustand nicht den Blendungen vorzuziehen? Mit ihm hat der Glaube seine Stetigkeit und himmlische Ruhe. Anstatt gen Himmel zu fahren und in den Abgrund zu fahren, bleibt man auf der Erde in Ruhe und Sicherheit. Man fühlt sich mit Jesu Christo verbunden; man hat ihn gefunden, und alles Übrige kann man entbehren. Auf dem Tabor, wie in der Tiefe, hat man denselben Heiland. Geht es auch auf und ab, so ruht doch unser Herz und hat einen festen Grund. Für diesen Zustand erzieht uns Jesus Christus dadurch, dass er mit uns vom Berge niedersteigt. Er führe uns nur zu unseren Netzen zurück, wir wollen sie gerne wieder anfassen. Es erbaut ja Alles, was man auch tun mag, tut man es für den Herrn. Die wahre Gottseligkeit hat die Verheißungen des gegenwärtigen wie des zukünftigen Lebens. Die drei Hütten, welche Petrus auf dem Tabor bauen will, können wir in unserer Häuslichkeit errichten. Halten wir uns nah' dem Herrn, nah' seinem Gesetz, nah' seinen Verheißungen. Auch dies wird eine Verklärung sein. Es ist die des gewöhnlichen Lebens, wie sie aus der Nüchternheit des Glaubens hervorgeht. Aus allen Wolken, welche noch über uns kommen mögen, wird die väterliche Stimme zu uns sprechen: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören.“

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