Lobstein, Friedrich - Das Wirken der Gnade an den Seelen - XII. Eine Trennung.
Johannes, 11,1-45.
1. Es lag aber Einer krank, mit Namen Lazarus, von Bethania, in dem Flecken Mariä, und ihrer Schwester Martha. 2. (Maria aber war, die den Herrn gesalbt hatte mit Salben, und seine Füße getrocknet mit ihrem Haar, derselbigen Bruder Lazarus lag krank.) 3. Da sandten seine Schwestern zu ihm, und ließen ihm sagen: Herr, siehe, den du lieb hast, liegt krank. 4. Da Jesus das hörte, sprach er: Die Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch geehrt werde. 5. Jesus aber hatte Martham lieb, und ihre Schwester und Lazarum. 6. Als er nun hörte, dass er krank war, blieb er zwei Tage am Orte, da er war. 7. danach spricht er zu seinen Jüngern: Lasset uns wieder in Judäam ziehen. 8. Seine Jünger sprachen zu ihm: Meister, jenesmal wollten die Juden dich steinigen, und du willst wieder dahin ziehen? 9. Jesus antwortete: Sind nicht des Tages zwölf Stunden? Wer des Tages wandelt, der stößt sich nicht, denn er sieht das Licht der Welt. 10. Wer aber des Nachts wandelt, der stößt sich, denn es ist kein Licht in ihm. 11. Solches sagte er, und danach spricht er zu ihnen: Lazarus, unser Freund, schläft; aber ich gehe hin, dass ich ihn auferwecke. 12. Da sprachen seine Jünger: Herr, schläft er, so wird es besser mit ihm. 13. Jesus aber sagte von seinem Tod; sie meinten aber, er redete vom leiblichen Schlafe. 14. Da sagte es ihnen Jesus frei heraus: Lazarus ist gestorben; 15. Und ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht da gewesen bin, auf dass ihr glaubt; aber lasst uns zu ihm ziehen. 16. Da sprach Thomas, der da genannt ist Zwilling, zu den Jüngern: Lasst uns mit ziehen, dass wir mit ihm sterben. 17. Da kam Jesus, und fand ihn, dass er schon vier Tage im Grabe gelegen war. 18. (Bethania aber war nahe bei Jerusalem, bei fünfzehn Feldweges.) 19. Und viele Juden waren zu Martha und Maria gekommen, sie zu trösten über ihrem Bruder. 20. Als Martha nun hörte, dass Jesus kommt, geht sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen. 21. Da sprach Martha zu Jesu: Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben; 22. Aber ich weiß auch noch, dass, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben. 23. Jesus spricht zu ihr: dein Bruder soll auferstehen. 24. Martha spricht zu ihm: Ich weiß wohl, dass er auferstehen wird in der Auferstehung am jüngsten Tag. 25. Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe. 26. Und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? 27. Sie spricht zu ihm: Herr, ja ich glaube, dass du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist. 28. Und da sie das gesagt hatte, ging sie hin, und rief ihre Schwester Maria heimlich, und sprach: der Meister ist da, und ruft dich. 29. Dieselbige, als sie das hörte, stand sie eilend auf, und kam zu ihm. 30. Denn Jesus war noch nicht in den Flecken gekommen, sondern war noch an dem Ort, da ihm Martha war entgegen gekommen. 31. Die Juden, die bei ihr im Hause waren, und trösteten sie, da sie sahen Mariam, dass sie eilend aufstand und hinausging, folgten sie ihr nach, und sprachen: Sie geht zum Grabe, dass sie daselbst weine. 32. Als nun Marta kam, da Jesus war, und sah ihn, fiel sie zu seinen Füßen, und sprach zu ihm: Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. 33. Als Jesus sie sah weinen, und die Juden auch weinen, die mit ihr kamen, ergrimmte er im Geiste, und betrübte sich selbst, 34. Und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sprachen zu ihm: Herr, komm und siehe es. 35. Und Jesu gingen die Augen über. 36. Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat er ihn so lieb gehabt! 37. Etliche aber unter ihnen sprachen: Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat, nicht verschaffen, dass auch dieser nicht stürbe? 38. Jesus aber ergrimmte abermals in ihm selbst, und kam zum Grabe. Es war aber eine Kluft, und ein Stein darauf gelegt. 39. Jesus sprach: Hebt den Stein ab. Spricht zu ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon, denn er ist vier Tage gelegen. 40. Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen? 41. Da hoben sie den Stein ab, da der Verstorbene lag, Jesus aber hob seine Augen empor, und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast; 42. Doch ich weiß, dass du mich allezeit hörst; sondern um des Volkes willen, das umher steht, sage ich es, dass sie glauben, du habest mich gesandt. 43. Da er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazare, komm heraus! 44. Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern, an Füßen und Händen, und sein Angesicht verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst ihn auf, und lasst ihn gehen. 45. Viele nun der Juden, die zu Maria gekommen waren, sahen, was Jesus tat, und glaubten an ihn.
Die Geschichte, welche wir hier mitteilen, ist die Geschichte einer Trennung. Es gibt im Familienleben eine gar schmerzliche Stunde, da man sich Lebewohl sagen muss. Unser Text führt uns drei innig verbundene, glückliche Seelen vor: zwei Schwestern und einen Bruder, die unter demselben Dach wohnen und alle Drei den Herrn kennen. Hat man aber so die Gewohnheit eines Zusammenlebens, so kann man sich gar nicht vorstellen, je getrennt zu werden. Allein der Tod verschont niemand, und oft will Gott eben diejenigen für sich, welche wir am meisten für uns zu behalten wünschen; der Liebling ist gewöhnlich zuerst von ihm auserwählt. So wird das friedliche Haus zu Bethanien zu einer Trauerstätte. Lazarus wird krank, und weder Sorge noch Gebet der zwei Schwestern können dessen Tod verhindern; an der Stelle des lebensvollen Gefährten bleibt ihnen nur eine Leiche. Vielleicht hatten die Drei untereinander oft vom Tod gesprochen; vielleicht hatten sie oft, in traulichen Abendgesprächen, sich die Frage gestellt: Wer von uns wird zuerst sterben? und der Tod hat die Antwort früher gegeben, als sie es wollten. Wir wissen, was vorgeht, wenn man das Liebste auf dieser Welt verliert. Das Haus, da man wohnt, das ganze Leben ist verödet; jeder Ort hat Erinnerungen, welchen Tränen fließen; man meint manchmal, die Trennung wäre nur ein Traum, so schwer wird der Gedanke: Ich werde ihn also nie mehr wiedersehen! Dennoch gibt es kein wahreres Wort in der Schrift, als dieses: Gott ist die Liebe.
Eine solche Prüfung ist der besondere Gegenstand himmlischen Erbarmens, und die zahlreichsten Segnungen gehören den zerschlagenen Herzen. Nicht umsonst heißt es, wir sollen uns rühmen unserer Trübsale und sie eitel Freude achten. Vergleiche ein Sandkorn mit dem höchsten Berge, wie wird das Sandkorn erscheinen? Wohlan! vergleiche den Schlag, der dich getroffen, mit dem unergründlichen Reichtum Christi, und siehe, das Verhältnis ist dasselbe. Wir sehen, was Christus für die beiden Schwestern gewesen ist; und Christus ist derselbe für Alle, die auf ihn ihr Vertrauen setzen. Um Jesum Christum in feiner ewigen Macht zu erkennen, muss man sich an ein Grab stellen; nicht als ob unsere Trauer uns den Herrn nähme, sondern unsere verkehrte Art, Trost zu suchen.
I.
Betrachten wir die Heimsuchung der Familie von Bethanien genauer.
Es geht so manches in dem Herzen vor, während, und nach der Trennung vor: in dieser dreifachen Rücksicht wollen wir den Trauerfall untersuchen. Was haben die Schwestern während der Krankheit des Lazarus empfunden? Was ist in ihrem Herzen vorgegangen, als der Tod eintraf, und welche Wirkung hat dieser Schlag auf das Leben der Maria und der Martha ausgeübt? Die Geschichte, die unter unsern Augen vorgeht, wird uns eine Antwort bieten.
Es lag aber Einer krank, mit Namen Lazarus.
Setzen wir uns an die Stelle der zwei Schwestern, als Lazarus krank wurde. Gestern waren alle Drei noch wohl; sie waren glücklich, sie hätten das Leben sich nicht anders denken können; heute ist schon Alles verändert. An dem Horizont dieser Familie ist eine Wolke aufgestiegen, und in dieser Wolke verhüllt sich der Tod. Es scheint, dass die Krankheit des Lazarus bald eine ernste Gestalt annahm, und dass die zwei Schwestern sich fragen mussten: Wie, wenn er stürbe? Sie sandten zu Jesu, und ließen ihm sagen: Herr, siehe, den du lieb hast, liegt krank. Dessen ungeachtet blieb er noch zwei Tage am Orte, da er war. Verfährt der Herr nicht auch heute noch so? Er ist oft so weit von uns, wenn wir ihn suchen! Wir fühlen uns so wenig gestärkt mit unserm Seufzen und Flehen! Du bist von einer Bangigkeit erfüllt, du bringst sie vor den Herrn, und sie wird dir nicht abgenommen! Du möchtest den Herrn zwingen, in deiner Nähe zu verweilen, und es ist als ob er zwei Tagreisen weit von dir wäre; da wirst du so bestürzt, dass dir das Gebet beinah unmöglich wird. Ach! es gehört nicht viel dazu, uns bestürzt zu machen. Außerdem ist das Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung an und für sich peinlich. Diese Ungewissheit regt auf, und die Aufregung hindert das Gebet. Da hat man wohl manchen Augenblick, wo man sich gestärkt glaubt; man ermutigt sich dann und spricht: Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist. (Psalm 42.) Allein einige Augenblicke später tritt die frühere Entmutigung wieder ein, und die ganze Arbeit fängt von vorne an. Warum ist unser Gebet in solchen Stunden der Heimsuchung so unfruchtbar? Aus drei Ursachen. Erstens sind wir stürmisch aufgeregt. Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern ein Gott des Friedens; harre des Herrn, er neigt sich zu dir und hört dein Schreien. (Psalm 40.) Sodann ist die Seele zu eigensinnig. Du willst etwas erzwingen, anstatt dich Gott kindlich hinzugeben. Sei versichert, dass der Wille Gottes besser ist als dein Wille und dass du immer deine Rechnung dabei finden wirst, ihn hinzunehmen. Endlich ist die Seele zu ungläubig. Du schaust immer auf die äußeren Verhältnisse, oder hörst auf die innern Einflüsterungen, aber da liegt nicht die Wahrheit. Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie desselben vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. (Jes. 49.) Glaube! das ist besser als in Seufzern sich gehen lassen. Dein noch so schwaches Gebet ist nicht verloren; eine jede ringende Seele trägt einen Segen davon. Du wirst gehalten, ohne es zu wissen; Jesus Christus ist unterwegs und du wirst ihn kennen lernen als den, der alle Macht hat im Himmel und auf Erden. Wer dich ängstigte, der ängstigte ihn auch; und er hat sich aufgemacht, dass er sich deiner erbarme. (Jes. 63 u. 30.)
Wenden wir unsern Blick wieder auf Martha und Maria. Jesus Christus kommt nicht, während Lazarus krank ist; aber sobald der Tod eingetroffen ist, sehen wir ihn bei Martha und Maria.
II.
Wir haben soeben gesehen, was im Herzen vorgeht, wenn die Prüfung bevorstehend ist; welche Gestalt nun nimmt sie an, wenn sie vorhanden ist? Würde man uns manchmal die Schmerzen voraussagen, die uns erwarten, wir würden oft glauben, sie nicht ertragen zu können. Lieber würden wir tot oder nie geboren sein, als in solche Tiefen uns versenkt zu sehen. Allein sei versichert, dass Alles berechnet ist. Gott ist treu, der euch nicht lässt versuchen über euer Vermögen, sondern macht, dass die Versuchung so ein Ende gewinne, dass ihr es könnt ertragen. (1 Kor. 10.)
Martha und Maria werden gestärkt am schmerzlichsten Tag ihres Lebens. Neben dem Grab des Lazarus erscheint Jesus selbst; und hätten die zwei Schwestern wohl gezaudert, wenn man ihnen die Wahl freigestellt zwischen dem Herrn und dem Bruder? Die Krankheit wie der Tod des Lazarus war zur Ehre Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch geehrt würde. Wir sehen nur das Leid, aber die Betroffenen stehen vor den Erbarmungen des Herrn. Jesus weinte, und zwar vor dem Grab des Lazarus. Der Heiland hat eine Teilnahme, wie wir sie in keiner christlichen Gemeinschaft finden können. Das Haus der zwei Schwestern war mit Leuten angefüllt, die alle zu trösten suchten; aber die menschlichen Tröster können nur betäuben; man hört sie an, man antwortet ihnen, aber ein armes zerschlagenes Herz braucht was Anderes. Es braucht Stille, und in der Stille die Botschaft: Der Meister ist da und ruft dich. Eine Seele, die mit dem Herrn allein ist, ist über die Maßen reich und ist nicht mehr zu bedauern. Sie begreift die Absicht des Meisters und sagt sich: Er hat mich ganz besitzen wollen; er hat meine irdischen Neigungen geschlagen, weil sie mir doch nicht volle Genüge auf ewig gewähren konnten. Er hat mir was Besseres aufbewahrt, und mein geteiltes Herz hatte mich bis jetzt um diesen Schatz gebracht. Alsdann fühlt man, dass Geben Empfangen, hundertfältig Empfangen ist. Was bist du, Familienglück, christliche Freundschaft, wenn der Meister da ist und uns ruft? In diesem Grab, an dem deine Blicke haften, wird sich dir die Auferstehung und das Leben enthüllen. Hab ich dir nicht gesagt, antwortet Jesus Christus der Martha, so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen? Wir täuschen uns so oft über die wahren Ursachen unserer Tränen. Wir glauben, unser Schmerz komme aus unserem Verlust, er kommt aber aus unserem Unglauben. Wir meinen, unser Leben wäre wieder hergestellt, wenn Jesus Christus in das Grab, das wir ihm zeigen, hineinriefe: Lazare, komm heraus. Nehmen wir an, Jesus Christus tue es, er gebe uns die zurück, die wir beweinen und spreche zu uns: Lebt noch ein Jahrhundert unter demselben Dach, hätten wir damit gewonnen, was wir wünschen? Zusammenleben, aber auf der Erde, aber mit all den Keimen der Sünde, aber in der Hütte, in der wir beschwert sind, ist dies unsere Bestimmung? Und wenn Einer voraus und vor uns in die Herrlichkeit eingeht, möchtest du ihn zurückhalten oder zurückrufen? Willst du dich seiner Freude nicht freuen? Das wahre. Glück der Martha und der Maria bestand nicht in der Rückkehr des Lazarus aus dem Grab, in das er später wiederkehren musste, sondern in der Verheißung: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Das große Wunder liegt nicht darin, dass ein Toter die Stimme des Sohnes Gottes gehört hat, sondern dass Jesus Christus selbst, Er, der Lebensfürst, sich in die Arme des Todes gelegt hat, auf dass er durch den Tod die Macht nähme dem, der des Todes Ge walt hatte, das ist dem Teufel, und erlöste die, so durch Furcht des Todes im ganzen Leben Knechte sein mussten. (Ebr. 2.) Der Grund unserer Hoffnung ist der Glaube an den, der unsern Herrn Jesum auferweckt hat von den Toten, welcher ist um unserer Sünden willen dahingegeben und um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt. (Röm. 4.) Und wann lobst du Gott, dass er uns wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung, durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten? (1 Petr. 1.) Wann du in ein offenes Grab blickst, neben welchem du im Geiste dein eigenes schaust1)
Freilich muss man, wie Jesus, ergrimmt sein um der Sünde willen und ihrer Folgen, um sich zu freuen über das unvergängliche und unbefleckte und unverwelkliche Erbe. Martha und Maria halten nur das Unterpfand dieses Erbes; wir auch, die wir die Erstlinge des Geistes empfangen haben, wir wissen wohl, dass noch nicht geoffenbart ist, was wir sein werden, aber wir warten sein mit Geduld. Unsere Trennungen beflügeln unsere Hoffnungen; wir wissen, wohin wir gehen, und sagen nicht mehr mit Thomas: Herr, wie sollten wir den Weg wissen? So ist die Trennung, vor deren Erscheinung wir erbebten, etwas ganz anderes geworden, als sie da war. Er macht den Grund des Meeres zum Weg, dass die Erlösten dadurch gehen. (Jes. 51.) Frage die zwei Schwestern, sie werden sprechen: Weder Tod noch Leben, noch irgend eine Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn. (Röm. 8.)
III.
Wie wird sich das christliche Leben gestalten, wenn die Heimsuchung vorüber ist? Dies ist die dritte Frage, die wir zu lösen haben.
Es gibt nichts Schöneres als ein göttlich begriffenes Leid. Tritt Gott ein mit seinen gewaltigen Schlägen, so will er auch große Absichten ausführen. Allein von der Mehrzahl der Menschen lässt sich sagen: Du schlägst sie, aber sie fühlen es nicht; du plagst sie, aber sie bessern sich nicht; sie haben ein härteres Angesicht, denn ein Fels, und wollen sich nicht bekehren. (Jer. 5.)
Es gibt Leute, die leicht Tränen vergießen, und die am Rand eines Grabes wie Verzweifelte sich benehmen. Wohlan! dies sind oft diejenigen, die sich am schnellsten trösten. Andere unterhalten ihren Schmerz und hüllen sich in ihre Erinnerungen, bis sie für die Gegenwart dürre Feigenbäume geworden, die um, sonst das Erdreich einnehmen. Andere noch saugen aus ihren Schmerzen eine Bitterkeit. Was hab ich getan, sagen sie, ein solches schweres Schicksal zu verdienen? Brauchten sie Gott nicht, so würden sie schon am Grab mit ihm brechen. Es gibt auch eine Philosophie der Verzweiflung, nicht der Verzweiflung, die den Selbstmord sucht, sondern einer ruhigen, die berechnet, urteilt und schließt. Wir finden sie bei Solchen, die ihr ganzes Leben einem Abgott ihres Herzens gewidmet hatten, und nun mit ihm Alles verloren haben. Sie geben jede weitere Hoffnung, jedes weitere Streben auf, und ziehen sich aus den Trümmern ihrer Vergangenheit eine Ironie und verächtliches Herabsehen, mit dem sie nun alle irdischen Dinge behandeln. Von allen Gnaden Gottes werden seine Heimsuchungen am meisten versäumt. Die zahlreichsten Fälle von Unbußfertigkeit und Verstockungen lassen sich zurückführen auf übelbenützte Prüfungen; weder die Güte, noch die Strenge Gottes konnte zur Buße leiten. Dagegen aber wie ganz anders wird das Leben, wenn unsere Trennungen uns sagen, dass der Meister da ist und uns ruft. Der Weltmensch meint, das Leben lohne sich nicht mehr, wenn ihm Gott seine Abgötter genommen hat; der Christ sieht ein neues, das wahre Leben, für ihn mit seiner Heimsuchung anbrechen. Jesus war etwas ganz Anderes für Martha und Maria geworden, nachdem die zwei Schwestern seine Macht am Grabe des Lazarus hatten kennen lernen. Einige Zeit später finden wir Jesum wieder zu Bethanien, und die zwei Schwestern, wie Johannes erzählt, machten ihm ein Abendmahl, und Martha diente; da nahm Maria ein Pfund Salbe von ungefälschter köstlicher Narde, und salbte die Füße Jesu, und trocknete mit ihrem Haar seine Füße; das Haus aber ward voll vom Geruch der Salbe. (Joh. 12.) Hast du in deinem Leben das Andenken einer Trennung, und hat Jesus dir diese Trübsal gesegnet? Dann weißt du, wem du angehörst, und du wirst nicht mehr dir selbst leben, sondern dem, der dich geliebt und sich selbst für dich gegeben. Diese köstliche Salbe, von deren Geruch das ganze Haus voll wird, ist ein Christentum, dessen Lebensquelle in einem durch Jesum gesegneten Leide zu fließen begann. Es sei denn, dass das Weizenkorn ersterbe, so bleibt es allein; wo es aber erstirbt, so bringt es viele Früchte. (Joh. 12.) So vorbereitet, kannst du dann mit Jesu sagen: Sind nicht des Tages zwölf Stunden? und hab' ich nicht die Zeit dieses vergänglichen Lebens auszukaufen? Der ich diese Erde nur im Vorübergehen begrüße, soll ich nichtsdestoweniger auf die Stimme hören, die spricht: Frühe säe deinen Samen, und lass deine Hand Abends nicht ab. (Pred. 11.) Anstatt dich in die Traurigkeit zu vergraben, wirst du wandeln so lange es Tag ist, und deine letzten Werke werden deine ersten übertreffen.
Ein Leben, mit einer segensreichen Prüfung begabt, ist ein neues Dasein. Man hat mit Jesu an einem Grabe Bekanntschaft gemacht, und hinfüro schaut man nicht mehr auf das Vergängliche, sondern auf das Unvergängliche; die Ketten, die man selbst zu lösen nicht vermochte, hat der Heiland gelöst. Das glücklichste Herz ist ein abgelöstes Herz; denn ein geteiltes Herz ist unbeständig in all seinen Wegen. Seien wir dankbar, wenn Jesus uns behilflich ist zu seinem Heiligtum. Du wirst sehen, dass du nichts verloren hast, wenn du alle verlorenen Güter in einem einzigen wiedergefunden hast. Aus der Unruhe wirst du in die Ruhe des Volkes Gottes eingehen. Jesus, der für dich bittet, wird abermals sagen: Mein Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. Der Lazarum von den Toden auferweckte, weckte auch unsere christlichen Freuden aus dem Tode auf. Das welke Herz wird neubelebt durch eine Hoffnung, die nicht zu Schanden macht; es hat Schmuck gefunden für Asche, und Freudenöl für Traurigkeit, und schöne Kleider für einen betrübten Geist. (Jes. 61.) Die Welt bedauert dich, deine Existenz scheint ihr geknickt, du aber bist wie ein grüner Ölbaum im Hause Gottes; verlässt dich auf Gottes Güte immer und ewig. (Psalm 52.)
Noch ein letztes Wort. Jesus Christus hat gesagt: Jeder wird mit Feuer gesalzen, und ein jedes Opfer wird gesalzen. (Mark. 9.) Unsere Geschichte zeigt dir, welches Salz und welche Opfer gemeint sind. Ist dein Christentum von oben gesalzen, und ist dein Gottesdienst dein Leib, begeben zum Opfer, das da lebendig und heilig und Gott wohlgefällig sei (Röm. 12), dann brauchst du dich nicht zu fürchten; Gott sucht dich heim, um deinen Glauben zu erneuern. Nicht den Schein, das Wesen musst du haben, nämlich die Kraft Gottes. Dringt diese Kraft ein in unser Leid, so entreißt sie dem Tod seinen Stachel und der Hölle ihren Sieg. Was du heute eine Trennung nennst, nennst du morgen eine schöne Krone in der Hand des Herrn, und einen königlichen Hut in der Hand deines Gottes. (Jes. 62.) Für die Blüten gibt's einen Frühling, für eine zerschlagene Seele eine ewige Jugend. Schüttle den Staub dieser Welt ab und Lichtgewänder bergen sich darunter, womit der Lebensfürst dich bekleiden will Gib dich ihm hin; er ist deine Stärke und Lobgesang und ist dein Heil. (2 Mos. 15.) Man singet mit Freuden vom Sieg in den Hütten der Gerechten; die Rechte des Herrn behält den Sieg. (Psalm 118.)