Lobstein, Friedrich - Die letzten Worte - I. Das Leben eines Waisenkindes.
Joh. 14,18.
Es war der Augenblick erschienen, da der Herr von seinen Jüngern sollte genommen werden. Drei Jahre Unterrichts und Wunder sollten durch das Leiden gekrönt und geweiht werden. „Was geschrieben war von des Menschen Sohne durch die Propheten,“ sollte erfüllt werden. Jesus Christus wird überantwortet werden den Heiden; „er wird verspottet und geschmäht und verspeit werden, und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen.“ „Die Jünger verstanden des keines und die Rede war ihnen verborgen, und wussten nicht, was das gesagt war.“ Nach dem letzten Mahle, als der Verrat des Judas schon sich bereitete, sieht Jesus Christus alle diese Dinge nahe; sein Kampf wird beginnen; wir sollten denken, er sei zu sehr in seine eigenen Gedanken vertieft, um sich mit seinen Jüngern beschäftigen zu können: doch nein. Nie war er ihnen näher, nie hatte sich sein Herz in traulicheren Gesprächen ergossen; nicht an sich dachte er, nur an seine Freunde. Was wird aus ihnen werden, wenn er nicht mehr bei ihnen ist? Hingestreut, „wie Lämmer unter den Wölfen,“ wie werden sie feste bleiben? Zwar fühlen sie noch ihre Vereinzelung nicht, aber über ein Kleines, so werden sie dieselbe fühlen. Sie werden sich zerstreut, angegriffen sehen, gezwungen, einer Welt von Feinden die Stirne zu bieten, ohne von den Kämpfen zu sprechen, die ihr eigen Herz ihnen bereiten würde. Dies Alles sieht der Meister voraus, und am Vorabend seines Todes will er ihnen etwas hinterlassen, das sie stärke, wann er ihnen entnommen sein wird. Eine Verheißung gibt er ihnen, welche, wie alle Verheißungen Jesu Christi, bis in die Ewigkeit hineinreicht, das Wort nämlich: „Ich will euch nicht Waisen lassen, ich werde wieder zu euch kommen.“ Und diese Verheißung gilt nicht nur den Zwölfen, sie gilt der ganzen Kirche Jesu Christi. Seit er gen Himmel gefahren, lebt die Kirche von dieser Verheißung.
Wir haben etwas, das unsere Finsternis erleuchtet, das unsere Tritte feste macht wie auf Felsengrund, das uns mit Leben erfüllt, wenn unsre eignen Kräfte schwinden. Die Himmelfahrt Christi war notwendig, auf dass die kleine Herde die Erfahrung jenes Wortes machte: es musste die sichtbare Gestalt des Herrn uns entzogen werden, auf dass wir wüssten, was es heißt „Waise sein,“ und zu gleicher Zeit, was es bedeutet, „Jesum Christum bei uns haben alle Tage bis an der Welt Ende.“ In doppelter Rücksicht können wir somit die köstliche Verheißung betrachten, welche der Herr seiner Kirche gelassen. Was ist dieses Leben ohne Jesus Christus? Wir sagen, es ist das Leben eines Waisenkindes. Aber was wird unser Leben, wenn wir mit Jesu Christo in Gemeinschaft treten? Wir sagen, von der Zeit an wird unser Leben eine „begonnene Himmelfahrt.“ Wo das Haupt ist, da sind die Glieder; heute im Glauben, morgen im Schauen und im Besitz ein und derselben Herrlichkeit.
I.
Wir sagen, das menschliche Leben ohne Jesus Christus ist das Leben eines Waisenkindes. Dies ist wahr im allgemeinsten Sinn des Wortes. Kennst du, was die Waise ist? Ein Kind ohne Vater und Mutter, und zwar am Anfang der Lebensbahn. Was wird aus ihm werden? Es hat seine wahren Stützen verloren; nirgends wird es die Liebe eines Vaters, oder die Zärtlichkeit einer Mutter wieder finden; Fremde werden seine Umgebung sein und immer wird das Vaterhaus ihm abgehen. Man wird ihm so schnell wie möglich seine Erziehung geben, auf dass es sein Brot verdiene; hernach wird es in die Welt hinausgeschickt, um zu werden, was es kann.
Aber dieses Waisenkind bist du selbst; bist du doch in einer Welt, die nicht dein Vaterhaus ist. Es ist Gesetz des natürlichen Lebens, dass wir unsere Stützen verlieren; der Bestumgebene fühlt sich bald allein, und unser gewöhnlich Gefühl ist das des Alleinseins. Besteht doch dieses Leben aus Entäußerungen, und „hoffen wir allein in diesem Leben, so sind wir die elendesten unter allen Menschen.“
Wo sind die Jahre, die du im häuslichen Kreise zugebracht? Auf immer hinter dir. Das Erste, was uns der Gang des Lebens raubt, ist die glückliche Zeit, da man redet wie ein Kind, da man urteilt wie ein Kind, da man denkt wie ein Kind. Die Einfalt des ersten Alters, die Freuden, die glücklichen Umstände, welche dem Kinde zugehören, schwinden zuerst wie ein Traum und man wird entwöhnt, weit früher als man möchte. Du sagst wohl, die Vernunft ersetzt die Kindheit; was ist aber diese Vernunft, welche der Jüngling, die Jungfrau annimmt? Ist es nicht eher ein äußerer Schein, wobei das Herz zwar kälter, nicht aber glücklicher sich fühlt! Das kindliche Entzücken und Wähnen, das Duften des ersten Alters stirbt dahin, wenn das wahre Leben beginnt. Anstatt der Entfaltung hat man die Beraubung, und indem man die Dinge näher betrachtet, stellt sich das Gefühl der Verwaisung ein. Welcher Mann, welche Frau hat das Alter von zwanzig Jahren erreicht, ohne Leid angelegt zu haben? Und wer hat in seinem vierzigsten Jahr das Glück, ich sage nicht Vater und Mutter, sondern Eines von beiden, noch zu besitzen? Ich nehme an, du hast noch Verwandte, Jugendfreunde; aber wie lange wirst du sie noch haben? Und sind sie immer in deiner Nähe? Hast du sie, wann du sie wünscht, und wie du sie wünscht? Es gibt eine Vereinsamung der Seele, welche wie eine Verwaisung anmutet. Allein du hast Kinder und fühlst dich mit ihnen verjüngt; man ist nicht allein, sagst du, wenn man eine Familie und einen Beruf hat. Aber deine Kinder werden dich verlassen, oder haben dich schon verlassen; das Eine geht in die Ferne, das Andere heiratet, und in beiden Fällen hast Du sie nicht mehr. Inmitten von Familienkreisen gibt es mehr Waisen als man denken sollte. Das Alleinstehen eines Vaters, die Sehnsucht einer Mutter, die schmerzlichen Lücken, welche der Tod uns gelassen hat, Alles weckt den Seufzer des Bedauerns: ich hatte gesucht und habe nicht gefunden oder nicht erhalten können; die Welt hält mich für glücklich und sieht nicht, dass ich nur eine Waise bin.
Ach! die Enttäuschungen mehren sich und du musst dich auf mehr Opfer gefasst machen. Die Intelligenz, die sittlichen Bedürfnisse, die höheren Seiten des Lebens erheischen eine Zukunft. Aber je mehr du in der Erkenntnis voranschreitest, desto mangelhafter stellen sich auch die Gegenstände heraus, welche dein Interesse am meisten ansprechen. Sind deine sittlichen Bedürfnisse befriedigt durch irgendein Tugendstreben, einige gute Werke, einige Anerkennung? Das Herz ist einem Abgrund gleich; je mehr du ihm bietest, desto mehr begehrt es. Hochherzige Empfindungen, Fortschritte in diesem und jenem, dies Alles genügt nicht; es schlägt eine Stunde, wo dies Alles zerrinnt. Was wird uns dann bleiben von unsern Jahren, von dem, was sie zierte, erfüllte, zu etwas machte? Welch ein Kontrast zwischen unserer vielseitigen Teilnahme von heute und der endlichen Lösung, die Tod heißt! Wir rennen und es geht dem Tode zu; wir fürchten uns allein zu sein, wir brauchen Familienfreuden, Zerstreuungen aller Art, und doch erwartet uns eine völlige Einsamkeit, die uns schon morgen überraschen kann. Das Leben beraubt uns, die Zeit reißt uns mit sich fort, jeder Tag ruft uns zu: Du hast nichts Bleibendes hienieden; mach' dich los, ehe du ausgeschieden wirst; genau genommen bist du wie ein Waisenkind.
Ich habe nicht von der Sünde gesprochen; eine kläglichere Stimme, die des Gewissens, lässt sich inmitten der Nichtigkeit dieser Welt vernehmen. Vergebens gebietest du ihr Schweigen, sie wird lauter und lauter werden und du wirst Gott nicht von seinem Richterstuhl stoßen können. Ist das Gewissen wohl bewahrt, so hat man ein Glück auch in der Einsamkeit; aber mit dem Zeugnis der Sünde verschwindet jeglicher Haltpunkt. Wird man endlich gezwungen, einen Blick in sich selbst zu werfen, wie bricht da jede trügliche Stütze zusammen! Wie vereinsamt fühlt sich die Seele, die Frieden sucht, den sie nirgends finden kann! Die Welt wird nichtssagend, das Vertrauen ist dahin, da steht man, eine Waise in dem Weltall. Ja, ist das Gewissen erwacht, da hilft weder Vater noch Bruder noch Ansehen noch Aussichten; eins nur bleibt, die Sünde mit ihren Folgen. Eine vom Übel verwüstete Natur, eine nagende Traurigkeit, Erinnerungen, die nicht weichen wollen, hinter dir ein verlorenes Leben, vor dir die Ewigkeit. Ja, da ist man in der Tat allein und die Seele sinkt und sinkt und findet keinen Boden. Aber aus der Tiefe solchen Elendes steigt eine Stimme auf, nicht die des Gewissens; die Stimme, die da spricht: „Ich will euch nicht Waisen lassen, ich will wieder kommen!“
So hast du denn nun das menschliche Leben gesehen, wie es ohne Jesum Christum ist; was wird aus demselben, wenn Er sich zeigt und das Herz rührt? Da findet „die Waise Erbarmen vor ihm,“ und dieses Leben, „ohne Gott und ohne Hoffnung,“ so wie es durch unsern Fall geworden, wird „zu einer begonnenen Himmelfahrt.“
II.
Warum ist Jesus Christus gen Himmel gefahren? Er sagt es selbst: „Auf dass ein Tröster komme und bei uns bleibe ewig.“ Es ist ein unsichtbarer Tröster, denn für eine unsichtbare Welt sind wir erschaffen worden. Die Erkenntnis Christi nach dem Fleische ist nicht die rechte; „das Fleisch ist kein nütze, der Geist ist's, der lebendig macht.“ Um „bei uns zu sein alle Tage bis an der Welt Ende,“ in der Kraft jenes Lebens, das nicht aufhören soll, ist Jesus Christus in den Himmel eingegangen und hat uns von da seinen Geist geschickt. Der Heilige Geist teilt den Vater und den Sohn mit; da hörst du auf, eine Waise zu sein, und dein Weg hat die beste Begleitung. „In ihm ist kein Wechsel noch irgendein Schatten von Veränderung.“ Du hast einen Freund, welcher alle Tröstungen gewährt; seine Macht, seine Liebe, seine Seligkeit sind dein. Nun kannst du alles Andere darangeben. „Wer mich liebt,“ spricht Jesus ,“der wird mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen.“ Die Waise hat Vater und Bruder, eine Stadt und himmlische Bürgerschaft gefunden. „Wenn es nicht so wäre, so wollte ich zu euch sagen: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten. Und ob ich hinginge, euch die Stätte zu bereiten, will ich doch wiederkommen und euch zu mir nehmen, auf dass ihr seid, wo ich bin.“ Zwar wenden wir oft unsern Blick gen Himmel, aber es geschieht gedankenlos; wir haben die Verheißung nicht gegenwärtig: „Ich will euch nicht Waisen lassen, ich will zu euch kommen.“ Der gen Himmel gefahren, ist unser Vorläufer, und im Himmel wie auf Erden „schämt er sich nicht, uns seine Brüder zu heißen.“ „Es ist euch gut, dass ich hingehe,“ spricht er zu uns; „denn so ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch. So ich aber hingehe, will ich ihn zu euch senden.“ Dieser „Tröster“ gibt uns den Glauben, womit wir „das Reich“ umfassen, „das unwandelbar ist.“ Gibt es für uns eine Hütte, in der wir uns sehnen und beschwert sind,“ so gibt es auch einen Bau von Gott erbaut, ein Haus nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel.“ Erbaut euch auf den Grund der Apostel und ihr werdet nicht mehr „Gäste und Fremdlinge sein, sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen.“
Ist es wahr, dass Christus in den Himmel eingegangen ist und in seiner Person unsre menschliche Natur verherrlicht hat? Nun dann ist seine Himmelfahrt auch die unsrige. In der Person seines Sohnes „hat Gott uns auferwecket und samt ihm in das himmlische Wesen versetzt, in Christo Jesu, auf dass er erzeigte in den zukünftigen Zeiten den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade über uns in Christo Jesu.“
„Zwar ist noch nicht erschienen, was wir sein werden;“ es mag uns aber genügen zu wissen, dass, wenn es erscheinen wird, „wir ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“
Unterdessen haben wir das „Unterpfand,“ so es wahr ist, „dass der Geist Christi in uns wohnt.“ Durch Jesu Himmelfahrt haben wir freien Eingang in das Heiligtum, „durch den neuen Weg, der zum Leben führt.“ Die Waise kann nun sprechen: „Der da gesiegt hat, hat mir gegeben mit ihm auf dem Thron zu sitzen; sein Wunsch ist, dass, wo er ist, auch die seien, welche der Vater ihm gegeben hat, auf dass sie die Herrlichkeit sehen, welche der Vater ihm gegeben hat.“ Gehörst du zu denjenigen, welche Gott „berufen“ hat? Siehe, er hat sie auch „gerecht gemacht“, er hat sie auch „verherrlicht“; das „Bild des Sohnes Gottes“ ist bloß das Bild des Erstgeborenen unter vielen Brüdern; es spiegelt sich in uns allen des Herrn Klarheit, mit aufgedecktem Angesicht; und wir werden verklärt in dasselbe Bild, von einer Klarheit zur andern, „als vom Herrn, der der Geist ist.“
Aber durch die Himmelfahrt Christi ergeht auch der Ruf an uns: Gürtet eure Lenden und zündet eure Lampen an; denn „selig ist der Knecht, wenn sein Herr kommt und findet ihn wachend.“ Es gibt in der Kirche „kluge Jungfrauen“ und „törichte Jungfrauen;“ hast du vielleicht nur „den Schein der Gottseligkeit,“ nicht aber deren „Kraft“? Ist „dein Herz,“ wo dein „Schatz“ ist? Es kann geschehen, dass das Eine von euch gen Himmel, das Andere in die Hölle fahre; was der Herr zu den Zwölfen sagt, richtet sich an Alle: „Wacht.“ Die zweite Erscheinung des Herrn naht; die erste Kirche sah dieser Rückkehr freudig entgegen; „meint ihr, wenn des Menschen Sohn heute wieder käme, dass er würde Glauben finden,“ den Glauben, den er begehrt? Es lautet die Weissagung, dass in den letzten Zeiten die Lauheit vorherrschend sein wird. Nun denn! sind wir lebendige Christen oder gehören wir zu den Laodicäern? Das geteilte, zwiefache Herz kann nicht gen Himmel fahren; die verkehrte Mitte muss aufgegeben werden; sie erzeugt das Siechtum, den Bann. Verschiebe nicht den himmlischen Wandel auf den Himmel; heute schon kannst du in der himmlischen Luft atmen. Ich meine die Waisen des Herrn. Lasst euch eure Stützen rauben; im gebrochenen Herzen geht der Himmel auf. In der Erkenntnis der eigenen Armut tut sich der wahre Reichtum kund. Verschließe dein Ohr dem Seufzer nicht, welcher deinen gefallenen Zustand durchweht; es ist der Seufzer eines „Trösters, der deiner Schwachheit aufhilft und der bei dir bleibt ewig.“ Öffne die Türe diesem himmlischen Freund und er „wird dich nicht Waise lassen, er wird zu dir kommen.“ „Aber die Wüste und Einöde wird lustig sein und das Gefilde wird fröhlich stehen und wird blühen wie die Lilien.“
Alle unsere Güter lassen sich in Eines zusammenfassen, aber dieses Gut muss man ergreifen und es zu seiner einzigen Zuversicht machen; das Herz ist nur glücklich, wenn es seinen Felsengrund gefunden. Der Bau Christi ist vollendet; der Himmelfahrtstag bildet dessen Abschluss. „So baut euch zum geistlichen Hause und zum heiligen Priestertum;“ es fehlen die „lebendigen Steine“ zu diesem Bau, tote gibt es deren genug. Noch sind die Hände Jesu ausgestreckt; wie er gen Himmel gefahren, so auch segnet er vom Himmel herab. Stellen wir uns unter diese segnenden Hände, welche von fern und nah die Waisen herbeilocken möchten. Die Kirche hat eine Verheißung, deren Wert dir klar werden wird, so du nur die gute Beilage bewahrst. Am großen Tag der Sammlung des Volkes Gottes werden wir sehen, was diese Verheißung Alles hervorgebracht hat; wie sie uns auf Erden stützt und hält, so wird sie uns im Himmel vereinigen, in jener bleibenden Stadt, dem großen Waisenhaus.